Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.905/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_905/2008

Urteil vom 24. März 2009
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Ferrari,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth,

gegen

A.________,
B.________,
C.________,
Beschwerdegegnerinnen,
alle drei vertreten durch Rechtsanwältin Brigit Rösli,
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Versuchte Vergewaltigung usw.; Willkür,

Beschwerde gegen den Zirkulationsbeschluss des Kassationsgerichts des Kantons
Zürich vom 25. September 2008.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Zürich verurteilte X.________ am 24. Juni 2003 wegen
versuchter Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1 StGB i.V.m. Art. 21 Abs. 1 StGB),
mehrfacher, teilweise versuchter sexueller Nötigung (Art. 189 Abs. 1 StGB,
teilweise i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB) und mehrfacher, teilweise versuchter
Ausnützung einer Notlage (Art. 193 Abs. 1 StGB, teilweise i.V.m. Art. 22 Abs. 1
StGB) zu 3 ½ Jahren Zuchthaus. Es hielt für erwiesen, dass X.________ als
stellvertretender Betriebsleiter und als Betriebsleiter der geschützten
Werkstatt F.________, unter Ausnützung seiner Stellung als (ehemaliger)
Vorgesetzter, Autoritätsperson und Ansprechpartner bzw. der geistigen,
kognitiven oder körperlichen Unterlegenheit der Geschädigten, zwischen 1998 und
2000 an E.________, A.________, D.________, B.________ und C.________ sexuelle
Übergriffe verübte.

Auf Berufung von X.________ und der Staatsanwaltschaft hin sprach das
Obergericht des Kantons Zürich diesen am 4. Oktober 2004 wegen unvollendeten
Vergewaltigungsversuchs zum Nachteil von E.________, mehrfacher sexueller
Nötigung zum Nachteil von E.________ und mehrfacher Ausnützung einer Notlage
zum Nachteil von A.________ und B.________ schuldig und verurteilte ihn zu 27
Monaten Gefängnis. Im Übrigen sprach es ihn frei.

Gegen dieses obergerichtliche Urteil erhoben einerseits X.________, anderseits
A.________, D.________ und C.________ Nichtigkeitsbeschwerden. Mit Urteil vom
23. September 2005 stellte das Kassationsgericht des Kantons Zürich fest, beide
Nichtigkeitsbeschwerden seien teilweise begründet und hob das angefochtene
Urteil des Obergerichts auf.

Mit Urteil vom 14. November 2007 verurteilte das Obergericht X.________ wegen
versuchter Vergewaltigung zum Nachteil von E.________, mehrfacher sexueller
Nötigung zum Nachteil von E.________, sexueller Nötigung zum Nachteil von
C.________ und mehrfacher Ausnützung einer Notlage zum Nachteil von A.________
und B.________ zu einer Freiheitsstrafe 30 Monaten, wovon es 18 Monate bedingt
aufschob. Von den übrigen Anklagevorwürfen sprach es ihn frei.

Das Kassationsgericht wies am 25. September 2008 die von X.________ gegen
dieses obergerichtliche Urteil erhobene Nichtigkeitsbeschwerde im Sinne der
Erwägungen ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, dieses Urteil des
Kassationsgerichts aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.

Erwägungen:

1.
Das Obergericht kam in seinem ersten Entscheid in dieser Sachen zum Schluss,
der Beschwerdeführer sei im bezirksgerichtlichen Verfahren nicht gehörig
vertreten gewesen, weil sein damaliger amtlicher Verteidiger auf Freispruch
plädiert, zur Strafzumessung für den Fall einer Verurteilung indessen keine
Ausführungen gemacht habe. Es verzichtete auf eine Rückweisung der Sache ans
Bezirksgericht und beurteilte die Berufung. Nach der Aufhebung dieses Urteils
durch das Kassationsgericht erliess es wiederum einen Sachentscheid. Der
Beschwerdeführer machte vor Kassationsgericht geltend, das Obergericht hätte
die Sache bei einer willkürfreien Anwendung des kantonalen Strafprozessrechts
an das Bezirksgericht zurück-weisen müssen und nicht selber entscheiden dürfen.
Mit Beschwerde in Strafsachen rügt der Beschwerdeführer, das Kassationsgericht
habe diese Willkürrüge zu Unrecht verworfen.

1.1 Nach § 427 der Zürcher Strafprozessordnung in der bis Ende 2004 geltenden
Fassung (aStPO) durfte im Berufungsverfahren eine Rückweisung an das
Bezirksgericht nur stattfinden, wenn von der ersten Instanz ein Anklagepunkt
nicht beurteilt worden war oder eine Verhandlung über die Schuldfrage dort
nicht stattgefunden hatte.

Seit dem 1. Januar 2005 gilt für Rückweisungen § 424 StPO mit fol-gendem
Wortlaut:

"1 Das Berufungsgericht hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist die
Sache zur Neubeurteilung zurück, wenn es feststellt, dass grundlegende
Verfahrensregeln zum Nachteil des Berufungsklägers verletzt wurden,
insbesondere dass

1. das Gericht erster Instanz nicht richtig besetzt oder nicht zuständig war;
2. der Angeklagte nicht gehörig verteidigt war; oder
3. seine Verteidigungsrechte so beeinträchtigt wurden, dass der Mangel nicht
geheilt werden kann.

2 In den übrigen Fällen ergeht ein neuer Entscheid."

Das Obergericht erwog in seinem ersten Urteil, es sei nach § 427 aStPO befugt,
selber zu entscheiden und nicht verpflichtet, die Sache ans Bezirksgericht
zurückzuweisen. In seinem zweiten, nach dem Inkrafttreten der Teilrevision der
Strafprozessordnung ergangenen Urteil kam es zum Schluss, es sei auch nach
neuem Recht - § 424 StPO - befugt, ohne Rückweisung selber zu entscheiden.

1.2 Im angefochtenen Beschluss hat das Kassationsgericht dem-gegenüber
entschieden, nach § 424 Abs. 1 Ziff. 2 StPO sei eine Rück-weisung zwingend
immer anzuordnen, wenn ein Verteidiger im erstinstanzlichen Verfahren seinen
anwaltlichen Pflichten ungenügend nachgekommen sei, ohne dass das Gericht
eingegriffen hätte (angefochtener Entscheid E. 1.6 S. 6 f.). Die Kritik an der
obergerichtlichen Rechtsauffassung treffe zu. Der vorliegende Fall richte sich
indessen übergangsrechtlich entgegen der Auffassung des Obergerichts nach altem
Recht (angefochtener Entscheid E. 3.2 S. 11 f.). § 3 Abs. 1 der
Schlussbestimmungen (SchlBest) zum Gesetz vom 27. Januar 2003, mit welchem die
hier zur Diskussion stehende Änderung der Straf-prozessordnung vorgenommen
wurde, lautet: "Rechtsmittel werden nach altem Recht beurteilt, wenn der
Entscheid, gegen den sie sich richten, vor dem Inkrafttreten gefällt worden
ist." Nach der Auffassung des Kassationsgerichts ergibt sich aus dieser
Bestimmung, dass sich die Zulässigkeit und die materielle Beurteilung eines
Rechtsmittels nach altem Recht richtet, wenn der erstinstanzliche Entscheid
noch unter dessen Herrschaft erging, und dass diesfalls für das gesamte
Rechtsmittelverfahren das alte Verfahrensrecht anwendbar bleibt. Die Rüge, das
Obergericht habe § 424 StPO unzutreffend ausgelegt, sei somit zwar begründet,
wirke sich aber nicht zum Nachteil des Be-schwerdeführers aus, da
richtigerweise § 427 aStPO hätte Anwendung finden müssen, nach welchem eine
Rückweisung nicht erforderlich gewesen sei.

1.3 Der Beschwerdeführer rügt, das Kassationsgericht sei nach § 430 Abs. 2 StPO
nur befugt, ausdrücklich geltend gemachte Nichtigkeitsgründe zu prüfen.
Vorliegend habe niemand die Anwendbarkeit von § 424 StPO in Frage gestellt. Das
Kassationsgericht sei daher gar nicht kompetent gewesen, die Anwendbarkeit
dieser Bestimmung von Amtes wegen zu prüfen und zu verneinen.

Wie der Beschwerdeführer zu Recht vorbringt, beschränkt sich das
Kassationsgericht in konstanter Praxis auf die Prüfung gehörig vor-gebrachter
Nichtigkeitsgründe. Er hat indessen in seiner Nichtigkeits-beschwerde die
Frage, ob das Obergericht die Sache selber entscheiden durfte oder sie hätte
ans Bezirksgericht zurückweisen müssen, selber aufgeworfen und damit zum Thema
des Nichtigkeitsbe-schwerdeverfahrens gemacht. Das Kassationsgericht ist
keineswegs in Willkür verfallen, indem es das Recht innerhalb dieses vom
Be-schwerdeführer durch Vorbringen eines Nichtigkeitsgrundes im Sinne von § 430
StPO bestimmten Prozessthemas nach dem in § 185 Abs. 1 StPO verankerten
Grundsatz "jura novit curia" von Amtes wegen anwandte. Die Rüge ist
unbegründet.

1.4 Der Beschwerdeführer macht geltend, auch im Strafprozessrecht gelte nach im
Kanton Zürich herrschender Praxis intertemporal die Regel der "lex mitior", was
bedeute, dass das für den Beschwerdeführer günstigere Recht angewandt werden
müsse. Dies sei in seinem Fall zweifellos das neue Recht, da nach diesem eine
Rückweisung seiner Sache an das Bezirksgericht hätte erfolgen müssen und er
dadurch eine Instanz gewonnen hätte.

Die in Art. 2 Abs. 2 StGB festgelegte Regel, wonach auf einen Täter, der seine
Tat unter altem Recht begangen hat, neues Recht anzuwenden ist, sofern dies für
ihn günstiger ist, gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nur für das
materielle Strafrecht, aber weder für das Strafprozess- noch das
Vollstreckungsrecht (BGE 114 IV 69 E. 4d S. 375 mit Hinweisen; Urteil des
Bundesgerichts 6B_365/2007 vom 9. Januar 2008, in: Pra. 2008 Nr. 82 S. 539 E. 2
und 3). Dass im Kanton Zürich eine abweichende, weitergehende Praxis bestünde,
ist weder nachgewiesen noch ersichtlich. Zwar ist bei der Ausgestaltung des
intertemporalen Verfahrensrechts dem Grundgedanken von Art 2 Abs. 2 StGB
Rechnung zu tragen, wie NIKLAUS SCHMID an der vom Beschwerdeführer angeführten
Literaturstelle (Strafprozessrecht, 4. A. Zürich 2004, N. 61 f.) unter Verweis
auf die Art. 389 f. StGB zutreffend ausführt. Dies kann indessen nur bedeuten,
dass die Übergangsbestimmungen nach Möglichkeit so auszugestalten sind, dass
der Täter, der unter der Herrschaft des alten Prozessrechts delinquiert hat,
verfahrensrechtlich insgesamt nicht schlechter gestellt wird, als wenn er seine
Tat unter dem neuem Recht begangen hätte. Da das alte und das neue Recht je in
sich stimmige Regelungen darstellen, ist nach der Rechtsprechung zu Art. 2 Abs.
2 StGB eine von ihnen anzuwenden, es ist unzulässig, im Sinne einer
Rosinenpickerei aus dem alten und dem neuen Recht die jeweils günstigeren
Bestimmungen auf einen Fall anzuwenden (BGE 119 IV 145 E. 2c ; 114 IV E. 2a S.
5; 81 E. 3b).

§ 3 Abs. 1 SchlBest, wonach Rechtsmittel nach altem Recht beurteilt werden,
wenn der Entscheid gegen den sie sich richten, vor dem Inkrafttreten des neuen
Rechts gefällt worden ist, lässt sich willkürfrei so verstehen, dass sich
"Entscheid" auf den erstinstanzlichen Strafentscheid des Bezirksgerichts
bezieht. Die Anwendung des alten Rechts ist denn auch folgerichtig, da nach § 3
Abs. 2 SchlBest die Nichtigkeitsbeschwerde gegen den Berufungsentscheid des
Obergerichts zulässig bleibt, was neurechtlich ausgeschlossen wäre. Das
Kassationsgericht ist daher keineswegs in Willkür verfallen, indem es den Fall
insgesamt nach altem Verfahrensrecht beurteilte. Ob dies für den
Beschwerdeführer ungünstig war, lässt sich übrigens keineswegs schlüssig
beantworten. Bei der Anwendung des neuen Rechts hätte das Obergericht die Sache
zwar zu neuem Entscheid ans Bezirksgericht zurückweisen müssen, anderseits wäre
die Nichtigkeitsbe-schwerde gegen den Berufungsentscheid des Obergericht nicht
mehr zulässig gewesen. Es lässt sich jedenfalls nicht sagen, der
Beschwerdeführer habe durch die Anwendung des alten Verfahrensrechts stossende
Rechtsnachteile erlitten. Die Rüge ist unbegründet.

2.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der
Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kassationsgericht des Kantons Zürich
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. März 2009

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Favre Störi