Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.944/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_944/2008

Urteil vom 22. April 2009
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Mathys,
Gerichtsschreiberin Binz.

Parteien
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, 6002 Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________, fremdenpolizeilich ausgeschafft,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Widerruf der bedingten Entlassung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer,
vom 26. August 2008.

Sachverhalt:

A.
A.________ wurde am 3. August 2004 bedingt aus einer Freiheitsstrafe (5 Jahre
wegen Drogendelikten) entlassen. Während der anschliessenden dreijährigen
Probezeit für die Reststrafe von 637 Tagen beging er erneut
Betäubungsmitteldelikte, weshalb ihn das Kriminalgericht des Kantons Luzern am
26. April 2007 unter anderem wegen mehrfacher qualifizierter Widerhandlung
gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 3 Jahren Freiheitsstrafe verurteilte.
Dieses Urteil erwuchs in Rechtskraft, nachdem A.________ seine dagegen
eingereichte Appellation zurückgezogen hatte. Am 23. Januar 2008 entliess ihn
das Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern (Abteilung Vollzugs-
und Bewährungsdienste) erneut bedingt aus dem Strafvollzug, worauf er am 26.
Januar 2008 fremdenpolizeilich nach Albanien ausgeschafft wurde.

B.
Aufgrund einer Meldung des Bundesamtes für Justiz (Schweizerisches
Strafregister), in welcher auf die bedingte Entlassung vom 3. August 2004
hingewiesen wurde, widerrief das Kriminalgericht diese am 17. April 2008. Auf
Rekurs von A.________ hin hob das Obergericht des Kantons Luzern diesen
Widerrufsentscheid am 26. August 2008 auf. Es entschied, dass die bedingte
Entlassung gemäss Verfügung des Departements des Innern des Kantons Aargau vom
9. Juli 2004 nicht widerrufen werde.

C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons
Luzern, der Entscheid des Obergerichtes sei aufzuheben und die Sache bezüglich
der Widerrufsfrage zur erneuten Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

D.
Während von Seiten des Beschwerdegegners keine Stellungnahme eingegangen ist,
beantragt die Vorinstanz die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei.
Erwägungen:

1.
1.1 Im Gegensatz zum Kriminalgericht ist die Vorinstanz der Auffassung, eine
nachträgliche Anordnung der Rückversetzung in einem separaten Entscheid sei
nicht möglich. Der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches sehe eine
nachträgliche Abänderung des rechtskräftigen Sachurteils im Sanktionspunkt
nicht vor. Vielmehr impliziere das Erfordernis, eine Gesamtstrafe bilden zu
müssen, angesichts der Interdependenz von neuer Straftat und Reststrafe, dass
diese auch unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Materie im Strafurteil
gebildet werden solle und müsse. Eine Zweiteilung des Verfahrens in Sachurteil
und Entscheid über den Widerruf würde zu einem problematischen Eingriff in die
Rechtskraft des Sachurteils führen. Rechtskraft bedeute die Verbindlichkeit
eines Urteilsspruchs für spätere Prozesse, selbst wenn dieser unrichtig sei
oder auf fehlerhaftem Verfahren beruhe. Nur so könnten Rechtsfrieden und
Rechtssicherheit durchgesetzt werden. Der Betroffene müsse sich in der Regel
auf den Bestand und damit die Unabänderlichkeit eines rechtskräftigen Urteils
verlassen können. Dies müsse hier umso mehr zutreffen, als verschiedene
rechtskräftige Sachurteile und Vollzugsentscheide, die vor dem Erlass des
angefochtenen Entscheids ergingen, von diesem Entscheid direkt oder indirekt
mehr oder weniger erheblich betroffen seien. Die erneute Sanktionierung von
Straftaten, welche bereits in einem rechtskräftigen Urteil behandelt wurden,
würde zudem das Prinzip "ne bis in idem" verletzen. Die Rechtslage sei
angesichts des Eingriffs in die Rechtskraft des Sachurteils auch nicht mit der
Möglichkeit vergleichbar, den bedingten Vollzug einer früheren Strafe nicht mit
Sachurteil, sondern in einem separaten Entscheid des gleichen Gerichts zu
prüfen. Nach altem Recht sei dies zugelassen gewesen, weil Art. 41 Abs. 3
(recte Ziff. 3) aStGB keine Gesamtstrafe verlangt habe und damit nicht in die
Rechtskraft des Sachurteils eingegriffen worden sei.

1.2 Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber im Wesentlichen geltend, dass bei
einem irrtümlich unterbliebenen Rückversetzungsentscheid ein separater
Entscheid vom Gesetz nicht ausgeschlossen sei. Der Sinn der Vorgehensregel in
Art. 89 Abs. 6 StGB (Bildung einer Gesamtstrafe) müsse im Gesamtzusammenhang
der Neuregelung des Strafzumessungs- und Vollzugswesens gesehen werden. Der
bedingt Entlassene solle entsprechend Art. 49 StGB beim Zusammentreffen der
Rückfallstaten und dem Entscheid der Rückfallsanordnung nicht schlechter
gestellt werden, als dies bei zwei separaten Entscheiden voraussichtlich der
Fall wäre. Der Gesetzgeber habe eine Kumulation - wie unter dem alten Recht -
verhindern wollen, indem die neue Strafe und der widerrufene Strafrest
zusammengezählt würden. Er nehme mit der neuen Regelung darauf Bezug, dass es
durchaus einen Unterschied machen könne, ob die neue, nicht besonders hohe
Rückfallsstrafe mit einem langen Strafrest oder umgekehrt eine lange neue
Strafe mit einem kurzen Strafrest zusammenfalle. Darum müsste bei einem
separaten Rückfallsentscheid, wie ihn das Kriminalgericht wegen einer massiven
einschlägigen Rückfälligkeit nachzuholen hatte, darauf Acht gegeben werden,
dass ein hypothetisches Gesamturteil gefällt würde. Das Gericht müsste mithin
sein rechtskräftiges Urteil als feststehende, unabänderliche Sanktion
miteinbeziehen und diese dem noch zu fällenden "Vollzugsurteil" zugrunde legen.
Auf diese Weise würde nicht in die Rechtskraft des bereits gefällten
Sachurteils zu den Rückfallstaten eingegriffen.

2.
Nach Art. 87 Abs. 1 StGB wird dem aus einer Freiheitsstrafe bedingt Entlassenen
eine Probezeit auferlegt, deren Dauer dem Strafrest entspricht. Begeht er
während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen, so ordnet das für die
Beurteilung der neuen Tat zuständige Gericht die Rückversetzung an. Es kann
darauf verzichten, wenn nicht zu erwarten ist, dass der Verurteilte weitere
Straftaten begehen wird. Dabei kann es den Verurteilten verwarnen und die
Probezeit um höchstens die Hälfte verlängern (Art. 89 Abs. 1 und 2 StGB). Die
Rückversetzung darf nicht mehr angeordnet werden, wenn seit dem Ablauf der
Probezeit drei Jahre vergangen sind (Art. 89 Abs. 4 StGB). Sind auf Grund der
neuen Straftat die Voraussetzungen für eine unbedingte Freiheitsstrafe erfüllt
und trifft diese mit der durch den Widerruf vollziehbar gewordenen Reststrafe
zusammen, so bildet das Gericht in Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe
(Art. 89 Abs. 6 StGB).

2.1 Wer bedingt aus dem Strafvollzug entlassen wird und während der Probezeit
erneut ein Vergehen oder Verbrechen begeht, wird dafür entsprechend der
üblichen strafrechtlichen und strafprozessualen Vorgaben vom zuständigen
Gericht bestraft. Unter der Herrschaft des alten Rechts hatte unabhängig davon
die Vollzugsbehörde darüber zu befinden, ob der bedingt Entlassene in den
Strafvollzug zurückversetzt wurde (Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 aStGB). Nahm sie von
einer Rückversetzung Umgang, konnte sie ihn verwarnen, ihm weitere Weisungen
erteilen und die Probezeit verlängern (Art. 45 Ziff. 3 Abs. 4 aStGB). Nach
neuem Recht hat nicht mehr die Vollzugsbehörde, sondern ein Gericht über die
Rückversetzung zu entscheiden. Zuständig ist der Richter, der auch die neuen
Straften zu beurteilen hat (Art. 89 Abs. 1 StGB), wie dies beim Widerruf des
bedingten Strafvollzugs gilt (Art. 46 Abs. 3 StGB). In welcher prozessualen
Form der Entscheid zu ergehen hat, ergibt sich aus dem Strafgesetzbuch nicht.
Namentlich findet sich keine Regelung, ob die neue deliktische Tätigkeit und
die Rückversetzung gleichzeitig zu beurteilen sind.

2.2 Während nach altem Recht mit dem Widerruf der bedingten Entlassung und der
Ausfällung der neuen Strafe zwei grundsätzlich voneinander unabhängige
Entscheide ergingen, hat der Gesetzgeber nunmehr vorgesehen, dass - im Falle
einer unbedingten Freiheitsstrafe für das neue Delikt - eine Gesamtstrafe im
Sinne von Art. 49 StGB zu bilden ist (Art. 89 Abs. 6 StGB). Dies würde an sich
bedeuten, dass entsprechend dem Asperationsprinzip von der schwersten Tat
auszugehen und die entsprechende Strafe (Einsatzstrafe) für die anderen Taten
angemessen zu erhöhen ist. Hat das Gericht eine Tat zu beurteilen, die der
Täter begangen hat, bevor er wegen einer anderen Tat verurteilt worden ist, so
bestimmt es die Zusatzstrafe in der Weise, dass der Täter nicht schwerer
bestraft wird, als wenn die strafbaren Handlungen gleichzeitig beurteilt worden
wären (Art. 49 Abs. 2 StGB). Damit soll das Asperationsprinzip auch bei
retrospektiver Konkurrenz gewährleistet werden. Eine Zusatzstrafe kann sich
etwa aufdrängen, wenn das erste Gericht die zusätzlichen Delikte nicht kannte,
aber auch, wenn aus anderen Gründen nicht alle Straftaten beurteilt wurden.
Immer geht es darum, dass der Täter, der mehrere Freiheitsstrafen verwirkt hat,
nach einem einheitlichen, für ihn relativ günstigen Prinzip der Strafschärfung
beurteilt werden soll, unabhängig davon, ob die Verfahren getrennt durchgeführt
werden oder nicht. Der Täter soll durch die Aufteilung der Strafverfolgung in
mehrere Verfahren weder benachteiligt noch besser gestellt werden (BGE 132 IV
102 E. 8.2 S. 104 f. mit Hinweisen). Dieser Grundsatz kann dazu führen, dass
nötigenfalls auf ein rechtskräftiges Urteil zurückgekommen wird: Ist jemand
entgegen den Vorschriften über das Zusammentreffen mehrerer strafbarer
Handlungen (Art. 49 StGB) von mehreren Gerichten zu mehreren Freiheitsstrafen
verurteilt worden, so setzt das Gericht, das die schwerste Strafe ausgesprochen
hat, auf Gesuch des Verurteilten eine Gesamtstrafe fest (Art. 344 Abs. 2 StGB).

2.3 Es ist sachgerecht, diese Grundsätze auch anzuwenden, wenn entgegen der
Regelung von Art. 89 Abs. 6 StGB keine Gesamtstrafe ausgesprochen worden ist.
Hat das Gericht - aus welchen Gründen auch immer - die offene Reststrafe bei
der Bemessung der neuen (unbedingten) Freiheitsstrafe nicht berücksichtigt, so
muss dies ähnlich der Regelung von Art. 344 Abs. 2 StGB korrigiert werden
können. Andernfalls würde die Rückversetzung in den Strafvollzug verunmöglicht,
was der gesetzlichen Regelung von Art. 89 Abs. 1 StGB widerspräche, wonach
diese Sanktion bei Nichtbewährung zwingend anzuordnen ist. Entgegen der
Auffassung der Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung kann es nicht darauf
ankommen, ob der Verurteilte mit einem nachträglichen separaten Entscheid über
die Rückversetzung zu rechnen hat oder nicht. Ein bedingt aus dem Strafvollzug
Entlassener, der während der Probezeit rückfällig wird, muss davon ausgehen,
dass über die Frage der Rückversetzung formell entschieden wird. Aus dem
blossen Umstand, dass im neuen Strafurteil dazu nichts ausgeführt wird, lässt
sich nicht herleiten, der Strafrest bleibe unangetastet. Selbst wenn der
Betroffene sich darüber irren sollte, kann jedenfalls keine Rede davon sein,
ein nachträglicher Widerruf sei nach Treu und Glauben ausgeschlossen. Weshalb
im Übrigen das Prinzip "ne bis in idem" tangiert sein soll, ist nicht
erkennbar. Bei der Bildung einer (nachträglichen) Gesamtstrafe werden die
Straftaten, welche bereits in einem rechtskräftigen Urteil behandelt wurden,
nicht erneut beurteilt, weshalb der Täter auch nicht zweimal verfolgt wird. Wie
das Bundesgericht kürzlich entschieden hat (BGE 6B_765/2008 vom 7. April 2009
E. 2.4.1), ist bei der Bildung der Gesamtstrafe nach Art. 89 Abs. 6 StGB die
neue Strafe als "Einsatzstrafe" durch einen zu widerrufenden Teil der noch
offenen Reststrafe zu erhöhen. Die "Einsatzstrafe" bleibt damit unberührt und
bei der "Erhöhungsstrafe" geht es um deren teilweisen nachträglichen Vollzug.
Durch die sinngemässe Anwendung des Asperationsprinzips wird der rückfällige
Täter im Vergleich zum Kumulationsprinzip sogar privilegiert (a.a.O.).

2.4 Indem die Vorinstanz materiell nicht über die Frage der Rückversetzung in
den Strafvollzug entschieden hat, verletzt sie Art. 89 Abs. 1 StGB. Die
Beschwerde ist deshalb gutzuheissen und die Sache zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird im Sinne der erwähnten
bundesgerichtlichen Rechtsprechung - auf die verwiesen werden kann -
gegebenenfalls zu befinden haben, welchen Anteil der offenen Reststrafe des
Urteils vom 3. August 2004 der Beschwerdegegner als "Zusatzstrafe" zum Urteil
des Kriminalgerichtes des Kantons Luzern vom 26. April 2007 noch verbüssen
muss.

3.
Ausgangsgemäss sind keine Kosten zu erheben und ist keine Entschädigung
zuzusprechen (Art. 66 und 68 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Obergerichtes des Kantons
Luzern (II. Kammer) vom 26. August 2008 aufgehoben und die Sache zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Obergericht des Kantons
Luzern, II. Kammer, schriftlich sowie dem Beschwerdegegner auf dem Ediktalweg
mitgeteilt.

Lausanne, 22. April 2009

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Favre Binz