Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.692/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_692/2008 /hum

Urteil vom 28. November 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Ferrari, Zünd,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Fredy Fässler,

gegen

A.________,
Beschwerdegegner,
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Schützengasse 1, 9001 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Nichteröffnung eines Strafverfahrens,

Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 9.
Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
X.________ verursachte am frühen Morgen des 7. März 2008 in stark
alkoholisiertem Zustand einen Selbstunfall. Sie kam mit ihrem "Mini Cooper" in
St. Margrethen von der Hauptstrasse ab, rammte einen Blumentrog aus Beton und
kam auf der angrenzenden Wiese zum Stehen. Über die kantonale Notrufzentrale
alarmiert, traf um 01:50 Uhr eine Polizeipatrouille am Unfallort ein, kurze
Zeit danach eine zweite. X.________ wurde in der Folge gegen ihren Willen ins
Spital Rohrschach überführt, um ihr eine Blutprobe zu entnehmen.

Mit "Strafklage/Strafantrag" vom 5. Juni 2008 wegen Tätlichkeiten, einfacher
Körperverletzung und Amtsmissbrauchs beantragte X.________ der
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, gegen den Gefreiten X.________ ein
Strafverfahren zu eröffnen. Sie machte geltend, dieser habe nach dem Unfall
unnötige und unverhältnismässige Gewalt gegen sie angewendet, wodurch sie
verschiedene Verletzungen erlitten habe und in einen psychischen
Ausnahmezustand geraten sei, von dem sie sich bis heute nicht erholt habe.

B.
Die Anklagekammer entschied am 9. Juli 2008, gegen A.________ kein
Strafverfahren zu eröffnen. Sie erwog, die Polizeibeamten hätten pflicht- und
gesetzeskonform gehandelt, als sie die offensichtlich angetrunkene X.________
gegen ihren Willen zur Blutentnahme abgeführt hätten, nachdem ein Atemlufttest
wegen ihres Asthmas nicht durchführbar war und der zuständige
Untersuchungsrichter eine solche angeordnet hatte. Das Anlegen der Handschellen
sei angesichts ihres sehr aggressiven Verhaltens nicht zu beanstanden.
Insgesamt lägen keine konkreten Anhaltspunkte vor, dass die Polizeibeamten -
namentlich A.________ - unverhältnismässige Gewalt angewendet hätten. Vielmehr
habe sie sich durch ihr offensichtlich renitentes Verhalten den gegen sie
angewandten Zwang selber zuzuschreiben. Selbst wenn A.________ sie "fest am
Genick" gehalten habe, um weiteren Spuckattacken zu entgehen, liege darin
angesichts ihrer Renitenz keine unzulässige übermässige Gewaltanwendung.
Solches lasse sich auch aus den Berichten der Notfallärztin des Spitals Grabs,
von Dr. D.________ und den Fotografien von Prellungen am Unterschenkel, einem
Finger und am Oberarm, nicht ableiten: Diese Verletzungsbilder seien mit einem
verhältnismässigen Polizeieinsatz vereinbar. Auch wenn sie aufgrund einer
früheren Verletzung am Genick erhöht schmerzempfindlich gewesen sei, bestünden
keine Anhaltspunkte dafür, dass dies den Beamten bekannt gewesen sei und sie
den Griff benutzt hätten, ihr Schmerzen zuzufügen. A.________ bestreite
vehement, ihr gegen das Schienbein getreten und dadurch eine tiefe Schürfwunde
verursacht zu haben. Es stehe Aussage gegen Aussage. Aus den Polizeirapporten
ergebe sich, dass sie mit den Beinen wild um sich geschlagen habe, womit nicht
ausgeschlossen werden könne, dass sie sich mit ihrem unkontrollierten Verhalten
ungewollt an einem Gegenstand - zum Beispiel der Fahrzeugtüre - selber verletzt
haben könnte. Es lägen daher keine konkreten Anhaltspunkte für ein strafbares
Verhalten von A.________ vor, weshalb kein Strafverfahren zu eröffnen sei.

C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen Entscheid der
Anklagekammer aufzuheben und die Sache zur Eröffnung eines Strafverfahrens an
die Vorinstanz zurückzuweisen. Sie ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, aufgrund der vorhandenen Indizien könne
ein strafbares Verhalten des Beschwerdegegners nicht ausgeschlossen werden. Es
hätte daher nach dem Grundsatz "im Zweifel für die Eröffnung" ein Verfahren
eröffnet werden müssen, der angefochtene Nichteintretensentscheid beruhe auf
einer willkürlichen Anwendung des kantonalen Verfahrensrechts. Ihre
Anschuldigungen seien zudem keineswegs von vornherein unglaubhaft sondern
vielmehr vertretbar, weshalb sie nach Art. 3 EMRK einen Anspruch auf deren
wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung habe.

1.1 Nach Art. 173 Abs. 1 des St. Galler Strafprozessgesetzes vom 1. Juli 1999
(StP) ist ein Strafverfahren zu eröffnen, wenn hinreichende Indizien für eine
strafbare Handlung vorliegen. Soll diese von einem Polizeibeamten im Rahmen
seiner Amtsführung begangen worden sein, so befindet die Anklagekammer über die
Eröffnung des Strafverfahrens (Art. 16 Abs. 2 lit. b StP). Der angefochtene
Entscheid, mit dem die Anklagekammer wegen fehlenden Anfangsverdachts keine
Strafuntersuchung eröffnete, ist ein kantonaler Endentscheid in Strafsachen,
gegen den die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist.

1.2 Nach konstanter Rechtsprechung hat die Beschwerdeführerin als Geschädigte
kein rechtlich geschütztes Interesse, die Nichteröffnung eines Strafverfahrens
in der Sache anzufechten, da der Strafanspruch dem Staat zusteht. Als
(angebliches) Opfer einer polizeilichen Misshandlung käme ihr zwar
Opferstellung im Sinn von Art. 2 Abs. 2 OHG zu, was aber ihre prozessuale
Situation nicht verbessert, da der Kanton St. Gallen nach Art. 1 Abs. 1 und 3
seines Verantwortlichkeitsgesetzes vom 7. Dezember 1959 für den Schaden, den
ein Polizeibeamter widerrechtlich Dritten zufügt, selber haftet und
Zivilansprüche gegen den ins Recht gefassten Beamten ausschliesst (BGE 131 I
455 E. 1.2.1-1.2.4). Trotz fehlender Legitimation in der Sache kann die
Beschwerdeführerin indessen in jedem Fall die Verletzung von Parteirechten
rügen, deren Missachtung auf eine formelle Rechtsverweigerung hinausläuft
("Star-Praxis"; BGE 133 I 185 E. 6.2 S. 198).

1.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 3 EMRK i.V.m. Art. 13
EMRK sowie zu Art. 10 Abs. 3 BV hat, wer in vertretbarer Weise behauptet, von
einem Polizeibeamten in erniedrigender Weise misshandelt worden zu sein, einen
verfassungs- und konventionsrechtlichen Anspruch darauf, dass dieser Vorwurf in
einer vertieften amtlichen Untersuchung abgeklärt wird (BGE 131 I 455 E. 1.2.5,
1.2.6). Die Beschwerdeführerin behauptet, der Beschwerdegegner habe ihr während
und insbesondere nach ihrer Fesselung unnötig Gewalt angetan und ihr Schmerzen
zugefügt. Nach der Rechtsprechung verletzt polizeiliche Gewalt gegen eine
Gefesselte, soweit sie nicht aufgrund ihres (renitenten) Verhaltens
unumgänglich ist, die menschliche Würde und damit Art. 3 EMRK (BGE a.a.O. E.
1.2.6). Die Beschwerdeführerin ist befugt, die Verletzung dieses Anspruchs zu
rügen.

Eine "in vertretbarer Weise" vorgebrachte und damit jedenfalls nicht von
vornherein unglaubhafte Behauptung, ein Polizeibeamter habe strafbare
Handlungen begangen, begründet indessen auch den nach strafprozessualen
Grundsätzen die Eröffnung einer Strafuntersuchung erheischenden
Anfangsverdacht. Insofern deckt sich die Rüge, der angefochtene Entscheid
verletze das Folterverbot mit derjenigen, das kantonale Verfahrensrecht sei
willkürlich angewandt worden. Da Erstere zu einer freien - auch materiellen -
Überprüfung des angefochtenen Entscheids führt, verbleibt für Letztere, zu der
die Beschwerdeführerin nur sehr beschränkt legitimiert ist (oben E. 1.2), kein
Raum.

2.
Die Beschwerdeführerin war zur Zeit des Unfalls nicht bloss angetrunken,
sondern mit einem Blutalkoholgehalt von 2,25 Promillen erheblich betrunken. Sie
hat denn auch eine dafür typische Erinnerungslücke und weiss nicht mehr, wie
sie den Abend vor dem Unfall verbracht hat, wo und wie sie den in ihrem Blut
festgestellten Alkohol zu sich genommen hat. Beim Eintreffen der Polizei war
sie nach eigenen Angaben kurz zuvor aus der Bewusstlosigkeit erwacht, war
verwirrt und stand unter Schock. Dies wird von den Polizeibeamten bestätigt,
die sie als ansprechbar, aber als "stark durcheinander" beschrieben. Dies
entspricht dem im Polizeirapport geschilderten Verhalten der
Beschwerdeführerin, wonach sie auf Anfrage erklärte, den Unfall unverletzt
überstanden zu haben und den Beamten auf deren Aufforderung hin Fahrzeug- und
Führerausweis aushändigte, diese indessen anschliessend beschuldigte, ihren
Hund vertrieben und ihre Handtasche sowie ihr Mobiltelefon gestohlen zu haben,
obwohl der Hund neben ihr stand und sie die fraglichen Effekten bei sich hatte.
Es erscheint ohne weiteres plausibel, dass die Beschwerdeführerin in diesem
getrübten Geisteszustand die Wirklichkeit nicht adäquat wahrnahm und die
wiederholten Aufforderungen der Beamten, aus dem Fahrzeug zu steigen und mit
ihnen für die Blutentnahme ins Spital zu kommen, nicht verstand bzw. nicht
verstehen konnte oder wollte, und den Zugriff des Beschwerdegegners, der sie
schliesslich aus dem Auto zog, als ungerechtfertigten, gewalttätigen Angriff
empfand, den sie durch Schimpfen, Spucken und Treten abzuwehren versuchte. Der
Beschwerdegegner war in dieser Situation jedenfalls befugt, sich zu schützen
und die Beschwerdeführerin am Arm und am Kragen bzw. am Genick festzuhalten, um
ihre Angriffe abzuwehren. Dass diese aufgrund vorbestehender Verletzungen am
Genick besonders schmerzempfindlich war, konnte der Beamte nicht wissen,
erklärt aber, dass sie durch diesen Zugriff noch weiter ausser sich geriet und
sich zunehmend unkontrolliert verhielt. Dass sie sich bei dieser Aktion ein
Hämatom am linken Oberarm, Schwellungen am linken Handgelenk und über dem
Mittelfinger sowie eine Schürfwunde am Schienbein zuzog, ist daher, wie die
Anklagekammer zu Recht feststellte, mit diesem durch die Amtspflicht gedeckten
Ablauf ihrer Abführung ohne weiteres vereinbar. Die festgestellten Verletzungen
deuten keineswegs daraufhin, dass vom Beschwerdegegner rechtswidrig weitere,
überflüssige Gewalt angewendet worden wäre.

Zusammenfassend ergibt sich, dass die polizeiliche Darstellung des Vorfalls,
wonach die gewaltsame Überführung der Beschwerdeführerin in den
Patrouillenwagen ohne unnötige Härten durchgeführt wurde, plausibel und
kohärent erscheint. Die Wahrnehmung der Beschwerdeführerin war in dieser Zeit
vorab alkohol-, möglicherweise auch unfallbedingt, stark getrübt. Ihre Aussagen
zu diesem Vorfall sind dementsprechend mit grosser Zurückhaltung zu würdigen,
weshalb es die Anklagekammer zu Recht als ausgeschlossen erachtet, dass mit
ihnen der Nachweis eines strafbaren Verhaltens des Beschwerdegegners zu führen
wäre. Es ist unter diesen Umständen verfassungs- und konventionsrechtlich nicht
zu beanstanden, dass die Anklagekammer keine Strafuntersuchung eröffnete, die
Rüge ist unbegründet.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt die Beschwerdeführerin die Kosten (Art.
66 Abs. 1 BGG). Sie hat zwar ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung gestellt, welches indessen abzuweisen ist, da die Beschwerde
aussichtslos war (Art. 64 Abs.1 BGG)

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 28. November 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Störi