Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.175/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_175/2008

Urteil vom 20. August 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Frésard,
Gerichtsschreiber Grünvogel.

Parteien
W.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Peter Kaufmann,
Münzgraben 2, 3011 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 23. Januar 2008.

Sachverhalt:
-
Der 1965 geborene W.________ meldete sich am 28. November 2003 zum Bezug von
Leistungen der Invalidenversicherung an. Nach Abklärungen in erwerblicher und
medizinischer Hinsicht, namentlich nach Einholung des Fragebogens für
Arbeitgeber bei der auf Vermittlung von temporären Arbeitskräften
ausgerichteten Firma B.________ AG, vom 20. Januar 2004 und des Auszugs aus dem
individuellen Konto der Ausgleichskasse, aber auch diverser Arztberichte, so
insbesondere des polydisziplinären Gutachtens der MEDAS vom 28. November 2006
und eines Berichts von Frau Dr. med. F.________ vom Regionalen Ärztlichen
Dienst (RAD) der IV-Stellen Bern/Freiburg/Solothurn vom 8. August 2007,
verneinte die IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 23. August 2007 einen
Rentenanspruch auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 32 %.
-
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 23. Januar 2008 ab. Dabei ging es von einem gänzlich
fehlenden Invaliditätsgrad aus, was sich in erster Linie dadurch erklärte, dass
es bei der Gegenüberstellung der hypothetischen Einkommen ohne
Gesundheitsschaden und als Invalider auf einen freiwillig tief gehaltenen
Verdienst als Gesunder erkannte.
-
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt W.________
beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und der Verfügung der
IV-Stelle sei ihm mindestens eine halbe Invalidenrente zuzusprechen.
Gleichzeitig wird um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung unter
Einschluss der Verbeiständung ersucht.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:
-
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur beanstandet werden, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn
die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu
Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

Tatsächlicher Natur und damit im dargestellten Rahmen grundsätzlich verbindlich
sind insbesondere die Feststellungen zur Arbeits(un)fähigkeit, welche das
kantonale Gericht gestützt auf medizinische Untersuchungen trifft (BGE 132 V
393 E. 3.2 S. 398). Ebenfalls Tatfragen sind die Feststellungen hypothetischer
Einkommen, soweit auf einer konkreten Beweiswürdigung beruhend, nicht dagegen,
wenn sie einer allgemeinen Lebenserfahrung entspringen.
-
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Begriffe der
Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG) und der
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), die Voraussetzungen und den Umfang des
Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG), die Invaliditätsbemessung bei
erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs.
2 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG), die Ermittlung des ohne Invalidität
erzielbaren Einkommens (Valideneinkommen; BGE 129 V 222 E. 4.3.1 S. 224 mit
Hinweis; 125 V 146 E. 5c/bb S. 157) sowie die Bestimmung des trotz
Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch erzielbaren Einkommens
(Invalideneinkommen) (BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 und E. 4.2.3 S. 481)
zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen zur Aufgabe des Arztes
oder der Ärztin im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261
mit Hinweisen) sowie zum Beweiswert und zur Würdigung medizinischer Berichte
und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; 122 V 157 E. 1c S. 160). Darauf wird
verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass ein psychischer Gesundheitsschaden
invalidenversicherungsrechtlich erst dann von Bedeutung ist, wenn er zu einer
Erwerbsunfähigkeit führt, d.h. anzunehmen ist, die Verwertung der
Arbeitsfähigkeit sei der versicherten Person sozial-praktisch nicht mehr
zumutbar (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 E. 2b mit Hinweisen [I 138/98]; vgl.
auch BGE 127 V 294 E. 4c in fine).
-
Das Verwaltungsgericht hat in Würdigung der medizinischen Unterlagen
festgestellt, dass der Gesundheitszustand des Versicherten in einer angepassten
Tätigkeit mit wechselnd sitzender und stehender Körperposition, mit Gehstrecken
nicht über 200 bis 300 m, ohne Tragen von Lasten über 10 kg und ohne Arbeiten
in der Höhe ein um 20 % reduziertes Rendement während sieben bis achten Stunden
täglich erlaube.
- Dabei hat die Vorinstanz wesentlich auf das polydisziplinäre Gutachten der
MEDAS vom 28. November 2006 abgestellt. Für die erst im Anschluss an diese
Begutachtung von weiteren Ärzten gestellten Diagnosen verwies das Gericht auf
den Bericht des RAD vom 8. August 2007. Danach belaste weder die neu
diagnostizierte Kardiomyopathie noch der Diabetes die Arbeitsfähigkeit für
leichte körperliche Arbeiten zusätzlich und die zu Gewichtsverlust führende,
zwischenzeitig suffizient behandelte Laryngitis belaste die bereits reduzierte
Leistungsfähigkeit ebenso wenig. Soweit im RAD-Bericht die von der MEDAS
diagnostizierte emotionale instabile Persönlichkeitsstörung mit rezidivierenden
depressiven Dekompensationen als sich möglicherweise weitergehend auf die
Arbeitsfähigkeit auswirkend als von der MEDAS angenommen bezeichnet wurde,
führte das Gericht aus, damit liesse sich die Einschätzung der MEDAS-Ärzte
nicht erschüttern, handle es sich dabei doch lediglich um eine, allein auf der
Basis eines mit der behandelnden Psychiaterin Dr. med. L.________ geführten
Telefongesprächs getroffene unterschiedliche Einschätzung der Auswirkungen auf
die Arbeitsfähigkeit eines der MEDAS bereits vertrauten und damit unveränderten
Beschwerdebildes.
- Zwar bemängelt der Beschwerdeführer die vorinstanzlichen Feststellungen zum
Gesundheitszustand und zur Arbeitsunfähigkeit als offensichtlich unrichtig.
Seine Einwendungen stellen indessen über weite Strecken appellatorische Kritik
an der vorinstanzlichen Beweiswürdigung dar, welche im Rahmen der
letztinstanzlich geltenden eingeschränkten Überprüfungsbefugnis nicht gehört
werden kann. Hervorzuheben ist, dass die MEDAS selbst die Diagnose einer
emotional instabilen Persönlichkeitsstörung gestellt hat, für welche die im
Anschluss an den negativen Vorbescheid gezeigte, der RAD-Ärztin von Dr. med.
L.________ offenbar telefonisch geschilderte heftige (emotionale) Reaktion
geradezu begriffstypisch ist (siehe dazu die Definition dieses Beschwerdebildes
nach ICD-10 F 60.3) und die von der MEDAS vorgenommene Anamnese durchaus eine
Abschätzung der (dauerhaften) Ausprägung dieses Beschwerdebildes zuliess.
Sodann äusserte die RAD-Ärztin im angesprochenen Bericht lediglich die
Vermutung einer von der MEDAS zu optimistisch erfolgten Einschätzung der
Auswirkungen dieser Komponente des multiplen Beschwerdebildes auf die
Arbeitsfähigkeit insgesamt. Wie dergestalt ein Abstellen auf das
MEDAS-Gutachten rechtlich nicht haltbar sein soll, ist nicht einsichtig, zumal
dieses - wie bereits angesprochen - auch in Kenntnis der früheren Arztberichte
abgegeben worden ist. Gesagtes gilt sinngemäss auch für die vom Spital
X.________ am 7. Mai 2007 erwähnte, von der MEDAS ebenfalls bereits erkannte
posttraumatische Belastungsstörung. Allein eine psychosoziale
Belastungssituation kann sodann nicht mit einer nachhaltigen Beeinträchtigung
der Arbeitsfähigkeit gleichgesetzt werden. Was die geltend gemachten
somatischen Veränderungen des Gesundheitszustands seit der MEDAS-Begutachtung
anbelangt, legt der Beschwerdeführer nicht näher dar, inwiefern die Vorinstanz
auf die diesbezügliche Einschätzung der RAD-Ärztin nicht hätte abstellen
dürfen.
-
Den trotz Gesundheitsschaden zumutbarerweise realisierbaren Verdienst
(Invalideneinkommen) bezifferte die Vorinstanz unter Beizug des tabellarisch
ausgewiesenen Durchschnittslohns eines einfache und repetitive Tätigkeiten
ausführenden Mannes im privaten Sektor und in Berücksichtigung der reduzierten
Arbeitsfähigkeit mit Fr. 41'657.-. Dies wird vom Beschwerdeführer nicht näher
beanstandet.
-
Bemängelt wird indessen die Bemessung des hypothetischen Verdienstes als
Gesunder (Valideneinkommen). Ausgangslage müsse die seit April 2002 als
Angestellter der Temporärfirma (vorwiegend) ausgeübte Tätigkeit als Bauarbeiter
sein, die - weil nunmehr Vater einer neu gegründeten Familie - auf eine
Vollzeittätigkeit aufzurechnen sei, was zu einem Verdienst von Fr. 64'623.-
oder - basierend auf dem zuletzt taggeldversicherten Lohn - Fr. 68'510.- führen
müsse. Die Vorinstanz ging dagegen wegen der in der Vergangenheit sehr
unregelmässig erzielten Einkommen und des weiteren Lebenslaufs davon aus, der
Versicherte hätte sich ohne Gesundheitsschaden auch weiterhin mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit mit geringen Einkünften begnügt, weshalb auf den Mittelwert
der Jahre 1993 bis 2002 abzustellen sei (Fr. 12'126.-).
Wie es sich damit verhält, braucht nicht abschliessend beantwortet zu werden.
Denn selbst wenn auf den vom Beschwerdeführer geforderten Betrag abzustellen
wäre, würde dies nicht zu einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % führen (1
- 41'657/64'623 [oder 68'510] = 35.53 [oder 39.20], gerundet [BGE 130 V 121] 36
oder 39 %), was aber zur Begründung eines Rentenanspruchs erforderlich wäre
(Art. 28 Abs. 1 IVG). Anzufügen ist einzig, dass die Behauptung des
Beschwerdeführers, wegen der bevorstehenden Gründung der Familie und der Geburt
der Tochter im Mai 2004 bereits seit 2003 einer vollzeitigen Erwerbstätigkeit
im Bauhauptgewerbe nachgegangen zu sein, mit den Akten im Widerspruch steht.
Die von der IV-Stelle bei der Arbeitgeberin eingeholten Lohnauskünfte vom 20.
Januar 2004 zeigen zumindest für das Jahr 2003 monatlich starke Schwankungen im
Einsatz und damit auch im Lohn, was bei einer Anstellung bei einer
Temporärfirma nicht untypisch ist. Der vom Beschwerdeführer geforderte Schluss,
er würde als Gesunder mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vollzeitig im
Bauhauptgewerbe tätig sein, liegt daher keineswegs auf der Hand.
-
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1, Abs. 4 lit. a BGG). Die
Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer als der unterliegenden Partei
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege kann gewährt
werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372, je mit
Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam
gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

-
Die Beschwerde wird abgewiesen.
-
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
-
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
-
Fürsprecher Peter Kaufmann, Bern, wird als unentgeltlicher Anwalt des
Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'500.-
ausgerichtet.
-
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 20. August 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung i.V. Widmer