Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.783/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_783/2008 /hum

Urteil vom 4. Dezember 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Mathys,
Gerichtsschreiber Thommen.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Bruno Häfliger,

gegen

A.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Suppiger,

Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Fahrlässige Körperverletzung,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer,
vom 1. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Urteil des Obergerichts vom 1. Juli 2008 wurde der Beschwerdegegner vom
Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung nach Art. 125 Abs. 1 StGB
freigesprochen. Auf die Zivilansprüche der Beschwerdeführerin wurde nicht
eingetreten.

B.
Gegen dieses Urteil erhebt die Beschwerdeführerin Beschwerde in Strafsachen.
Sie verlangt dessen Aufhebung, einen Schuldspruch sowie die grundsätzliche
Festlegung der Zivilansprüche. Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung.

C.
Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.

Erwägungen:

1.
Zur Erhebung der Beschwerde in Strafsachen ist unter anderem auch das Opfer
legitimiert, wenn es am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen hat und sich
der angefochtene Entscheid auf die Beurteilung seiner Zivilansprüche auswirken
kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Der Zivilpunkt kann in der Beschwerde
in Strafsachen (mit-)angefochten werden, sofern sowohl der Zivil- als auch der
Strafpunkt Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens waren (Art. 78 Abs. 2
lit. a BGG; BGE 133 III 701; vgl. Marc Thommen, Basler Kommentar BGG, Art. 78 N
22).

Die Beschwerdeführerin hat diverse Prellungen und Schürfungen im Gesicht und an
den Knien erlitten sowie eine schwere Stauchung der Halswirbelsäule, welche
nach eigenen Angaben verschiedene Behandlungen nach sich gezogen hat (vgl.
angefochtenes Urteil S. 2; Beschwerde S. 13). Damit hat sie mehr als nur
unerhebliche Beeinträchtigungen erlitten und kann somit als Opfer im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 OHG gelten (BGE 131 I 455 E. 1.2.2). Sie hat vor Vorinstanz am
Verfahren teilgenommen. Der Freispruch des Beschwerdegegners kann sich auf ihre
Zivilansprüche auswirken (Art. 53 Abs. 2 OR; BGE 119 IV 339, 344). Sie ist
somit zur Beschwerde im Strafpunkt legitimiert. Auch im Zivilpunkt ist sie zur
Beschwerde zuzulassen, da die Zivilansprüche Gegenstand des obergerichtlichen
Verfahrens waren.

2.
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).
Behauptete Mängel in der Sachverhaltsfeststellung prüft das Bundesgericht nur
insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und substantiiert
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 IV 286 E. 1). Diesen
Begründungsanforderungen genügen die tatsächlichen Bestreitungen der
Beschwerdeführerin (bezügl. Blick nach links; frühzeitige Erkennbarkeit der
Fahrradfahrerin, Verkehrsaufkommen etc.) nicht. In rein appellatorischer Kritik
schildert sie damit bloss ihre Wahrnehmung des Unfallgeschehens.

3.
Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung von Art. 31 Abs. 1 SVG, Art. 3
Abs. 1 VRV sowie Art. 12 StGB geltend.

3.1 Dem vorinstanzlichen Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Am
Mittwoch, 27. September 2006, um ca. 06.30h fuhr der Beschwerdegegner mit
seinem Personenwagen VW Golf in Dagmarsellen auf der Lindenzelgstrasse Richtung
Stationsstrasse. Als er nach links in die Stationsstrasse einbiegen wollte, kam
es zur Kollision mit der Beschwerdeführerin, welche von links auf ihrem Fahrrad
herannahte. Nach vorinstanzlicher Feststellung besteht auf der übersichtlichen
Kreuzung ein Rechtsvortrittsrecht, welches die Beschwerdeführerin missachtet
habe. Die Stationsstrasse weise gegenüber der Lindenzelgstrasse ein erhöhtes
Verkehrsaufkommen auf (vgl. angefochtenes Urteil S. 4).

3.2 Nach Art. 12 Abs. 3 StGB handelt fahrlässig, wer die Folge seines
Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht
Rücksicht nimmt. Zur Festlegung der Sorgfaltspflichten im Strassenverkehr ist
auf die einschlägigen Verkehrsregeln abzustellen (BGE 127 IV 34 E. 2). Auf
Strassenverzweigungen hat das von rechts kommende Fahrzeug den Vortritt (Art.
36 Abs. 2 SVG). Art. 31 Abs. 1 SVG bestimmt unter dem Titel 'Beherrschen des
Fahrzeuges', dass der Führer das Fahrzeug ständig so beherrschen muss, dass er
seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Art. 3 Abs. 1 VRV verpflichtet den
Fahrzeugführer, seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuzuwenden.

3.3 Nach ständiger Rechtsprechung entbindet der Rechtsvortritt nicht von der
Beachtung der übrigen Verkehrsregeln. Der Vortrittsberechtigte darf nicht in
blindem Vertrauen auf den Vortritt beliebig schnell in eine Strassenkreuzung
einfahren. Auch er hat aufmerksam zu sein und die Geschwindigkeit den gegebenen
Strassen- und Verkehrsverhältnissen anzupassen. Das Mass der Aufmerksamkeit,
das vom Fahrzeugführer verlangt wird, richtet sich nach den gesamten Umständen,
namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht
und den voraussehbaren Gefahrenquellen. Wenn er sein Augenmerk im Wesentlichen
auf bestimmte Stellen zu richten hat, kann ihm für andere eine geringere
Aufmerksamkeit zugebilligt werden (BGE 122 IV 225 E. 2; 103 IV 101 E. 2).

Zum Rechtsvortritt hielt das Bundesgericht fest, dass der Vortrittsberechtigte,
welcher sich einer Kreuzung nähert, seinerseits gehalten ist, einem
gleichzeitig von rechts kommenden Fahrzeug den Vortritt zu lassen. Damit er
dieser Pflicht nachkommen kann, hat er seine Aufmerksamkeit, ausser seiner
Fahrbahn, vor allem dem für ihn von rechts kommenden Verkehr zuzuwenden und
namentlich die Geschwindigkeit den diesbezüglichen Sichtverhältnissen
anzupassen. Dieser erhöhten Sorgfaltspflicht nach rechts entspricht eine
erheblich geringere nach links. Letzterer genügt der Vortrittsberechtigte im
Allgemeinen, wenn er sich durch einen raschen Blick nach links vergewissert, ob
er nicht durch besondere Verkehrsverhältnisse an der Ausübung des Vortrittes
gehindert werde (BGE 89 IV 98 E. 1 m.H.; vgl. auch Urteil 4C.242/1998 vom 2.
Oktober 1998, E. 3).

3.4 Der vorinstanzliche Freispruch verletzt kein Bundesrecht. In tatsächlicher
Hinsicht steht fest, dass der Beschwerdegegner sein Tempo bei der Zufahrt auf
die Strassenkreuzung verlangsamte. Ferner steht fest, dass er sich während des
Verlangsamens insbesondere auch zur linken Seite hin über die Verkehrssituation
vergewisserte (angefochtenes Urteil, S. 6). Damit ist er den vom
Strassenverkehrsgesetz und der diesbezüglichen Rechtsprechung an ihn gestellten
Vorsichtspflichten nachgekommen. Zumal er als Rechtsvortrittsberechtigter beim
Linksabbiegen seine Aufmerksamkeit nach dem Gesagten zur Hauptsache auf den von
rechts kommenden Verkehr zu konzentrieren hatte. Verlangte man von ihm eine
ebenso intensive Absicherung nach links, so würde sein Vortrittsrecht faktisch
aufgehoben (so zu Recht die Vorinstanz, S. 5). Der vortrittsberechtigte und
sich sorgfaltspflichtgemäss verhaltende Fahrzeugführer darf darauf vertrauen,
dass sein Vortrittsrecht respektiert wird. Nach der Rechtsprechung ist es
insbesondere unzulässig, rückblickend daraus auf eine Sorgfaltswidrigkeit zu
schliessen, dass bei optimalem Verhalten möglicherweise der Fehler eines
anderen Verkehrsteilnehmers früher hätte erkannt werden können (BGE 122 IV 225
2c m.H.a. Günter Stratenwerth, Grundfragen des Verkehrsstrafrechtes, BJM 1966,
S. 64 ff.).
Soweit die dagegen gerichteten Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht ohnehin
vom willkürfrei festgestellten Sachverhalt abweichen, vermögen sie nicht zu
überzeugen. Insbesondere folgt aus dem Übersehen der Fahrradfahrerin nicht
zwingend, dass sich der Beschwerdegegner nicht zur linken Seite hin
vergewisserte (Beschwerde S. 6 und 8). Mangels anderer Beweise ist die
Vorinstanz in dubio pro reo der Zusicherung des Beschwerdegegners gefolgt, auch
nach links geblickt zu haben. Diese Beweiswürdigung ist nicht willkürlich. Die
Ausführungen der Beschwerdeführerin sind im Übrigen widersprüchlich. Einerseits
soll das erhöhte Verkehrsaufkommen auf der Stationsstrasse die
Sorgfaltspflichten des Beschwerdegegners erhöhen (Beschwerde S. 5),
andererseits bestreitet die Beschwerdeführerin in tatsächlicher Hinsicht, dass
sich zum Unfallzeitpunkt andere vortrittsberechtigte Fahrzeuge im
Kreuzungsbereich befanden (Beschwerde S. 9 und 12). Die Beschwerdeführerin hat
den Beschwerdegegner nach eigenen Angaben frühzeitig erkannt und hätte ohne
Weiteres noch anhalten können. Trotzdem fuhr sie weiter, weil sie davon
ausging, "dass er schon noch anhalten werde" (angefochtenes Urteil S. 5 f).
Eine solche verkehrsregelwidrige Missachtung des Vortrittsrechts musste der
Beschwerdegegner nicht antizipieren. Damit braucht auch nicht mehr auf die
vorinstanzliche Eventualbegründung eingegangen zu werden, wonach der
Beschwerdegegner auch bei Erblicken der Fahrradfahrerin hätte zufahren dürfen
(Urteil S. 6; Beschwerde S. 10 f.).

4.
Zusammenfassend ist der vorinstanzliche Freispruch bundesrechtlich nicht zu
beanstanden. Damit erübrigt sich auch eine abweichende Entscheidung im
Zivilpunkt. Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Der
Antrag um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist infolge
Aussichtslosigkeit der Begehren abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Der
Bedürftigkeit der Beschwerdeführerin ist bei der Festsetzung der Gerichtskosten
Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Begehren um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, II.
Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. Dezember 2008

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Thommen