Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.240/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_240/2008

Urteil vom 24. September 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Polla.

Parteien
A.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Marco Büchel, Freudenbergstrasse 24, 9240 Uzwil,

gegen

Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen, Davidstrasse 21, 9000 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 7. Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1946 geborene A.________ war als Tachyon-Gesundheitsberater teilzeitlich
vom 15. Oktober 2001 bis 30. November 2004 bei der Firma X.________ AG und vom
20. Januar 2003 bis 30. April 2004 bei der Praxis Y.________ tätig gewesen. Ab
Mai 2004 war A.________ sodann AHV-rechtlich als Selbstständigerwerbender
erfasst. Am 20. Februar 2006 ersuchte er um Leistungen der
Arbeitslosenversicherung ab 16. Februar 2006, wobei er angab, im Umfang von 50
% Arbeit zu suchen. Das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) Thurgau
meldete den Versicherten per 31. Mai 2006 wegen Selbstständigkeit von der
Arbeitslosenversicherung ab, nachdem ihm bis dahin Arbeitslosenentschädigung
zugesprochen worden war. Nach einem Wohnortswechsel in den Kanton St. Gallen
beantragte A.________ ab 27. Juli 2006 wieder Leistungen der
Arbeitslosenversicherung. Mit Verfügung vom 18. April 2007 verneinte die
Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen den Taggeldanspruch ab 16. Februar 2006
mangels Erfüllung der Beitragszeit. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 24. Mai 2007).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag auf Verlängerung der
Rahmenfrist für die Beitragszeit gestützt auf Art. 9a Abs. 2 AVIG wies das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 7. Februar 2008
ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt A.________ sein vorinstanzlich
gestelltes Rechtsbegehren erneuern. Eventualiter sei die Sache zur
Neubeurteilung an die Arbeitslosenkasse zurückzuweisen.
Die Arbeitslosenkasse beantragt Abweisung der Beschwerde und das
Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG). Eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom
Bundesgericht ebenfalls zu korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95
lit. a BGG dar (Seiler/von Werdt/Güngerich, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz,
Bern 2007, N. 24 zu Art. 97 BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die Erfüllung der Beitragszeit
als Voraussetzung des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung (Art. 8 Abs. 1
lit. e AVIG), die vorbehältlich abweichender gesetzlicher Regelungen geltenden
zweijährigen Rahmenfristen für den Leistungsbezug und die Beitragszeit (Art. 9
AVIG) sowie die Dauer der erforderlichen Beitragszeit innerhalb der
entsprechenden Rahmenfrist (Art. 13 Abs. 1 AVIG) zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.
Gemäss Art. 9a Abs. 1 AVIG wird die Rahmenfrist für den Leistungsbezug von
Versicherten, die den Wechsel zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit ohne
Bezug von Leistungen nach den Artikeln 71a-71d AVIG vollzogen haben, um zwei
Jahre verlängert, wenn im Zeitpunkt der Aufnahme der selbstständigen
Erwerbstätigkeit eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug läuft (lit. a) und der
Versicherte im Zeitpunkt der Aufgabe der selbstständigen Erwerbstätigkeit die
Anspruchsvoraussetzung der genügenden Beitragszeit wegen Ausübung der
selbstständigen Erwerbstätigkeit nicht erfüllt (lit. b).
Die Rahmenfrist für die Beitragszeit von Versicherten, die den Wechsel zu einer
selbstständigen Erwerbstätigkeit ohne Bezug von Leistungen vollzogen haben,
wird um die Dauer der selbstständigen Erwerbstätigkeit, höchstens jedoch um
zwei Jahre verlängert (Art. 9a Abs. 2 AVIG).

3.
3.1 Das kantonale Gericht kam zum Schluss, der Versicherte habe keinen Anspruch
auf Arbeitslosenentschädigung, weil er - wie aus den erzielten
Zwischenverdiensten hervorgehe - auch nach seiner Anmeldung bei der
Arbeitslosenversicherung seine selbstständige Erwerbstätigkeit als
Gesundheitsberater in reduziertem Umfang weitergeführt habe, womit diese nicht
definitiv aufgegeben worden sei. Der Versicherte könne überdies auch aus dem
angerufenen Vertrauensschutz nichts zu seinen Gunsten ableiten, da er nicht
geltend gemacht habe, bei entsprechender Beratung hätte er aufgrund der
Anspruchsgefährdung die selbstständige Tätigkeit aufgegeben.

3.2 Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz gehe zu Unrecht davon aus, dass
die selbstständige Erwerbstätigkeit nicht vollständig aufgegeben worden sei, da
er sich bei der AHV-Ausgleichskasse abgemeldet habe und sich dies auch durch
seine Handlungsweise (keine Werbung mehr, Mitteilung der Praxisaufgabe an den
Verband für natürliches Heilen) ergäbe. Im Weiteren habe ihm eine zuständige
Behörde eine zumindest unvollständige Auskunft erteilt, und es sei
gerichtsnotorisch, dass er bei korrekter und vollständiger Auskunft seine
selbstständige Tätigkeit aufgegeben hätte, weshalb er sich auf den
Gutglaubensschutz berufen könne.

3.3 Es steht fest, dass der Beschwerdeführer in den zwei der Anmeldung zum
Leistungsbezug vorangehenden Jahren (16. Februar 2004 bis 15. Februar 2006)
während lediglich 9.467 Monaten eine beitragspflichtige Beschäftigung ausübte
und insoweit die Anspruchsvoraussetzung der Mindestbeitragszeit gemäss Art. 8
Abs. 1 lit. e AVIG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 und Art. 13 Abs. 1 AVIG
nicht erfüllt ist und auch kein Befreiungsgrund gestützt auf Art. 14 AVIV
vorliegt. Unbestrittenermassen übte der Versicherte sodann die vom 1. Mai 2004
bis 31. Dezember 2005 als Selbstständigerwerbender im Haupterwerb ausgeführte
Tätigkeit als Gesundheitsberater in reduziertem Umfang (mit einem
durchschnittlichen Einkommen von ca. Fr. 550.- monatlich) während seiner
Arbeitslosigkeit weiter aus, welches Einkommen er als Zwischenverdienst jeweils
abrechnete. Entgegen seiner Ansicht wurde damit die selbstständige
Erwerbstätigkeit nicht definitiv aufgegeben, was nach den Kriterien gemäss der
mit BGE 123 V 234 begründeten Rechtsprechung zu beurteilen ist (Thomas
Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, Rz. 108, in: Ulrich Meyer [Hrsg.],
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Band XIV: Soziale Sicherheit, 2.
aktualisierte Auflage, Basel 2007). Trotz Abmeldung bei der AHV-Ausgleichkasse
als Selbstständigerwerbender im Haupterwerb und wie geltend gemacht wird, durch
sein Verhalten gegen aussen, bestand zu jeder Zeit die Möglichkeit, die
Geschäftsaktivitäten wieder auszudehnen, womit der Versicherte jegliche
unternehmerische Dispositionsfreiheit behielt, was zumindest das Risiko eines
Missbrauchs der Arbeitslosenversicherung in sich barg. Damit fehlt es
grundsätzlich an der für die Rahmenfristverlängerung nach Art. 9a Abs. 2 AVIG
vorausgesetzen definitiven Geschäftsaufgabe, wie die Vorinstanz zu Recht
erkannte.

4.
4.1 Zu prüfender Streitpunkt bleibt, ob die Verwaltung - wie in der Beschwerde
behauptet - mit der Anrechnung der Einkünfte aus selbstständiger
Erwerbstätigkeit als Zwischenverdienst ihre Informationspflichten gemäss Art.
27 Abs. 2 ATSG verletzt hat und der Beschwerdeführer infolgedessen gestützt auf
den Grundsatz von Treu und Glauben Versicherungsschutz beanspruchen kann.
4.1.1 Art. 27 Abs. 2 ATSG beschlägt ein individuelles Recht auf Beratung durch
den zuständigen Versicherungsträger. Jede versicherte Person kann vom
Versicherungsträger im konkreten Einzelfall eine unentgeltliche Beratung über
ihre Rechte und Pflichten verlangen (BGE 131 V 476 E. 4.1). Das Bundesgericht
hat bisher offen gelassen, wo die Grenzen der in Art. 27 Abs. 2 ATSG
verankerten Beratungspflicht in generell-abstrakter Weise zu ziehen sind. Es
hat jedoch entschieden, dass es auf jeden Fall zum Kern der Beratungspflicht
gehört, die versicherte Person darauf aufmerksam zu machen, ihr Verhalten könne
eine der Voraussetzungen des Leistungsanspruchs gefährden (BGE 131 V 479 f. E.
4.3 in fine).
4.1.2 Eine ungenügende oder fehlende Wahrnehmung der Beratungspflicht nach Art.
27 Abs. 2 ATSG kommt gemäss konstanter (BGE 124 V 215 E. 2b S. 221, 113 V 71 E.
2 S. 71, 112 V 115 E. 3b S. 120; ARV 2003 S. 125 [C 417/00], 2002 S. 114 [C 239
/99], 2000 S. 95 [C 125/97]) und unter der Herrschaft des ATSG weitergeltenden
Rechtsprechung (BGE 131 V 472 E. 5 S. 481) einer falsch erteilten Auskunft des
Versicherungsträgers gleich. Dieser hat in Nachachtung des Vertrauensprinzips
hierfür einzustehen, sofern sämtliche Voraussetzungen des
öffentlich-rechtlichen Vertrauensschutzes (dazu: BGE 131 V 472 E. 5 S. 480 mit
Hinweisen) erfüllt sind.

4.2 Mit Blick auf die Zeit seiner Meldung als Arbeitsloser beim RAV Thurgau
(16. Februar bis 31. Mai 2006) steht aufgrund der Aktenlage ausser Frage, dass
der zuständige Personalberater die Erzielung eines Zwischenverdienstes in Form
der selbstständigen Erwerbstätigkeit unterstützt und den Versicherten
entsprechend informiert hat. Hinsichtlich des Zeitraumes ab 27. Juli 2006
(Anmeldung beim RAV St. Gallen) ist den Akten nicht zu entnehmen, dass der
Beschwerdeführer auf die Gefährdung seines Leistungsanspruchs durch die
Ausübung der selbstständigen Erwerbstätigkeit im Zwischenverdienst aufmerksam
gemacht worden wäre. Mit den Hinweisen "Hat demnächst ZV SE in Graubünden." und
"Hatte Auftrag (ZV SE) Ende September;" ergibt sich aus den Protokollen der
Beratungsgespräche vom 5. September und 2. Oktober 2006 vielmehr, dass die
RAV-Personalberatung die selbstständige Erwerbstätigkeit im Rahmen eines
Zwischenverdienstes ebenfalls zumindest akzeptiert hat. Die Darstellung des
Beschwerdeführers ist daher als glaubwürdig einzustufen, wonach er sich nach
seinem Zuzug in den Kanton St. Gallen beim zuständigen Personalberater des RAV
St. Gallen erneut erkundigt hat, ob dieser Zwischenverdienst für ihn keine
Nachteile bringen würde, und bestätigt wurde, dass er die bisherige Praxis
weiter verfolgen solle, da ein Zwischenverdienst finanzielle Vorteile biete
sowie seinen Arbeitswillen dokumentiere. Entgegen der vorinstanzlichen Ansicht
ist sodann in Würdigung der gesamten Sachlage davon auszugehen, dass der
Beschwerdeführer bei entsprechender Information über die Gefährdung seines
Leistungsanspruchs die selbstständige Tätigkeit vollständig aufgegeben hätte,
zumal sich auch aus den umfangreichen Arbeitsbemühungen und dem aus
Eigeninitiative vom 30. August bis 20. Dezember 2007 besuchten Pflegehelferkurs
des Schweizerischen Roten Kreuzes schliessen lässt, dass der Versicherte zur
Beendigung seiner Arbeitslosigkeit durchaus bereit gewesen wäre, zu Gunsten
einer Arbeitnehmertätigkeit seine Selbstständigkeit aufzugeben. Unter diesen
Umständen darf ihm aus der falschen Beratung und dem fehlenden Hinweis der
Behörden hinsichtlich der Gefährdung seines Leistungsanspruchs durch
Weiterführung seiner selbstständigen Erwerbstätigkeit, kein Rechtsnachteil
erwachsen (Art. 27 ATSG; Nussbaumer, a.a.O. Rz. 325). In Erfüllung der weiteren
Kriterien für die erfolgreiche Berufung auf den öffentlich-rechtlichen
Vertrauensschutz (vgl. BGE 131 V 472 E. 4 und 5 S. 477 ff.) ist der Versicherte
abweichend vom Gesetz zu behandeln und seine Rahmenfrist für die Beitragszeit
gemäss Art. 9a Abs. 2 AVIG zu verlängern, womit der Leistungsanspruch nicht
wegen fehlender Erfüllung der Beitragszeit in der ordentlichen Rahmenfrist
verneint werden kann. Insoweit ist der vorinstanzliche Entscheid
bundesrechtswidrig. Die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen wird über den
Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ab 27. Juli 2006 nach Prüfung der
übrigen Anspruchsvoraussetzungen zu befinden haben.

5.
Den kantonalen und privaten Arbeitslosenkassen ist gemeinsam, dass sie bei
Leistungsstreitigkeiten Aufgaben in ihrem amtlichen Wirkungskreis erfüllen
(Art. 81 Abs. 1 AVIG; Seiler/von Werdt/Güngerich, a.a.O. N. 49 zu Art. 66 BGG).
Dabei verfolgen sie eigene Vermögensinteressen (Seiler/von Werdt/Güngerich,
a.a.O. N. 54 zu Art. 66 BGG). Sie sind für die Auszahlung der Leistungen
zuständig (Art. 81 Abs. 1 lit. c AVIG). Somit fallen Arbeitslosenkassen nicht
unter den Ausnahmetatbestand von Art. 66 Abs. 4 BGG, weshalb die Gerichtskosten
der unterliegenden Arbeitslosenkasse aufzuerlegen sind (BGE 133 V 637). Dem
Ausgang des Verfahrens gemäss steht dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer
ausserdem eine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 7. Februar 2008 und der Einspracheentscheid der
Kantonalen Arbeitslosenkasse St. Gallen vom 24. Mai 2007 werden aufgehoben. Es
wird die Sache an die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen zurückgewiesen,
damit sie über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Arbeitslosenentschädigung
ab 27. Juli 2006 neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, dem Amt für Arbeit des Kantons St. Gallen und dem Staatssekretariat für
Wirtschaft schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. September 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Polla