Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.744/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_744/2008/sst

Urteil vom 23. Januar 2009
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Ferrari,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Bruno Meier,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus,
5001 Aarau, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Erschleichung einer falschen Beurkundung (Art. 253 StGB),

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht,
2. Kammer, vom 23. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksamt Zofingen verurteilte X.________ mit Strafbefehl vom 17. Mai 2005
wegen Erschleichung einer falschen Beurkundung im Sinne von Art. 253 StGB zu 7
Tagen Gefängnis. Es hielt für erwiesen, dass er am 19. Juli 2004 auf dem
Bezirksposten Zofingen der Kantonspolizei Aargau den Verlust seines Reisepasses
zu Protokoll gab und gleichentags bei seiner Wohnsitzgemeinde Walterswil einen
neuen Reisepass beantragte, obwohl sich sein Reisepass aufgrund einer gültigen
Pass- und Schriftensperre bei den Akten des Strafgerichts Zug befand.
X.________ erhob Einsprache gegen den Strafbefehl, worauf die
Staatsanwaltschaft mit Anklageverfügung vom 17. Juni 2005 dem Bezirksgericht
Zofingen beantragte, X.________ gemäss Strafbefehl zu verurteilen.
Am 9. Januar 2006 lud der Gerichtspräsident von Zofingen X.________ zur
Hauptverhandlung vom 3. März 2006 vor.
Am 20. Februar 2006 beantragte die Staatsanwaltschaft mit Zusatz-Anklage,
X.________ wegen Verstosses gegen Art. 23 Abs. 5 ANAG zu verurteilen, da er am
13. Dezember 2005 als Geschäftsführer der Salons "A.________" in Safenwil und
"B.________" in Oftringen Ausländerinnen ohne gültige Arbeitsbewilligungen als
Prostituierte beschäftigt habe.
Zur Hauptverhandlung vom 3. März 2006 erschien X.________ nicht. Gleichentags
lud ihn der Präsident des Bezirksgerichts Zofingen erneut zur Hauptverhandlung
auf den 8. Mai 2006 vor und forderte ihn auf, innert 10 Tagen die Gründe für
sein unentschuldigtes Nichterscheinen zu nennen und zu belegen. Am 27. April
2006 teilte ihm der Gerichtspräsident zudem mit, bei Nichterscheinen werde auf
Grund der Akten entschieden.

B.
Am 8. Mai 2006 sprach der Bezirksgerichtspräsident von Zofingen X.________ von
der Anklage der Erschleichung einer falschen Beurkundung sowie im Fall
"B.________" von der Zusatzanklage frei, verurteilte ihn indessen im Fall
"A.________" wegen Beschäftigens einer Ausländerin ohne Bewilligung im Sinne
von Art. 23 Abs. 4 i.V.m. Art. 3 Abs. 3 ANAG zu 7 Tagen Haft und 500 Franken
Busse.
X.________ erhob gegen seine Verurteilung Berufung und beantragte sinngemäss,
ihn vollumfänglich freizusprechen. Die Staatsanwaltschaft erhob
Anschlussberufung. Sie beantragte, die Berufung abzuweisen, X zusätzlich wegen
Verstosses gegen Art. 23 Abs. 5 ANAG zu verurteilen und ihn mit einer
unbedingten Geldstrafe von 14 Tagessätzen à 150 Franken sowie einer Busse von
500 Franken zu bestrafen.
Das Obergericht des Kantons Aargau hob das bezirksgerichtliche Urteil am 23.
Juli 2008 in Gutheissung der Berufung von X.________ und von Amtes wegen auf.
Es stellte fest, der Strafbefehl des Bezirksamtes Zofingen vom 17. Mai 2005 sei
in Rechtskraft erwachsen und gelte als Urteil (Dispositiv-Ziffer 1.1.1). Es
schrieb das Verfahren betreffend Erschleichung einer falschen Beurkundung als
erledigt von der Geschäftskontrolle ab (Dispositiv-Ziffer 1.1.2). Von der
Zusatzanklage betreffend die ANAG-Delikte sprach es ihn frei (Dispositiv-Ziffer
1.2) und auferlegte ihm einen Teil der bezirksgerichtlichen Gerichtskosten
(Dispositiv-Ziffer 1.3). Die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft wies es
ab (Dispositiv-Ziffer 2). Es nahm die obergerichtlichen Verfahrenskosten auf
die Staatskasse (Dispositiv-Ziffer 3) und sprach X.________ eine Entschädigung
zu (Dispositiv-Ziffer 4).

C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, die Dispositiv-Ziffern
1.1.1 und 1.1.2 sowie 1.3 aufzuheben, sodass es in Bezug auf die Anklage wegen
Erschleichung einer falschen Beurkundung beim Freispruch bleibe. Ausserdem
seien die Kosten des bezirksgerichtlichen Verfahrens vollumfänglich auf die
Staatskasse zu nehmen, und es sei ihm dafür eine angemessene
Parteientschädigung zu Lasten des Kantons Aargau zuzusprechen.
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht verzichten auf Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.
Umstritten ist vorliegend einzig die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen
Erschleichung einer falschen Beurkundung. Der Beschwerdeführer macht geltend,
der Freispruch des Bezirksgerichtspräsidenten in diesem Punkt sei keineswegs
nichtig, sondern mangels Anfechtung durch die Staatsanwaltschaft in Rechtskraft
erwachsen.

1.1 Fehlerhafte Entscheide sind nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung
nichtig, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn er
offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die
Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet
wird. Inhaltliche Mängel einer Entscheidung führen nur ausnahmsweise zur
Nichtigkeit. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab funktionelle und sachliche
Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in
Betracht. Die Nichtigkeit eines Entscheids ist von sämtlichen rechtsanwendenden
Behörden jederzeit von Amtes wegen zu beachten (BGE 133 II 366 E. 3.1 und 3.2;
129 I 361 E. 2 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).

1.2 Nach § 198 Abs. 3 der Strafprozessordnung vom 11. November 1958 (StPO) gilt
die Einsprache gegen einen Strafbefehl als zurückgezogen, wenn der Angeklagte
unentschuldigt nicht zur Hauptverhandlung erscheint. Das Obergericht hat
erwogen, der Beschwerdeführer sei zur bezirksgerichtlichen Hauptverhandlung vom
3. März 2006 unentschuldigt nicht erschienen, weshalb seine Einsprache gegen
den Strafbefehl vom 17. Mai 2005 von Gesetzes wegen als zurückgezogen gelte.
Ohne hängige Einsprache sei der Bezirksgerichtspräsident für die materielle
Überprüfung des Strafbefehls nicht zuständig gewesen, womit sein Entscheid
nichtig sei.
Die Regelung von § 198 Abs. 3 ist verfassungs- und konventionsrechtlich nicht
zu beanstanden (Entscheid des Bundesgerichts 1P.729/ 2005 vom 17. Februar 2006,
E. 2.2). Obwohl der Beschwerdeführer in der Vorladung in unübersehbarem
Fettdruck ausdrücklich darauf hingewiesen worden war, erschien er zur
Hauptverhandlung vom 3. März 2006 nicht, ohne sich vorgängig entschuldigt oder
um deren Verschiebung ersucht zu haben. Die ihm mit Verfügung vom 3. März 2006
für den Nachweis angesetzte 10-tägige Frist, sie aus entschuldbaren Gründen
versäumt zu haben, liess er ungenutzt verstreichen. An der Hauptverhandlung vom
8. Mai 2006 zu dieser Säumnis befragt, erklärte der Beschwerdeführer: "Das ist
irgendwie untergegangen. Es tut mir leid, das ist nicht meine Art."
Das Obergericht ist im angefochtenen Entscheid offensichtlich zu Recht davon
ausgegangen, dass der Beschwerdeführer die Hauptverhandlung vom 3. März 2006
unentschuldigt verpasst hat. Damit gilt die Einsprache nach § 198 Abs. 3 StPO
von Gesetzes wegen als spätestens nach Ablauf der 10-tägigen Frist für das
Beibringen von beachtlichen Verhinderungsgründen und damit jedenfalls vor der
zweiten Hauptverhandlung vom 8. Mai 2006 als zurückgezogen. Zu diesem Zeitpunkt
war somit keine Einsprache mehr hängig, womit der Gerichtspräsident von
Zofingen nicht befugt war, den Strafbefehl vom 17. Mai 2005 zu überprüfen.
Fraglich kann nur sein, ob dies seinen Entscheid als nichtig erscheinen lässt,
wie das Obergericht annimmt.

1.3 Der Bezirksgerichtspräsident von Zofingen war sachlich, örtlich und
funktionell zur Behandlung der Einsprache des Beschwerdeführers gegen den
Strafbefehl zuständig. Er hat "bloss" übersehen, dass im Zeitpunkt seiner
Entscheidung die Einsprache nicht mehr hängig war. Er hat damit zwar einen
Verfahrensfehler begangen, aber keine grundlegende Zuständigkeitsvorschrift
verletzt, was ohne weiteres zur Annahme von Nichtigkeit führen würde. Der
Fehler ist zudem aus dem Entscheid vom 8. Mai 2006 selber, der keine Erwägungen
zum Verfahren enthält, nicht ersichtlich. Das Erkennen des Fehlers setzt
vielmehr das Studium der Verfahrensakten voraus. Er ist somit weder
offensichtlich noch leicht erkennbar. Im Bereich des Strafrechts ist zudem die
Rechtssicherheit von besonderer Bedeutung. Es geht unter diesem Gesichtspunkt
nicht an, allenfalls noch nach Jahren ein unangefochten gebliebenes und in
formelle Rechtskraft erwachsenes Strafurteil nichtig zu erklären, dessen
fehlerhaftes Zustandekommen ohne Aktenkenntnis nicht erkennbar ist. Das
Obergericht hat den umstrittenen Freispruch zu Unrecht nichtig erklärt und ihm
damit jede Rechtswirksamkeit abgesprochen. Die Rüge ist begründet.

2.
Damit ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben, soweit er den Beschwerdeführer belastet, ohne dass die weiteren
Rügen geprüft zu werden brauchen. Insbesondere kann offen bleiben, ob das
Obergericht es unterlassen hat, seinen Entscheid in verfassungskonformer Weise
zu publizieren (BGE 124 IV 234 mit Hinweisen; Urteil des Bundesgerichts 1P.298
vom 1. September 2006, E. 2.2 in: ZBl 108/2007 S. 444), wie der
Beschwerdeführer behauptet. Dies lässt sich anhand der Akten nicht beurteilen,
und das Obergericht hat sich dazu in der Vernehmlassung trotz
bundesgerichtlicher Aufforderung nicht geäussert. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens wird das Obergericht über die Kosten- und Entschädigungsfolgen des
bezirksgerichtlichen Verfahrens neu zu befinden haben.
Für das bundesgerichtliche Verfahren sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs.
4 BGG), und der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine angemessene
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Dispositiv-Ziffern 1.1.1, 1.1.2 und 1.3
des obergerichtlichen Urteils vom 23. Juli 2008 aufgehoben und die Sache an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau wird verpflichtet, Rechtsanwalt Bruno Meier für das
bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 23. Januar 2009
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Favre Störi