Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.125/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_125/2008

Urteil vom 13. Oktober 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Widmer, Leuzinger,
Gerichtsschreiberin Hofer.

Parteien
IV-Stelle Uri, 6460 Altdorf UR,
Beschwerdeführerin,

gegen

J.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Hansjörg Felber, Gründligasse
53, 6460 Altdorf UR.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des
Obergerichts des Kantons Uri vom 11. Januar 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1954 geborene, zuletzt als Schaler tätig gewesene J.________ meldete sich
im September 2003 unter Hinweis auf Rückenschmerzen und eine Depression nach
dem Tod seines Sohnes bei der Invalidenversicherung an und machte
Berufsberatung geltend. Die IV-Stelle Uri klärte die erwerblichen und
medizinischen Verhältnisse ab und sprach dem Versicherten mit Verfügung vom 19.
August 2004 Berufsberatung zu. Zudem zog sie das Gutachten des
Abklärungszentrums X.________ vom 22. September 2004 bei. Vom 3. bis 28. Januar
2005 liess sie den Versicherten durch die BEFAS berufspraktisch abklären. Am
27. Mai 2005 verfügte sie die Übernahme der Kosten eines Arbeitstrainings in
der Stiftung Y.________ für die Zeit vom 17. Mai 2005 bis 16. August 2005.
Daraufhin veranlasste sie ein interdisziplinäres Gutachten am Institut
F.________, welches am 11./24. August 2006 erging. Mit Vorbescheid vom 9.
Oktober 2006 teilte die IV-Stelle dem Versicherten die Ablehnung von
beruflichen Massnahmen und einer Invalidenrente mit. Dies bestätigte sie mit
Verfügung vom 4. Dezember 2006.

B.
Beschwerdeweise liess J.________ beantragen, es seien sämtliche Verfahrensakten
zu edieren, eine umfassende psychiatrisch-medizinische Abklärung in Bezug auf
den psychisch-sozialen Zustand und dessen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit
durchzuführen und ihm die unentgeltliche Verbeiständung zu bewilligen. Weiter
liess er geltend machen, die Verfügung der IV-Stelle vom 4. Dezember 2006 sei
aufzuheben, und es sei ihm mindestens eine halbe Invalidenrente zuzusprechen.
Das Obergericht des Kantons Uri hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 11.
Januar 2008 in dem Sinne gut, dass es die Verfügung vom 4. Dezember 2006 aufhob
und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit diese im Sinne der Erwägungen
verfahre und neu verfüge.

C.
Die IV-Stelle erhebt Beschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid
sei aufzuheben, und es sei die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen,
damit dieses über die Beschwerde des Versicherten materiell entscheide.

J.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Zudem lässt er um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege ersuchen. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Beim vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid handelt es sich in der Terminologie
des BGG um einen Zwischenentscheid. Er kann daher nur unter den Voraussetzungen
von Art. 93 Abs. 1 BGG selbstständig angefochten werden (BGE 133 V 477 E. 4.2
S. 481 f.). Lit. a dieser Bestimmung lässt die selbstständige Anfechtung eines
Zwischenentscheids zu, wenn dieser einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil
bewirken kann. Nach der Rechtsprechung ist diese Voraussetzung seitens des
Versicherers erfüllt, wenn der Rückweisungsentscheid eines kantonalen Gerichts
verbindliche Vorgaben zu den Grundlagen der Anspruchsbeurteilung enthält.
Ebenso stellt es einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil dar, wenn eine
Behörde durch einen Rückweisungsentscheid gezwungen wird, entgegen ihrer
Auffassung eine neue Anordnung zu erlassen (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.;
SVR 2008 IV Nr. 31 S. 100 E. 1.2, I 126/07). Die IV-Stelle macht geltend, mit
dem vorinstanzlichen Entscheid werde sie in rechtswidriger Weise gezwungen, ein
Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchzuführen. Damit wäre die Anordnung einer
medizinischen oder beruflichen Massnahme verbunden, welche die IV-Stelle selbst
als unnötig und daher für falsch erachtet. Demzufolge ist in der entsprechenden
Weisung des kantonalen Gerichts ein nicht wieder gutzumachender Nachteil zu
erblicken, weshalb auf die Beschwerde eingetreten werden kann.

2.
2.1 Streitig ist, ob die IV-Stelle vor Erlass der leistungsabweisenden
Verfügung vom 4. Dezember 2006 ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren hätte
durchführen müssen. Die Vorinstanz bejaht dies und schützt damit das Argument
des Versicherten, die Verwaltung hätte ihn auf die Rechtsfolgen der
Ausschlagung der beruflichen Eingliederung aufmerksam machen müssen. Weil in
dieser Unterlassung eine schwer wiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs
begründet liege, hob das kantonale Gericht die Verfügung auf und wies die
Verwaltung an, das Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchzuführen und
anschliessend neu zu verfügen. Die Beschwerdeführerin geht demgegenüber davon
aus, es sei kein Anwendungsfall von Art. 21 Abs. 4 ATSG oder Art. 43 Abs. 3
ATSG gegeben. Der Umstand, dass mit dem dreimonatigen Arbeitstraining in der
Stiftung Y.________ die gemäss Schlussbericht der BEFAS vom 8. Februar 2005
erhoffte Leistungssteigerung nicht habe realisiert werden können, stehe in
keinem kausalen Zusammenhang zur Abweisung des Leistungsbegehrens.

2.2 Nach Art. 21 Abs. 4 ATSG können Leistungen vorübergehend oder dauernd
gekürzt oder verweigert werden, wenn sich eine versicherte Person einer
zumutbaren Behandlung oder Eingliederung ins Erwerbsleben entzieht oder
widersetzt, die eine wesentliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit oder eine
neue Erwerbsmöglichkeit verspricht, oder wenn sie nicht aus eigenem Antrieb das
ihr Zumutbare dazu beiträgt. Sie muss vorher schriftlich gemahnt und auf die
Rechtsfolgen hingewiesen werden; ihr ist eine angemessene Bedenkzeit
einzuräumen. Gemäss Art. 43 Abs. 3 ATSG kann der Versicherungsträger aufgrund
der Akten verfügen oder die Erhebungen einstellen und Nichteintreten
beschliessen, wenn die versicherte Person oder andere Personen, die Leistungen
beanspruchen, den Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten in unentschuldbarer
Weise nicht nachkommen; er muss diese Person vorher schriftlich mahnen und auf
die Rechtsfolgen hinweisen; ihnen ist eine angemessene Bedenkzeit einzuräumen.
Diese Bestimmungen sind im Bereich der Invalidenversicherung anwendbar (Art. 2
ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 IVG). Zusätzlich verpflichtet Art. 7 Abs.
1 IVG in der vom 1. Januar 2004 bis 31. Dezember 2007 in Kraft gestandenen
Fassung die anspruchsberechtigten Personen unter Hinweis auf die Rechtsfolgen
gemäss Art. 21 Abs. 4 ATSG, die Durchführung aller Massnahmen, die zur
Eingliederung ins Erwerbsleben getroffen werden, zu erleichtern.

3.
Nachdem dem Versicherten seitens der BEFAS gemäss Schlussbericht vom 8. Februar
2005 eine mindestens 50 prozentige Arbeitsfähigkeit in einer angepassten
Tätigkeit mit Steigerungsmöglichkeit bis auf 100 Prozent attestiert und ein
Arbeitstraining im geschützten Rahmen der Stiftung Y.________ empfohlen worden
war, bewilligte die IV-Stelle diese berufliche Massnahme mit Verfügung vom 27.
Mai 2005 zunächst für drei Monate. Da die von der BEFAS erwartete
Leistungssteigerung laut Schlussbericht der Stiftung Y.________ vom 22. August
2005 nicht herbeigeführt werden konnte und eine Prüfung der Rentenfrage
empfohlen wurde, sah die IV-Stelle von einer Verlängerung des Arbeitstrainings
um weitere drei Monate ab. Der Arzt des Regionalen Ärztlichen Dienstes konnte
das schlechte Ergebnis des Arbeitstrainings aufgrund der medizinischen
Unterlagen und der Beurteilung der BEFAS nicht nachvollziehen, weshalb die
IV-Stelle auf dessen Vorschlag hin eine polydisziplinäre Abklärung beim
Institut F.________ veranlasste. Wann die IV-Stelle im Sinne von Art. 43 Abs. 3
ATSG vorzugehen hat, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Selbst bei
passiver Haltung oder schuldhafter Unterlassung der notwendigen und zumutbaren
Mitwirkung der versicherten Person hat die Verwaltung die ohne Schwierigkeiten
und besonderen Aufwand zu treffenden Sachverhaltsabklärungen zu tätigen und
anschliessend materiell zu entscheiden (BGE 97 V 173 E. 3 S. 176, 108 V 229 E.
2 S. 231). Die IV-Stelle hat weder im Sinne von Art. 43 Abs. 3 ATSG aufgrund
der Akten verfügt oder die Erhebungen eingestellt noch Leistungen verweigert,
weil sich die versicherte Person im Sinne von Art. 21 Abs. 4 ATSG einer
Massnahme widersetzt, entzogen oder nicht aus eigenem Antrieb das ihr Zumutbare
beigetragen hätte. Sie hat kein Verhalten des Versicherten sanktioniert,
sondern durch die Einholung eines medizinischen Gutachtens ihre
Entscheidungsgrundlagen erweitert. Erst gestützt auf das Gutachten vom 11./24.
August 2006, welches aus orthopädisch/rheumatologischer wie auch aus
psychiatrischer Sicht für eine körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeit
eine volle Arbeitsfähigkeit attestierte, kam sie zum Schluss, dem Versicherten
sei es zumutbar, höhere als die im Rahmen des Arbeitstrainings gezeigten
Leistungen zu erbringen. Da der Einkommensvergleich einen Invaliditätsgrad von
lediglich 15 Prozent ergab, lehnte sie das Leistungsbegehren ab. Nachdem sich
die Verwaltung für ergänzende Abklärungen entschieden hatte, durfte sie
gestützt darauf über den Leistungsanspruch befinden. Es ist bei diesen
Gegebenheiten nicht ersichtlich, welche Rechtsfolgen sie dem Versicherten
androhen sollte. Die Vorinstanz hätte daher die IV-Stelle nicht verpflichten
dürfen, ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchzuführen. Der angefochtene
Entscheid verletzt somit Bundesrecht. Die Sache ist daher zur materiellen
Beurteilung der in der Beschwerde vom 18. Januar 2007 vorgebrachten Anträge
"zum Verfahren" und "zur Sache" an die Vorinstanz zurückzuweisen.

4.
Dem Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege ist
stattzugeben, da die Partei bedürftig und die anwaltliche Verbeiständung
geboten ist (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372). Es
wird ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 11. Januar 2008 aufgehoben. Die Sache
wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie über die Beschwerde gegen die
Verfügung vom 4. Dezember 2006 materiell entscheide.

2.
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen, und es wird ihm Rechtsanwalt
Hansjörg Felber, Altdorf, als Rechtsbeistand beigegeben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Hansjörg Felber, Altdorf, wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1500.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Uri,
Verwaltungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Oktober 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Hofer