Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.917/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_917/2008/sst

Urteil vom 3. Februar 2009
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Ferrari, Mathys,
Gerichtsschreiberin Koch.

Parteien
X.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Psychiatrisches Gutachten, Zweifel an der Schuldfähigkeit (Art. 20 StGB),

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts
des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 11. September 2008.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Zürich sprach X.________ mit Urteil vom 6. November 2007 der
mehrfachen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz nach Art. 19 Ziff. 1
Abs. 4, 5, und 6 BetmG (SR 812.121) in Verbindung mit Art. 19 Ziff. 2 lit. a
BetmG und der mehrfachen Geldwäscherei gemäss Art. 305bis Ziff. 1 StGB
schuldig. Es bestrafte sie mit einer Freiheitsstrafe von 5 ½ Jahren, unter
Anrechnung der Untersuchungshaft von 280 Tagen.

B.
Auf Berufung der Verurteilten und Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft
erhöhte das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 11. September 2008
das einzig angefochtene Strafmass auf 6 ½ Jahre Freiheitsstrafe.

C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Sie
beantragt, den Entscheid des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur
Einholung eines psychiatrischen Gutachtens und zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Sie stellt überdies ein Gesuch um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.
Erwägungen:

1.
1.1
Die Beschwerdeführerin (geboren im Jahr 1960) reichte im Berufungsverfahren ein
Arztzeugnis ein und beantragte unter Hinweis darauf die Einholung eines
psychiatrischen Gutachtens zur Frage ihrer Zurechnungsfähigkeit. Die Vorinstanz
wies den Antrag ab, weil Anhaltspunkte für eine verminderte Schuldfähigkeit
gänzlich fehlten. Zur Begründung hielt sie im Wesentlichen fest, bei der
Beschwerdeführerin hätten in der gesamten Untersuchung nie Hinweise auf eine
verminderte Schuldfähigkeit bzw. Einschränkung der Steuerungs- oder
Einsichtsfähigkeit im Tatzeitpunkt bestanden. Sie habe zu Beginn der
Untersuchung auf die Frage nach ihrem Gesundheitszustand keine psychischen
Probleme geltend gemacht und angegeben, sie befinde sich nicht in ärztlicher
Behandlung. Erst nach der Haftentlassung am 27. Februar 2007 würden Hinweise
darauf bestehen, dass psychologische Probleme angefangen hätten, als der
Beschwerdeführerin nach Erhalt der Anklageschrift vom 2. März 2007 bewusst
geworden sei, dass ihr eine lange Freiheitsstrafe drohe. Sie habe sich erst in
dieser Zeit in Behandlung begeben. Auch ihr Verteidiger gehe davon aus, dass
sie sich wegen der Delikte, aber auch wegen ihrer Zukunftsängste und ihrer
familiären Probleme im Zusammenhang mit der Trennung von ihrem Ehemann
psychologisch betreuen liess.

1.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe Zweifel an ihrer
Schuldfähigkeit zu Unrecht verneint und dadurch Art. 20 StGB bzw. Art. 13 aStGB
verletzt. Sie bringt vor, das Arztzeugnis halte fest, es bestehe der nahe
Verdacht, dass die bei ihr festgestellten psychischen Beschwerden schon in der
Vergangenheit massgeblich wirksam ihre Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt
hätten. Die Feststellungen der Vorinstanz zur Frage der Entscheidungsfreiheit
der Beschwerdeführerin im Tatzeitpunkt seien nicht fachkundig. Die
Beschwerdeführerin habe sich bereits vor der Behandlung bei Dr. med. A.________
in psychologischer Behandlung bei B.________ befunden. Die von der Vorinstanz
festgestellten äusseren Indizien seien nicht geeignet, die Feststellungen einer
Fachperson über innere Indizien, welche für die Verminderung der
Schuldfähigkeit sprächen, zu negieren.

2.
2.1 Nach Art. 20 StGB ordnet das Gericht eine sachverständige Begutachtung an,
wenn ein ernsthafter Anlass besteht, an der Schuldfähigkeit des Täters zu
zweifeln. Diese Bestimmung entspricht weitgehend Art. 13 aStGB, sodass die
bisherige Rechtsprechung zu Art. 13 aStGB auf die Begutachtung nach Art. 20
StGB anwendbar ist (Urteil 6B_250/2008 vom 12. Juni 2008 E. 2).

2.2 Für die Prüfung der Notwendigkeit einer Begutachtung soll der Richter seine
Zweifel an der Schuldfähigkeit nicht selber beseitigen, etwa indem er
psychiatrische Fachliteratur beizieht. Vielmehr ergibt sich aus Art. 20 StGB
bzw. Art. 13 Abs. 2 aStGB, dass er bei Zweifeln einen Sachverständigen
beiziehen muss. Art. 20 StGB gilt nicht nur, wenn der Richter tatsächlich
Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit hat, sondern auch, wenn er nach den
Umständen des Falls ernsthafte Zweifel haben sollte (BGE 133 IV 145 E. 3.3 mit
Hinweisen; 132 IV 29 E. 5.1; 119 IV 120 E. 2a; 116 IV 273 E. 4a; 106 IV 241 E.
1a mit Hinweisen). Ob der Richter Zweifel an der Schuldfähigkeit haben sollte,
ist eine Ermessensfrage (Marcel Bertschi, Probleme der strafrechtlichen
Begutachtung aus juristischer und forensisch-psychiatrischer Sicht, welche
Fragen stellen sich den Untersuchungsbehörden, ZStR 97/1980, S. 353 ff., 354;
Theodor Keller, Probleme der strafrechtlichen Begutachtung aus juristischer und
forensisch-psychiatrischer Sicht, der Standpunkt des Richters, ZStR 97/1980, S.
369 ff, 370).

2.3 Bei der Prüfung dieser Zweifel ist zu berücksichtigen, dass nicht jede
geringfügige Herabsetzung der Fähigkeit, sich zu beherrschen, genügt, um
verminderte Zurechnungsfähigkeit anzunehmen. Die Geistesverfassung des
Betroffenen muss in hohem Masse in den Bereich des Abnormen fallen und von
jener der durchschnittlichen Verbrechensgenossen abweichen, weil der Begriff
des "normalen Menschen" nicht eng zu fassen ist (BGE 116 IV 273 E. 4a und b).
Es muss somit ernsthafter Anlass zu Zweifeln an der Schuldfähigkeit in diesem
Rechtssinne bestehen. Umstände, welche beim Richter ernsthafte Zweifel
hervorrufen müssen, sind nach der bundesgerichtlichen Praxis beispielsweise
gegeben bei Drogenabhängigkeit (BGE 102 IV 74 und 106 IV 241 E. 2), bei einer
Frau, die mit einer schizophrenen Tochter zusammenlebte (BGE 98 IV 156), bei
einem Sexualdelinquenten mit möglicherweise abnorm starkem Geschlechtstrieb
(BGE 71 IV 190), bei einem Ersttäter, bei dem der Beginn der Straffälligkeit
mit dem Ausbruch einer schweren allergischen oder psychosomatischen
Hautkrankheit zusammenfiel (BGE 118 IV 6), sowie bei einem Widerspruch zwischen
Tat und Täterpersönlichkeit oder völlig unüblichem Verhalten. Das Bundesgericht
hat eine Begutachtungspflicht verneint bei Arbeitsscheu verbunden mit sicherem
Auftreten (BGE 69 IV 51 E. 3), bei Geldgier zur Kompensation von
Minderwertigkeitskomplexen (BGE 73 IV 211 E. 3e), bei leichter Angetrunkenheit
(BGE 91 IV 68 E. 2), bei ärztlicher Behandlung wegen einer posttraumatischen
Belastungsstörung (BGE 132 IV 29 E. 5.2 S. 38) bzw. der Aussprechung einer
vollen IV-Rente aufgrund einer solchen Störung (BGE 133 IV 145). Im letzten
Entscheid hat das Bundesgericht festgehalten, dass keine Begutachtungspflicht
für einen Täter bestehe, der sich an wechselnde Erfordernisse der Situation
anpassen und auf eine Gelegenheit zur Tat warten oder diese im Einzelnen
ausgestalten könne, bzw. dessen Verhalten vor, während und nach der Tat zeige,
dass ein Realitätsbezug erhalten sei (BGE 133 IV 145 E. 3.3 mit Hinweisen).

3.
3.1 Dr. A.________, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, welcher die
Beschwerdeführerin seit dem 7. Dezember 2007 behandelt, hat bei ihr gewisse
Beeinträchtigungen festgestellt, die sich in der Gegenwart häufen. Das
eingereichte Arztzeugnis ist indessen nicht geeignet, Zweifel an der
Schuldfähigkeit der Beschwerdeführerin aufkommen zu lassen. Es beschreibt den
heutigen Ist-Zustand und nimmt keinen Bezug zur Tatausführung oder zum
Tatzeitraum. Es hält im Gegenteil ausdrücklich fest, dass es nicht verlässlich
zum Tatgeschehen Stellung nehmen könne. Das Zeugnis setzt die festgestellten
Störungen auch nicht in eine Verbindung zu den konkreten Straftaten der
Beschwerdeführerin, sondern stellt lediglich generalisierend und ohne Nennung
konkreter Ereignisse fest, dass das labile emotionale Gleichgewicht
möglicherweise "schon in der Vergangenheit" einen Einfluss auf die Handlungen
und Entscheidungsfreiheit der Beschwerdeführerin gehabt habe. Das Zeugnis nimmt
weder konkret Bezug zum Tatzeitraum (Sommer 2002 bis 23. Mai 2006) noch zu den
Taten. Es ist damit nicht geeignet, Zweifel an der Schuldfähigkeit der
Beschwerdeführerin in Bezug auf ihre deliktische Tätigkeit zu erwecken (vgl.
nachfolgend E. 3.2 und 3.3).

3.2 Objektive Anhaltspunkte, welche Zweifel begründen, so dass eine
gutachterliche Abklärung der Beschwerdeführerin erforderlich wäre, bestehen
keine. Im Gegenteil geht aus den Akten hervor, dass die Beschwerdeführerin
nicht drogensüchtig und seit ihrer Einreise in die Schweiz im Jahr 1988
beruflich integriert ist, zahlreiche Taten als Einzeltäterin über einen langen
Zeitraum begangen hat und sich sowohl bei der Tatbegehung (z.B. beim Verstecken
der Drogen) als auch nach der Verhaftung bezüglich des Aussageverhaltens
(kontinuierliches Zugeben von Delikten) an die Begleitumstände anpassen konnte.
Die Vorinstanz hat durch die Abweisung des Eventualantrages auf Einholung eines
psychiatrischen Gutachtens kein Bundesrecht verletzt. Die Beschwerde ist
demzufolge abzuweisen.

4.
Die Beschwerdeführerin beantragt die Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege.
Gemäss Art. 64 Abs. 1 BGG befreit das Bundesgericht eine Partei, die nicht über
die erforderlichen Mittel verfügt, auf ihren Antrag hin von der Bezahlung der
Gerichtskosten, sofern ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Wenn es
zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, bestellt das Bundesgericht der Partei
eine anwaltliche Vertretung (Art. 64 Abs. 2 BGG).
Nach der Rechtsprechung ist eine Prozesspartei bedürftig, welche die Leistung
der erforderlichen Prozess- und Parteikosten nur erbringen kann, wenn sie die
Mittel angreift, die sie zur Deckung des Grundbedarfs für sich und ihre Familie
benötigt. Es obliegt der gesuchstellenden Partei, ihre aktuellen Einkommens-
und Vermögensverhältnisse umfassend aufzuzeigen und soweit wie möglich zu
belegen. Kommt die gesuchstellende Partei diesen Obliegenheiten nicht nach, ist
das Gesuch abzuweisen (BGE 125 IV 161 E. 4a; 124 I 1 E. 2a mit Hinweisen). Die
unentgeltliche Rechtspflege wird indessen nur gewährt, soweit die gestellten
Begehren nicht aussichtslos sind. Nach der Rechtsprechung sind Prozessbegehren
aussichtslos, deren Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die
Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können.
Massgeblich ist, ob sich eine vernünftige, nicht mittellose Partei ebenfalls
zur Beschwerde entschlossen hätte. Eine Partei soll einen Prozess, den sie auf
eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht deshalb anstrengen können,
weil er sie nichts kostet (BGE 129 I 129 E. 2.3.1; 128 I 225 E. 2.5.3).
Die Bedürftigkeit der Gesuchstellerin ist ausgewiesen, sie bezieht gemäss dem
von ihr eingereichten Beschluss der Sozialbehörde C.________ vom 18. November
2008 Sozialhilfe. Ihre Begehren können nicht zum Vornherein als aussichtslos
bezeichnet werden, zumal der von ihr vorgebrachte Beschwerdegrund eine
Ermessensfrage ist und sie aufgrund des Arztzeugnisses einen hinreichenden
Anlass hatte, die Frage der Notwendigkeit einer Begutachtung letztinstanzlich
prüfen zu lassen. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist
daher gutzuheissen. Somit sind keine Gerichtskosten zu erheben und es ist dem
Anwalt der Beschwerdeführerin eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- aus der
Bundesgerichtskasse auszurichten (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dem Vertreter der Beschwerdeführerin, Thomas Fingerhut, Rechtsanwalt, Zürich,
wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.--
ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Februar 2009
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Favre Koch