Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.882/2008
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2008
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_882/2008

Urteil vom 31. März 2009
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger, Ferrari, Mathys,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Peter Hübner,

gegen

Strafgericht des Kantons Zug, Aabachstrasse 3, 6300 Zug, Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ausstandsbegehren,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug, Justizkommission,
vom 22. September 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Anklageschrift vom 1. Mai 2008 beschuldigte die Staatsanwaltschaft des
Kantons Zug X.________ verschiedener Delikte, u.a. versuchter Anstiftung zu
Erpressung, Gewalt und Drohung gegen Beamte und einfacher Körperverletzung.
Am 9. Mai 2008 liess die Präsidentin des Strafgerichts des Kantons Zug die
Anklage zu, wies die Staatsanwaltschaft indessen an, sie zu ergänzen, da sie
X.________ Taten vorwerfe, die er teils vor, teils nach seiner Verurteilung
durch das Strafgericht Zug vom 11. September 2006 begangen haben soll, ohne
sich hinsichtlich der beantragten Sanktion zur retrospektiven Konkurrenz zu
äussern.
Am 13. Mai 2008 wurde dem Verteidiger von X.________ die Sitzungsliste mit der
Besetzung des Gerichts (A.________, B.________, C.________ und
Gerichtsschreiberin D.________) zugestellt.
Am 21. Mai 2008 ergänzte die Staatsanwaltschaft die Anklage vom 1. Mai 2008 und
beantragte, X.________ mit einer Zusatzstrafe zum Urteil des Strafgerichts vom
11. September 2006 zu bestrafen.
Der Verteidiger von X.________ nahm dazu am 23. Mai 2008 Stellung und
beantragte am 27. Mai 2008, C.________ habe wegen Vorbefassung in den Ausstand
zu treten, da sie im Verfahren, das zum Urteil vom 11. September 2006 geführt
habe, als Staatsanwältin die Anklage vertreten habe.
Am 28. Mai 2008 beschloss das Strafgericht in der für die Hauptverhandlung
vorgesehenen Besetzung, auf das Ausstandsgesuch wegen Verspätung nicht
einzutreten. Es eröffnete den Beschluss zu Beginn der Hauptverhandlung vom 29.
Mai 2008 mündlich und verurteilte X.________ zu 12 Monaten Freiheitsstrafe,
teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil vom 11. September 2006, und als
Zusatzstrafe zum Strafbefehl des Einzelrichteramts des Kantons Zug vom 23. März
2007, sowie mit einer Busse von 500 Franken. Es ordnete zudem eine ambulante
Behandlung an, entliess ihn aus der Sicherheitshaft und richtete ihm für
erstandene Überhaft eine Entschädigung von 5'000 Franken aus.
X.________ beschwerte sich gegen das Nichteintreten des Strafgerichts auf sein
Ausstandsgesuch bei der Justizkommission des Obergerichts. Diese wies die
Beschwerde am 22. September 2008 ab. Sie hob zwar den Nichteintretensbeschluss
des Strafgerichts als ungültig auf mit der Begründung, es hätte das
Ausstandsbegehren ohne Mitwirkung der betroffenen Richterin materiell
beurteilen müssen, wies indessen das Ausstandsbegehren gegen Strafrichterin
C.________ ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, dieses Urteil der
Justizkommission aufzuheben und festzustellen, dass gegen Strafrichterin
C.________ ein Ausstandsgrund bestanden habe, oder die Sache eventuell an die
Vorinstanz zu neuem Entscheid zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Das Strafgericht und das Obergericht beantragen in ihren Vernehmlassungen, die
Beschwerde abzuweisen.
Erwägungen:

1.
1.1 Nach § 41 Abs. 1 Ziff. 5 des Zuger Gesetzes über die Organisation der
Gerichtsbehörden vom 3. Oktober 1940 (GOG) kann ein Richter sein Amt nicht
ausüben und hat in den Ausstand zu treten, wenn er im Prozess als Richter
unterer Instanz, als Schiedsrichter, Zeuge, Sachverständiger, Beistand oder
Ratgeber bereits gehandelt hat oder noch zu handeln hat. Der Ankläger wird hier
zwar nicht aufgeführt. Es ist indessen sachgerecht und ohne weiteres
vertretbar, dass die Justizkommission die Aufzählung als beispielhaft und nicht
abschliessend auslegt und den Staatsanwalt unter die nach § 41 Abs. 1 Ziff. 5
GOG ausstandspflichtigen Personen einreiht. Nach klarem Gesetzeswortlaut hat
die von einem Ausstandsgrund nach § 41 GOG betroffene Person von sich aus in
den Ausstand zu treten, ohne dass die Verfahrenspartei dies verlangen müsste.
Im Gegensatz dazu müssen die Ablehnungs- und Ausstandsgründe nach § 42 GOG, wie
etwa das Bestehen von Abhängigkeiten oder Feindschaften zwischen einer Partei
und einer Justizperson, von der Partei geltend gemacht werden, wenn die
Justizperson nicht selber in den Ausstand tritt.

1.2 C.________ war am Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer, das zum Urteil
des Strafgerichts des Kantons Zug vom 11. September 2006 führte, als
Anklägerin, an jenem, welches zum Urteil des gleichen Gerichts vom 29. Mai 2008
führte, als Richterin beteiligt. Die Strafe der zweiten Verurteilung wurde nach
Art. 49 Abs. 2 StGB teilweise als Zusatzstrafe zur ersten Strafe ausgesprochen.
In einem solchen Fall sogenannter (teilweiser) retrospektiver Konkurrenz ist im
zweiten Urteil zunächst von einer hypothetische Gesamtstrafe für alle Delikte
auszugehen, von dieser ist die im ersten Urteil ausgesprochene sogenannte
Einsatzstrafe abzuziehen und die so gefundene Zusatzstrafe auszusprechen. Es
kann auf die insoweit zutreffenden Ausführungen der Justizkommision im
angefochtenen Entscheid (S. 9 E. 4.4) und die nach wie vor weitergeltende
(Entscheid des Bundesgerichts 6B_28/ 2008 vom 10. April 2008, E.3.3.2)
Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 68 Ziff. 2 aStGB (BGE 129 IV 113 mit
Hinweisen) verwiesen werden. Bei diesem System bleibt zwar die im ersten Urteil
ausgesprochene Einsatzstrafe bestehen. Die Strafzumessung bei der Festlegung
der hypothetischen Gesamtstrafe muss indessen insgesamt neu vorgenommen werden,
wobei einzelne Strafzumessungselemente gegebenenfalls anders zu werten sind als
im ersten Verfahren, etwa wenn sich die persönlichen Verhältnisse des
Angeklagten seit der ersten Verurteilung erheblich gewandelt haben (BGE 121 IV
97 E. 2d/cc S. 103). Die beiden Strafverfahren überschneiden sich in dem für
den Angeklagten zentralen Punkt der Strafzumessung. Es verhält sich ähnlich wie
in dem vom Bundesgericht in BGE 134 IV 289 beurteilten Fall, in welchem ein
Ankläger in einem zu einer Freiheitsstrafe führenden Strafverfahren die Anklage
vertrat und nachher Einsitz in die nach Art. 62d Abs. 2 StGB gebildete
Kommission nahm, welche über die bedingte Entlassung des Verurteilten zu
befinden hatte. Für das Bundesgericht war dieser Wechsel von der Rolle des
parteilichen Anklägers in diejenige des Richters geeignet, objektive Zweifel an
dessen Unparteilichkeit zu wecken (BGE a.a.O. E. 6.3). Derart eng
zusammenhängende Verfahren sind in Bezug auf den Ausstand als Einheit zu
betrachten, in denen ein solcher Rollenwechsel weder mit § 41 Abs. 1 Ziff. 5
GOG noch mit der verfassungsmässigen Garantie des unabhängigen Richters von
Art. 30 Abs. 1 BV vereinbar ist. C.________ hätte damit - und zwar nach § 41
Abs. 1 Ziff. 5 GOG von sich aus - in den Ausstand treten müssen.

1.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind Ablehnungs- und
Ausstandsgründe unverzüglich geltend zu machen; es geht nach Treu und Glauben
nicht an, sich auf das Verfahren einzulassen und sich bei ungünstigem Verlauf
im Nachhinein geltend zu machen, es habe ein befangener Richter mitgewirkt (BGE
134 I 20 E. 4.3.1; 132 II 485 E. 4.3; 124 I 121 E. 2). Die Justizkommission ist
der Auffassung, das Ausstandsbegehren des Beschwerdeführers sei verspätet und
damit rechtsmissbräuchlich.
Aus der Sitzungsliste vom 13. Mai 2008 ergibt sich, dass C.________ als
Richterin am Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer mitwirken würde, und aus
der Anklageergänzung vom 21. Mai 2008, dass die Staatsanwaltschaft eine
Zusatzstrafe zum Urteil vom 11. September 2006 beantragte, an dessen
Zustandekommen C.________ als Anklägerin mitgewirkt hatte. Die Justizkommission
hat zwar erwogen, mit Anklage vom 1. Mai 2008 würde dem Beschwerdeführer
vorgeworfen, sowohl vor als auch nach dem Urteil vom 11. September 2006
delinquiert zu haben, weshalb sich bereits daraus ergebe, dass dieses auch im
aktuellen Verfahren zu berücksichtigen sein würde. Dies trifft insoweit zu, als
sich aus der Anklage vom 1. Mai 2008 ebenso wie aus der Verfügung der
Strafgerichtspräsidentin vom 9. Mai 2008, mit welcher sie die
Staatsanwaltschaft zur Ergänzung der Anklage anwies, ergibt, dass die
Staatsanwaltschaft richtigerweise eine Zusatzstrafe zu diesem Urteil hätte
beantragen müssen. Fristauslösend für die Stellung von Ausstands- und
Ablehnungsgründen kann indessen nur die Zustellung der Anklageergänzung vom 21.
Mai 2008 sein, mit welcher die Staatsanwaltschaft effektiv eine Zusatzstrafe
beantragte. Erst damit stand fest, dass die Strafzumessung des ersten Urteils
neu beurteilt werden würde und dementsprechend zum Verfahrensgegenstand des
laufenden Verfahrens gehörte. Der Beschwerdeführer war nicht gehalten, sein
Ausstandsbegehren früher zu stellen, quasi präventiv für den Fall, dass die
Staatsanwaltschaft die Anklage in diesem Sinne ergänzen würde.
Damit ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bzw. sein Verteidiger mit
der Zustellung der Anklageergänzung den Ausstandsgrund erkannte bzw. hätte
erkennen können und müssen. Nach der unbestrittenen Darstellung im
angefochtenen Entscheid wurde die Anklageergänzung dem Verteidiger am 21. Mai
2008 per Fax und A-Post zugestellt. Da bei der Berechnung von Fristen der Tag
der Zustellung nicht gezählt wird (vgl. § 92 GOG), reichte der Beschwerdeführer
sein Ausstandsbegehren vom 27. Mai 2008 am 6. oder 7. Tag, bzw. am 3. oder 4.
Arbeitstag ein, je nachdem ob die Fax-Zustellung als fristauslösend gelten kann
oder nicht. Dieser Zeitbedarf erscheint so oder anders keineswegs übermässig.
Das Begehren kann daher nach Treu und Glauben nicht als verspätet abgetan
werden, zumal es - wenn auch knapp - vor der Hauptverhandlung beim Strafgericht
einging und die betroffene Richterin, die nach § 44 GOG verpflichtet gewesen
wäre, den Ausstandsgrund "rechtzeitig" selber zur Anzeige zu bringen, dies
nicht nur spät, sondern gar nicht tat. Die Justizkommision hat im angefochtenen
Entscheid das Ausstandsbegehren zu Unrecht abgewiesen. Die Rüge ist begründet.

2.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG), und der Kanton Zug hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und
2 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid der
Justizkommission des Obergerichts des Kantons Zug vom 22. September 2008
aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zug wird verpflichtet, RA Peter Hübner, für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zug,
Justizkommission, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 31. März 2009
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Favre Störi