Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.672/2008
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2008
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_672/2008/sst

Urteil vom 16. Januar 2009
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger, Ferrari, Mathys,
Gerichtsschreiberin Binz.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gion Aeppli,
gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, Herrenacker 26, 8201 Schaffhausen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Grobe Verletzung von Verkehrsregeln,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 11.
Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
X.________ lenkte am 2. Februar 2006 um ca. 07.40 Uhr auf der
Schaffhauserstrasse in Beringen einen Personenwagen. Anlässlich einer
polizeilichen Kontrolle wurde festgestellt, dass die Frontscheibe des Wagens
komplett von Eis überzogen und lediglich auf Augenhöhe ein Guckloch von etwa 15
mal 25 cm Grösse freigekratzt war. Die Seitenscheiben waren vollständig mit Eis
überdeckt, so dass eine ungehinderte Sicht auf Fahrbahn und Verkehrsgeschehen
nicht möglich war.

B.
Der Einzelrichter des Kantonsgerichts Schaffhausen sprach X.________ mit Urteil
vom 12. September 2006 des Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs
schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 300.--. Die von der
Staatsanwaltschaft dagegen erhobene Berufung hiess das Obergericht des Kantons
Schaffhausen mit Urteil vom 11. Juli 2008 gut. Es sprach X.________ der groben
Verletzung von Verkehrsregeln schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten
Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu Fr. 100.-- sowie zu einer Busse von Fr.
400.--.

C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, das Urteil des Obergerichts
des Kantons Schaffhausen sei aufzuheben, und er sei vom Vorwurf der groben
Verkehrsregelverletzung freizusprechen. Er sei der einfachen
Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 29 SVG in Verbindung mit Art. 93
Ziff. 2 Abs. 1 SVG schuldig zu sprechen und mit einer Busse von Fr. 300.-- zu
bestrafen.
Erwägungen:

1.
Die Beschwerde richtet sich gegen die Qualifizierung des unbestrittenen
Tatgeschehens als grobe Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 90 Ziff. 2 SVG)
sowie gegen den Vorrang dieser Bestimmung gegenüber Art. 93 Ziff. 2 Abs. 1 SVG.

1.1 Nach Art. 90 Ziff. 2 SVG wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder
Geldstrafe bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine
ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt. Der
Tatbestand ist nach der Rechtsprechung objektiv erfüllt, wenn der Täter eine
wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die
Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet. Eine ernstliche Gefahr für die
Sicherheit anderer ist nicht erst bei einer konkreten, sondern bereits bei
einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Ob eine konkrete, eine erhöhte
abstrakte oder nur eine abstrakte Gefahr geschaffen wird, hängt von der
Situation ab, in welcher die Verkehrsregelverletzung begangen wird.
Wesentliches Kriterium für die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefahr ist die
Nähe der Verwirklichung. Die allgemeine Möglichkeit der Verwirklichung einer
Gefahr genügt demnach nur zur Erfüllung des Tatbestands von Art. 90 Ziff. 2
SVG, wenn in Anbetracht der Umstände der Eintritt einer konkreten Gefährdung
oder gar einer Verletzung nahe liegt. Subjektiv erfordert der Tatbestand von
Art. 90 Ziff. 2 SVG nach der Rechtsprechung ein rücksichtsloses oder sonst
schwerwiegend verkehrswidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei
fahrlässigem Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit (BGE 131 IV 133 E. 3.2 S.
136 mit Hinweisen).

1.2 Die Vorinstanz führt aus, der Beschwerdeführer habe mit dem Führen eines
Fahrzeuges, bei welchem die Frontscheibe bis auf ein freigekratztes Guckloch
und die Seitenscheiben ganz vereist waren, ein nicht betriebssicheres Fahrzeug
geführt und damit Art. 29 SVG i.V.m. Art. 57 Abs. 2 der
Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11) verletzt.
Umstritten sei, ob diese Verkehrsregelverletzung den Tatbestand von Art. 90
Ziff. 2 SVG oder von Art. 93 Ziff. 2 SVG erfülle. Der Beschwerdeführer habe
Art. 29 SVG als grundlegende Vorschrift im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG
verletzt, sei doch ein betriebssicheres Fahrzeug für die Verkehrssicherheit
elementar. Durch die vereiste Frontscheibe sei die Sicht auf die Fahrbahn stark
behindert gewesen. Zudem sei es zum Tatzeitpunkt noch dunkel gewesen. Der
Beschwerdeführer sei deshalb weder nach vorne noch auf die Seite hin in der
Lage gewesen, den Verkehrs- und Strassenverhältnissen die erforderliche
Aufmerksamkeit zu schenken. Die abstrakte Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer
sei umso schwerer einzustufen, als auf der Schaffhauserstrasse als Haupt- und
Durchgangsstrasse der Gemeinde frühmorgendlicher Berufsverkehr herrschte und
auch Fussgänger unterwegs waren. Die Strasse stelle in diesem Bereich mit
vielen Einfahrtsstrassen und einer Haarnadelkurve erhöhte Anforderungen an die
Aufmerksamkeit der Fahrzeugführer. Der Beschwerdeführer habe mit dem Führen
eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges eine erhöhte abstrakte Gefährdung im
Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG geschaffen. Er habe aufgrund der vereisten Front-
und Seitenscheiben um die mangelnde Sicht auf die Fahrbahn gewusst und damit
auch den subjektiven Tatbestand erfüllt. Art. 93 Ziff. 2 SVG gehe als
Sonderbestimmung Art. 90 Ziff. 1 SVG vor, wenn das Unrecht lediglich darin
bestehe, ein nicht den Vorschriften entsprechendes Fahrzeug zu lenken. Habe der
Täter aber durch den Gebrauch eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges in
grobfahrlässiger Weise eine erhöhte abstrakte Gefahr für andere
Verkehrsteilnehmer geschaffen, gehe Art. 90 Ziff. 2 SVG vor (angefochtenes
Urteil E. 3b und c S. 5 ff.).

1.3 Der Beschwerdeführer bringt zur Konkurrenz zwischen Art. 93 Ziff. 2 SVG und
Art. 90 SVG vor, falls eine besondere Strafbestimmung für die Verletzung einer
bestimmten Verkehrsregel bestehe, gelange diese als lex specialis zur
Anwendung. Idealkonkurrenz zwischen Art. 93 Ziff. 2 SVG und Art. 90 SVG sei nur
möglich, wenn durch den Gebrauch eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs ein
Verstoss gegen andere Verkehrsregeln begangen werde. Dies gebe sich auch aus
der Systematik des SVG. Art. 29 SVG befinde sich unter dem 3. Titel
"Verkehrsregeln", Art. 90 SVG sei unter dem 5. Titel "Verletzung der
Verkehrsregeln" aufgeführt. Hätte der Gesetzgeber den (ausschliesslichen)
Verstoss gegen Art. 29 SVG nach Art. 90 SVG sanktionieren wollen, hätte er
nicht speziell die Sonderbestimmung von Art. 93 Ziff. 2 SVG vorsehen müssen.

1.4 Wer ein nicht betriebssicheres Fahrzeug (Art. 29 SVG) führt, wird nach Art.
93 Ziff. 2 SVG bestraft, welche Bestimmung als lex specialis Art. 90 Ziff. 1
SVG vorgeht (vgl. BGE 92 IV 143 E. I. S. 144). Innerhalb von Art. 90 SVG hat
Ziffer 2 als qualifizierte Bestimmung gegenüber Ziffer 1 Vorrang. Art. 90 Ziff.
2 SVG geht deshalb auch Art. 93 Ziff. 2 SVG vor, wenn der Täter durch den
Gebrauch eines nicht den Vorschriften entsprechenden Fahrzeugs in
grobfahrlässiger Weise eine erhöht abstrakte Gefahr für andere
Verkehrsteilnehmer geschaffen hat (vgl. Hans Maurer, in: Kommentar
Schweizerisches Strafgesetzbuch, 17. Aufl. 2006, Art. 93 SVG S. 465).
Andernfalls würde es sich trotz Vorliegens einer erhöht abstrakten Gefährdung
um eine Übertretung anstelle eines Vergehens handeln. Dies wäre unter dem
Gesichtspunkt der "Sperrwirkung des milderen Gesetzes" problematisch (vgl. BGE
134 IV 82 E. 8.3 S. 95 f.). Dennoch bejaht die Literatur mehrheitlich den
Vorrang von Art. 93 Ziff. 2 SVG, ohne jedoch dabei zwischen Art. 90 Ziff. 1 und
2 SVG zu unterscheiden (Hans Giger, Kommentar Strassenverkehrsgesetz, 7. Aufl.
2008, N. 14 zu Art. 93; Yvan Jeanneret, Les dispositions pénales de la Loi sur
la circulation routière, 2007, N. 103 zu Art. 93; Bussy/Rusconi, Code Suisse de
la circulation routière, 3. Aufl. 1996, Art. 93). Auch BGE 92 IV 143 (E. I.)
bezieht sich nur auf die Konkurrenz zu Art. 90 Ziff. 1 SVG.
Idealkonkurrenz zwischen Art. 90 Ziff. 1 und Ziff. 2 SVG einerseits und Art. 93
Ziff. 2 SVG andererseits ist nur möglich, wenn durch den Gebrauch eines nicht
betriebssicheren Fahrzeugs ein Verstoss gegen andere Verkehrsregeln begangen
wird (Hans Giger, Kommentar Strassenverkehrsgesetz, 7. Aufl. 2008, N. 15 zu
Art. 93, mit Hinweis). Die Verkehrsregeln sind im 3. Titel des SVG normiert.
Vorliegend hat der Beschwerdeführer lediglich gegen Art. 29 SVG verstossen,
weshalb es sich um einen Anwendungsfall der unechten Konkurrenz handelt. Für
die Frage, welche Bestimmung vorgeht, ist somit entscheidend, ob die Vorinstanz
zu Recht Art. 90 Ziff. 2 SVG bejaht hat.

1.5 Der Beschwerdeführer macht zur Qualifizierung als grobe
Verkehrsregelverletzung geltend, das Bundesgericht habe in zwei jüngeren
Urteilen, welche ebenfalls "Gucklochfahrer" betrafen, auf eine mittelschwere
Verkehrsregelverletzung bzw. Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG erkannt und je einen
einmonatigen Führerausweisentzug bestätigt. Es sei nicht einzusehen, wieso er
bei praktisch identischem Sachverhalt eine grobe Verkehrsregelverletzung
begangen haben soll. Auch in subjektiver Hinsicht sei sein Verschulden
keinesfalls schwerer als das der beiden anderen Lenker, welche ebenfalls um die
mangelnde Sicht auf die Fahrbahn gewusst hätten.
Der Vergleich des Beschwerdeführers mit früheren Urteilen des Bundesgerichts
(6A.16/2006 vom 6. April 2006 sowie 6A.58/2006 vom 9. Oktober 2006) ist
unbehelflich, da jene den durch die Verwaltungsbehörde ausgesprochenen
Warnungsentzug betrafen. An diese Erkenntnisse ist die Strafbehörde
grundsätzlich nicht gebunden (vgl. BGE 119 Ib 158 E. 2c/bb S. 162 mit Hinweis).
Im Übrigen hält das vom Beschwerdeführer genannte Urteil ausdrücklich fest, der
Fahrzeuglenker habe durch sein Verhalten - das Führen eines Fahrzeuges mit
vereisten Front- und Seitenscheiben - eine abstrakt erhöhte Gefahr für die
anderen Verkehrsteilnehmer geschaffen (6A.16/2006 E. 2.2.1). Die Vorinstanz hat
ausführlich begründet, wieso eine solche Gefahr auch im vorliegenden Fall
gegeben ist. Sie hat zu Recht Art. 90 Ziff. 2 SVG angewandt, welcher Art. 93
Ziff. 2 SVG vorgeht.

2.
Schliesslich rügt der Beschwerdeführer, das Dispositiv der Vorinstanz sei
fehlerhaft, weil unvollständig. Im Schuldspruch zu Art. 90 Ziff. 2 SVG werde
nicht aufgeführt, welche Verkehrsregel er missachtet haben soll. Der
Beschwerdeführer legt nicht dar, inwiefern die Vorinstanz dadurch Bundesrecht
verletzt (Art. 42 Abs. 2 BGG). Auf die mangelhaft begründete Rüge ist nicht
einzutreten.

3.
Somit ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem
Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Januar 2009
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Favre Binz