Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.983/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_983/2008/bri

Urteil 3. Februar 2009
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Ferrari,
Gerichtsschreiber Briw.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Kurt Bonaria,

gegen

A.________,
Beschwerdegegnerin,
Generalprokurator des Kantons Bern, Hochschulstrasse 17, 3012 Bern,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexuelle Handlungen mit Kindern,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 3. Strafkammer,
vom 6. August 2008.

Sachverhalt:

A.
Das Obergericht des Kantons Bern erklärte im Appellationsverfahren am 6. August
2008 X.________ schuldig der Vergewaltigung (mehrfach begangen in der Zeit ab
3. Dezember 1997 bis Frühling 2005), der sexuellen Nötigung (mehrfach begangen
in der Zeit ab 3. Dezember 1997 bis Frühling 2005) und der sexuellen Handlungen
mit Kindern (mehrfach begangen in der Zeit ab 3. Dezember 1997 bis 7. Mai
1999), jeweils zum Nachteil der 1983 geborenen Beschwerdegegnerin, sowie der
mehrfach begangenen einfachen Körperverletzung. Es bestrafte ihn mit 4 1/2
Jahren Freiheitsstrafe.

B.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das obergerichtliche
Urteil aufzuheben, ihn (mit Ausnahme der mehrfachen einfachen Körperverletzung)
freizusprechen, eventuell ihn zu einer Freiheitsstrafe von maximal 20 Monaten,
unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs, zu verurteilen. Es sei ihm die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Erwägungen:

1.
Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie
offensichtlich unrichtig oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95
beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Rüge der offensichtlich
unrichtigen Feststellung des Sachverhalts prüft das Bundesgericht gemäss Art.
106 Abs. 2 BGG nur insoweit, als sie in der Beschwerde präzise vorgebracht und
begründet worden ist (BGE 133 III 439 E. 3.2; 133 II 249 E. 1.4.3; 133 IV 286
E. 1.4). Offensichtlich unrichtig bedeutet willkürlich im Sinne von Art. 9 BV
(BGE 133 II 249 E. 1.2.2).
Was der Beschwerdeführer gegen die vorinstanzliche Beweiswürdigung einwendet,
erschöpft sich in einer appellatorischen Kritik am angefochtenen Urteil. Er
beschränkt sich darauf, unter teils blosser Wiedergabe seiner im kantonalen
Verfahren vertretenen Standpunkte die eigene Sicht der Dinge vorzutragen und
darzulegen, wie seiner Auffassung nach die vorhandenen Beweise - das heisst
seine eigenen Aussagen sowie die Aussagen der Beschwerdegegnerin, der Ehefrau
und des Sohnes - richtigerweise zu würdigen gewesen wären. Eine solche Kritik
ist nicht geeignet, offensichtlich erhebliche und schlechterdings nicht zu
unterdrückende Zweifel an der vorinstanzlichen Beweiswürdigung darzutun. Es
wird in keiner Weise ersichtlich, dass die Unschuldsvermutung oder der
Grundsatz in dubio pro reo verletzt sein sollten. Willkürlich ist ferner ein
Entscheid nicht schon, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint
oder gar vorzuziehen wäre, sondern wenn er offensichtlich unhaltbar ist (BGE
127 I 54 E. 2b). Dies zeigt der Beschwerdeführer nicht auf. Insoweit ist auf
die Beschwerde nicht einzutreten (vgl. BGE 133 IV 286 E. 1.4; 133 II 249 E.
1.4, 396 E. 3.1). Massgebend ist der vorinstanzlich festgestellte Sachverhalt
(Art. 105 Abs. 1 BGG).

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, seine Liebesbeziehung mit der
Beschwerdegegnerin sei erst für das Jahr 2000 erstellt, als sie bereits 17
Jahre alt und nicht mehr Kind im Sinne von Art. 187 StGB gewesen sei.

Nach dem massgebenden Sachverhalt, wie er auch dem Urteilsdispositiv zu
entnehmen ist, beging er diese Taten in der Zeit ab 3. Dezember 1997 bis 7. Mai
1999. In dieser Zeit war die Beschwerdegegnerin noch nicht 17 Jahre alt. Die
Beschwerde ist unbegründet.

3.
3.1 Hinsichtlich sexueller Nötigung (Art. 189 Abs. 1 StGB) und Vergewaltigung
(Art. 190 Abs. 1 StGB) bestreitet der Beschwerdeführer, die Beschwerdegegnerin
unter psychischen Druck gesetzt zu haben. Die fast volljährige und später sogar
volljährige Frau habe sich frei in seine Wohnung begeben, um ihre Sexualität
mit ihrem Stiefvater auszuleben. Das Ausnützen allgemeiner Abhängigkeits- oder
Freundschaftsverhältnisse genüge für sich genommen in der Regel nicht, um einen
relevanten psychischen Druck zu begründen.

3.2 Sexuelle Nötigung (Art. 189 Abs. 1 StGB) und Vergewaltigung (Art. 190 StGB)
sind namentlich anzunehmen, wenn das Opfer unter psychischen Druck gesetzt
wird. Dieses Nötigungsmittel wird in den beiden Tatbeständen gleich ausgelegt
(vgl. BGE 124 IV 154 E. 3b).

Die sexuellen Nötigungstatbestände verbieten den Angriff auf die sexuelle
Freiheit. Sie gelten als Gewaltdelikte und sind damit prinzipiell als Akte der
Aggression zu verstehen. Dabei stellt aber die Tatbestandsvariante des
Unter-psychischen-Druck-Setzens klar, dass sich die tatbestandsmässige
Ausweglosigkeit der Situation auch ergeben kann, ohne dass der Täter
eigentliche Gewalt anwendet. Es kann vielmehr genügen, dass dem Opfer eine
Widersetzung unter solchen Umständen aus anderen Gründen nicht zuzumuten ist.
Diese Umstände müssen eine Qualität erreichen, die sie in ihrer Gesamtheit als
instrumentalisierte sogenannte strukturelle Gewalt erscheinen lassen. Kognitive
Unterlegenheit und emotionale wie soziale Abhängigkeit können - insbesondere
bei Kindern und Jugendlichen - einen ausserordentlichen Druck erzeugen, der es
ihnen verunmöglicht, sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren (BGE 131 IV 107
E. 2.2). Eine sexuelle Nötigung ist um so wirksamer, je empfindlicher, wehr-
und hilfloser insbesondere abhängige, verletzliche oder traumatisierte Opfer
einem solchen Angriff ausgesetzt sind. Allerdings darf der Begriff der
Instrumentalisierung struktureller Gewalt nicht als Ausnützung vorbestehender
gesellschaftlicher oder privater Machtverhältnisse missverstanden werden. Die
blosse Ausnützung ist keine Nötigung, und eine tatsächlich bestehende
strukturelle Gewalt ist als solche noch keine zurechenbare Nötigungshandlung.
Es muss für die Erfüllung des Tatbestands durch den Täter eine "tatsituative
Zwangssituation" nachgewiesen sein. Das bedeutet nicht, dass der Täter diese
jedes Mal wieder auf die gleiche Weise neu entstehen lassen muss. Es genügt,
wenn das Opfer zunächst in dem ihm möglichen Rahmen Widerstand leistet und der
Täter in der Folge den Zwang aktualisiert, so dass jede weitere sexuelle
Ausbeutung nur aufgrund der strukturellen und aktualisierten Gewalterfahrung
erfolgt (BGE 131 IV 107 E. 2.4).

3.3 Die Vorinstanz führt gestützt auf die erstinstanzlichen Erwägungen aus, die
Beschwerdegegnerin sei als zwölfjähriges Mädchen in eine für sie fremde Familie
gekommen. Der Beschwerdeführer sei in dieser Familie der "Patriarch" gewesen.
Er sei in einem kolumbianischen Dorf ein angesehener Mann in Richterposition
und damit mit verstärkter Autorität gewesen. In der Familie habe er mit einem
Gewaltregime geherrscht. Erniedrigungen hätten zur Tagesordnung gehört, und
Widerspruch sei nicht geduldet worden. Hand und Gürtel seien locker gesessen.
In dieser Familie habe es für die Beschwerdegegnerin weder eine
Vertrauensperson noch eine Mutter gegeben. Die Beschwerdegegnerin sei dann in
die Schweiz in eine fremde Kultur gekommen. Hier habe der Beschwerdeführer ihr
verboten, über die sexuellen Handlungen zu sprechen. Er habe ihr ein
Schweigegebot auferlegt und erklärt, wenn sie etwas erzähle, komme er ins
Gefängnis, die Familie gehe kaputt, er könne nicht mehr für die Geschwister
sorgen, und ohne ihn seien sie nichts. Er habe dies so oft wiederholt, bis die
Familienmitglieder das mit der Zeit geglaubt hätten. Der Druck, der während
Jahren auf der Beschwerdegegnerin gelastet habe, sei durch ihre ungewollte
Schwangerschaft verstärkt worden. Nebst diesen bösartigen und erniedrigenden
Druckmethoden habe der Beschwerdeführer ein perverses und perfides Verhalten
gezeigt, um seine Stieftochter unter Druck zu setzen und für sich gefügig zu
machen. Er habe ihr immer wieder vorgeworfen, sie habe eine Affäre mit ihrem
Halbbruder und mit anderen Männern. Um ihm zu beweisen, dass das nicht stimme,
habe sie gemeint, mit ihm schlafen zu müssen. Auch Auslandaufenthalte des
Beschwerdeführers hätten an dieser Situation nichts geändert. Die
Beschwerdegegnerin habe genau gewusst, was geschehen würde, wenn sie sich
seinem Willen nicht unterordnen würde. Sie sei zu ihm gegangen, weil er ihr
sonst "die Hölle heiss" gemacht hätte. Der Beschwerdeführer sei sich dieser von
ihm geschaffenen Zwangssituation bewusst gewesen. Er habe seine sexuellen
Bedürfnisse befriedigen wollen. Mit den Jahren habe sich daraus ein
eingeschliffenes Ritual ergeben. Es sei der Beschwerdegegnerin nicht mehr
zuzumuten gewesen, sich effektiv und effizient aufzulehnen. Auch in der Schweiz
habe der Beschwerdeführer die Familie mit Gewalt und Beschimpfungen
terrorisiert.

Unter diesen tatsächlichen Voraussetzungen nimmt die Vorinstanz zutreffend ein
tatbestandsmässiges Unter-psychischen-Druck-Setzen im Sinne von Art. 189 und
190 StGB an. Die Beschwerde ist unbegründet.

4.
Es ist aufgrund dieser massgeblichen vorinstanzlichen Feststellungen nicht
nachvollziehbar, wie gegen die Strafzumessung eingewendet werden kann, es liege
gar keine strafbare Tat vor, der Beschwerdeführer habe aus Liebe gehandelt. Und
es wird aus der Beschwerde nicht plausibel, weshalb das Strafmass antragsgemäss
tief angesetzt werden könnte. Er weist auf eine durch ein Massaker in Kolumbien
verursachte posttraumatische Belastungsstörung hin (angefochtenes Urteil S.
73), auf seinen gesellschaftlichen Abstieg, die kulturelle Verschiedenheit in
der Schweiz sowie dass das "Inzestuöse" weder erkannt noch thematisiert worden
sei und ihm in Kolumbien weitere Bestrafung drohe. Die Vorinstanz geht indessen
in ihrem Urteil von einer "normalen Strafempfindlichkeit" aus. Dabei stellt sie
fest, weder der Bericht des Psychotherapeuten noch die Aussagen des
Beschwerdeführers wiesen auf die geltend gemachte "sehr hohe paranoidiforme und
depressive Empfindlichkeit auf Verurteilung" hin. Angesichts des sehr schweren
Verschuldens ist das Strafmass bundesrechtlich nicht zu beanstanden.

5.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ist wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren
abzuweisen (Art. 64 StGB). Der Beschwerdeführer hat die Gerichtskosten zu
tragen. Seiner finanziellen Lage kann mit einer herabgesetzten Gerichtsgebühr
Rechnung getragen werden (Art. 65 Abs. 2 und Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 3.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Februar 2009

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Favre Briw