Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.157/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_157/2008

Urteil vom 10. Oktober 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Parteien
H.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Claudia Eugster, Bahnhofstrasse 10, 8700
Küsnacht ZH,
und diese substituiert durch
eidg. dipl. Versicherungsfachmann René Mettler, Bahnhofstrasse 10, 8700
Küsnacht ZH,

gegen

IV-Stelle Glarus, Zwinglistrasse 6, 8750 Glarus,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom
23. Januar 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 28. Januar 2005 und Einspracheentscheid vom 8. März 2005
lehnte die IV-Stelle Glarus den Anspruch der H.________, geboren 1954, auf eine
Invalidenrente ab. Das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus hiess die dagegen
erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 14. März 2006 teilweise gut und wies die
Sache zur weiteren Abklärung der Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten
Tätigkeit an die IV-Stelle zurück. Mit Verfügung vom 22. Januar 2007 lehnte die
IV-Stelle das Leistungsbegehren erneut ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus
mit Entscheid vom 23. Januar 2008 ab.

C.
H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache zur
weiteren Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen; eventualiter sei ihr eine
halbe oder mindestens eine Viertelsrente zuzusprechen.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2.
Die gesetzlichen und rechtsprechungsgemässen Regeln über die Durchführung des
Einkommenvergleichs sind Rechtsfragen und als solche frei überprüfbar.
Demgegenüber stellt sich die Feststellung der beiden hypothetischen
Vergleichseinkommen als Tatfrage dar, soweit sie auf konkreter Beweiswürdigung
beruht, hingegen als Rechtsfrage, soweit sich der Entscheid nach der
allgemeinen Lebenserfahrung richtet. Letzteres betrifft etwa die Frage, ob
Tabellenlöhne anwendbar sind, welches die massgebliche Tabelle ist und ob ein
(behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Leidensabzug vorzunehmen
sei. Demgegenüber beschlägt der Umgang mit den Zahlen in der massgeblichen
LSE-Tabelle Tatfragen. Schliesslich ist die Frage nach der Höhe des (im
konkreten Fall grundsätzlich angezeigten) Leidensabzuges eine typische
Ermessensfrage, deren Beantwortung letztinstanzlicher Korrektur nur dort
zugänglich ist, wo das kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt
hat, also Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung vorliegt
(BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399).

3.
Die Beschwerdeführerin macht zunächst geltend, dass das von der Vorinstanz
ermittelte Valideneinkommen auf dem mit der eigenen Physiotherapiepraxis
erzielten Reingewinn beruhe und zu Unrecht nicht die darauf erhobenen
AHV-Beiträge berücksichtige.

Zwar trifft es zu, dass rechtsprechungsgemäss bei der Ermittlung der
Vergleichseinkommen von Selbstständigerwerbenden die von der versicherten
Person in einem bestimmten Geschäftsjahr effektiv bezahlten AHV/IV/EO-Beiträge
zum Betriebsgewinn hinzuzuzählen sind (SVR 1999 IV Nr. 24 S. 71 [I 499/97], E.
4). Indessen hat das kantonale Gericht diese Einkommensermittlung anhand der im
individuellen Konto ausgewiesenen Einkünfte aus selbstständiger
Erwerbstätigkeit verifiziert. Diese können ohne weiteres als Grundlage für die
Bestimmung des Valideneinkommens herangezogen werden (Urteile Z. vom 29. Januar
2003, I 305/02, E. 2.2.1, und I 705/05 vom 4. Januar 2007, E. 3.2 in fine). Die
vorinstanzliche Ermittlung des Valideneinkommens ist daher nicht zu
beanstanden.

Zu Recht wird in diesem Zusammenhang geltend gemacht, dass Validen- und
Invalideneinkommen auf zeitidentischer Grundlage zu erheben sind (BGE 128 V
174, 129 V 222). Der von der Vorinstanz als Valideneinkommen herangezogene
Durchschnittsgewinn der Jahre 2001 und 2002 wäre somit - wie auch das
Invalideneinkommen - an die Lohnentwicklung bis ins Jahr 2003 anzupassen
gewesen. Diese belief sich im Jahr 2003 gegenüber dem Vorjahr auf 2,1%
(Bundesamt für Statistik, Lohnentwicklung 2006, S. 31, Tabelle T1.2.93:
Nominallohnindex Frauen, Gesundheitswesen).

4.
Bezüglich der Ermittlung des Invalideneinkommens wird beantragt, es sei nicht
auf die statistischen Durchschnittslöhne im Gesundheitswesen abzustellen, da
die Beschwerdeführerin in diesem Bereich zufolge ihrer Hautekzeme und ihres
allergischen Asthmas (bei Sensibilisierung auf Latex) kaum eine Stelle zu
finden vermöchte. Grundsätzlich nicht bestritten wird, dass der Versicherten
die Aufnahme einer unselbstständigen Tätigkeit zumutbar ist.

Zunächst ist zum Einwand der Versicherten anzumerken, dass sich die Ekzeme, an
denen sie seit jeher leidet, nach Lage der Akten erst nach Aufnahme der
selbstständigen Erwerbstätigkeit verschlimmert und zu einer Beeinträchtigung
der Arbeitsfähigkeit geführt haben. Was das allergische Asthma betrifft, ist
eine Arbeitsunfähigkeit gemäss den medizinischen Einschätzungen nicht
ausgewiesen.

Letztlich ist dies insofern nicht relevant, als zur Ermittlung des
hypothetischen Invalideneinkommens rechtsprechungsgemäss dann, wenn die
versicherte Person nach Eintritt des Gesundheitsschadens keine oder jedenfalls
keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit aufgenommen hat (BGE 129 V
472 E. 4.2.1 S. 475), in der Regel die Monatslöhne gemäss LSE-Tabelle TA1,
Zeile "Total Privater Sektor", anzuwenden sind (nicht publizierte E. 5.1 von
BGE 133 V 545 [9C_237/2007]). Vorliegend besteht kein Grund, von dieser Regel
abzuweichen. Der entsprechende Durchschnittslohn für Frauen belief sich gemäss
der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung (LSE)
2002, Tabelle TA1 (S. 43), Anforderungsniveau 3 (Berufs- und Fachkenntnisse
vorausgesetzt), auf Fr. 4'743.- (bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40
Stunden). Umgerechnet auf die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit von 41,7
Stunden (Die Volkswirtschaft, 2008 Heft 7/8, S. 90, Tabelle B9.2) und angepasst
an die Nominallohnentwicklung bei Frauenlöhnen von 1,7% (Bundesamt für
Statistik, Lohnentwicklung 2006, S. 31, Tabelle T1.2.93; BGE 129 V 408) ergibt
sich für das Jahr 2003 (BGE 128 V 174, 129 V 222) ein Monatslohn von Fr.
5'029.- für ein 100%-Pensum; bei dem der Versicherten noch zumutbaren Pensum
von 50% beläuft sich das Invalideneinkommen auf Fr. 2'514.- im Monat oder Fr.
30'172.- im Jahr.

5.
Schliesslich wird geltend gemacht, der Beschwerdeführerin sei ein
leidensbedingter Abzug zu gewähren.

Der behinderungsbedingten Einschränkung wurde indessen bereits mit der um 50%
verminderten Arbeitsfähigkeit ausreichend Rechnung getragen. Das Alter der 1954
geborenen Versicherten fällt mit Blick auf den massgeblichen ausgeglichenen
Arbeitsmarkt nicht ins Gewicht; so wurde ein diesbezüglicher Abzug im Fall
eines 53-jährigen Versicherten verneint (BGE 126 V 75 E. 5a/cc S. 79).
Schliesslich ist die Dauer der ausgeübten selbstständigen Erwerbstätigkeit
nicht von Belang (vgl. BGE 126 V 75 E. 5b S. 79 f.; 129 V 472 E. 4.2.3 S. 481),
zumal auch deshalb, weil der Versicherten die Aufnahme einer unselbstständigen
Erwerbstätigkeit unbestrittenerweise zumutbar ist.

6.
Anzufügen bleibt, dass nach der Rechtsprechung eine Parallelisierung der beiden
Vergleichseinkommen zu erfolgen hat, wenn eine versicherte Person vor Eintritt
des Gesundheitsschadens aus invaliditätsfremden Gründen ein deutlich
unterdurchschnittliches Einkommen bezogen hat und sich nicht aus freien Stücken
damit begnügen wollte (BGE 134 V 322). Letztere Voraussetzung ist hier deshalb
nicht erfüllt, weil erst die Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit (mit der
Notwendigkeit, selbst zu massieren) zu den gesundheitlichen Problemen und zur
Erwerbseinbusse geführt hat. Es kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass
sich die Versicherte wegen der gesundheitlichen Probleme selbstständig gemacht,
sondern sich aus freien Stücken mit dem tieferen Einkommen begnügt hat.

7.
Das von der Vorinstanz ermittelte Valideneinkommen (Fr. 53'370.-), angepasst an
die Lohnentwicklung 2003 (dazu oben E. 3), beläuft sich auf Fr. 54'491.-.
Verglichen mit dem Invalideneinkommen von Fr. 30'172.- resultiert ein
Invaliditätsgrad von gerundet 45% (vgl. zur Rundung des Invaliditätsgrades BGE
130 V 121). Damit besteht Anspruch auf eine Viertelsrente.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Glarus vom 23. Januar 2008 und die Verfügung der IV-Stelle Glarus vom
22. Januar 2007 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die
Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Viertelsrente hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. Oktober 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

i.V. Widmer Durizzo