Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.62/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_62/2008/sst

Urteil vom 17. Juni 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Favre,
Gerichtsschreiber Briw.

Parteien
A.X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. iur. Mark A. Schwitter,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Raufhandel (Art. 133 StGB), Notwehrhilfe,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, vom 28. September 2007.

Sachverhalt:

A.
Das Obergericht des Kantons Zürich stellte im Apellationsverfahren am 28.
September 2007 fest, das Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 20. November
2006 gegen A.X.________ sei bezüglich des Schuldspruchs wegen Nötigung (Ziff. I
Abs. 1 der Anklage ["... wo er ihn rund siebenmal am Aufstehen ... hinderte"])
und wegen Tätlichkeiten (Ziff. II Abs. 2 der Anklage) in Rechtskraft erwachsen.
Es erkannte ihn ferner des Angriffs (Art. 134 StGB), des Raufhandels (Art. 133
Abs. 1 StGB) und der Nötigung (Art. 181 StGB) schuldig. Es bestrafte ihn mit
einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu Fr. 20.--, wovon 4 Tagessätze als durch
Untersuchungshaft geleistet gelten, und mit einer Busse von Fr. 600.--. Es
schob den Vollzug der Geldstrafe mit einer Probezeit von 2 Jahren auf und
setzte für den Fall, dass die Busse schuldhaft nicht bezahlt wird, eine
Ersatzfreiheitsstrafe von 6 Tagen fest.

B.
A.X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das Urteil des
Obergerichts aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Entscheide das Bundesgericht in der Sache selbst, sei er vom
Vorwurf des Raufhandels im Sinne von Art. 133 StGB (Ziff. II Abs. 1 der
Anklage) freizusprechen, das Strafmass sei auf eine Geldstrafe von 90
Tagessätzen und eine Busse von 500 Franken herabzusetzen und die
vorinstanzlichen Gerichts- und Parteikosten seien neu zu verteilen. Es seien
ihm die unentgeltliche Rechtspflege und der Beschwerde die aufschiebende
Wirkung zu erteilen.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer begründet seinen Antrag, er sei von dem ihm in Ziff. II
Abs. 1 der Anklage vorgeworfenen Raufhandel freizusprechen, erstens mit einer
Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, Art. 14 Abs. 3 lit. e IPBPR und Art.
29 BV, weil der beantragte Entlastungszeuge Z.________ nie formell als Zeuge
einvernommen worden sei, zweitens mit einer Verletzung von Art. 9, 29 und 32
BV, weil die Vorinstanz in willkürlicher antizipierter Beweiswürdigung diesen
Entlastungszeugen als unglaubwürdig qualifiziert habe, und drittens mit einer
Verletzung des Grundsatzes in dubio pro reo, weil die Vorinstanz eine
Notwehrsituation bzw. eine Notwehrhilfe verneint habe.

2.
Hintergrund der zu beurteilenden Handlungen ist eine Familienfehde, deren
Gründe nicht bekannt sind. Vorliegend stehen sich auf der einen Seite der
Beschwerdeführer und sein Sohn (B.X.________) und auf der anderen Seite sein
Schwiegersohn (C.Y.________) und dessen Ehefrau (D.Y.________), eine Tochter
des Beschwerdeführers, gegenüber.

2.1 Zunächst ereignete sich eine Auseinandersetzung am 8. August 2004 vor und
in der Wohnung des Schwiegersohns, bei welcher die erwähnten vier Personen
anwesend waren (Ziff. I Abs. 1 der Anklage). Der Beschwerdeführer wurde deshalb
wegen Nötigung des Schwiegersohnes schuldig gesprochen (angefochtenes Urteil S.
10).
-:-
Als sich dieser gegen die Nötigung zur Wehr setzte, hielt ihn der
Beschwerdeführer fest, und der Sohn schlug zu (Ziff. I Abs. 2 der Anklage). Der
Beschwerdeführer wurde wegen Angriffs (Art. 134 StGB) schuldig gesprochen
(angefochtenes Urteil S. 15).

2.2 In dem vor Bundesgericht angefochtenen Punkt (Ziff. II Abs. 1 der Anklage)
wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, er habe am 31. Dezember 2004 seinem
Schwiegersohn, der sich mit seinem Sohn am Boden raufte, mehrmals mit den
Fäusten ins Gesicht geschlagen, worauf der Sohn dem Schwiegersohn "unzählige
Schläge mit den Fäusten verpasste", bevor dieser flüchten konnte (angefochtenes
Urteil S. 10 f.). Wie bereits das Bezirksgericht spricht die Vorinstanz den
Beschwerdeführer in diesem Punkt wegen Raufhandels (Art. 133 StGB) schuldig.
Nach Ziff. II Abs. 2 der Anklage lief der Beschwerdeführer anschliessend der
herbeigeeilten und dann vor ihm und dem Sohn (also vor dem Vater und dem
Bruder) flüchtenden Ehefrau des Schwiegersohnes nach und riss sie vor ihrer
Wohnung stark an den Haaren, während der Sohn ihr mehrere Schläge auf den
Hinterkopf versetzte. Der Beschwerdeführer wurden wegen Tätlichkeiten (Art. 126
Abs. 1 StGB) schuldig und vom Vorwurf des Raufhandels in diesem Anklagepunkt
frei gesprochen (angefochtenes Urteil S. 12, 18).

3.
Wie erwähnt, rügt der Beschwerdeführer hinsichtlich des zum Schuldspruch wegen
Raufhandels führenden Sachverhalts von Ziff. II Abs. 1 der Anklage die
Ablehnung des Beweisbegehrens auf Einvernahme von Z.________ als Zeugen. Dieser
war von der Polizei lediglich als Auskunftsperson befragt worden.

3.1 Die Vorinstanz hält unter anderem fest, der Beschwerdeführer habe in der
Untersuchung zugegeben, den Schwiegersohn mehrmals mit der Faust geschlagen zu
haben, womit er den äusseren Ablauf des Anklagesachverhalts eingestanden habe.
Ausserdem sei anerkannt, dass der erste Schlag vom Schwiegersohn ausgegangen
sei. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern sich die Aussagen des beantragten
Zeugen zu seinen Gunsten auswirken könnten (angefochtenes Urteil S. 13 f.).

3.2 Art. 29 Abs. 2 BV gewährleistet den Anspruch auf rechtliches Gehör. Aus dem
Gehörsrecht ergibt sich der Anspruch der Parteien, mit rechtzeitig und
formgültig angebotenen Beweisanträgen gehört zu werden, soweit diese erhebliche
Tatsachen betreffen und nicht offensichtlich beweisuntauglich sind. Das Gericht
kann Beweisanträge ablehnen, wenn es angesichts der bereits abgenommenen
Beweise seine Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in vorweggenommener
Beweiswürdigung annehmen kann, dass seine Überzeugung durch weitere
Beweiserhebungen nicht geändert würde (vgl. BGE 131 I 153 E. 3; 124 I 208 E.
4a). Diese Rechtsprechung gilt auch bei beantragten Entlastungszeugen (BGE 125
I 127 E. 6c/cc S. 135).
Aus den vom Beschwerdeführer angerufenen weiteren Verfassungs- und
Völkerrechtsbestimmungen folgen im zu beurteilenden Zusammenhang keine
weitergehenden Rechte. Die Konventionen überlassen es dem nationalen Recht,
welche Beweismittel zuzulassen und wie die Beweiserhebung und Beweiswürdigung
zu regeln sind, d.h. auf welche Weise der Schuldnachweis zu führen ist. Das
nationale Recht kann somit die Gründe festlegen, in denen die Beweiserhebung im
Einzelfall abgelehnt werden darf oder muss. Es muss insgesamt ein faires
Verfahren gewahrt sein. Allerdings gewährleisten die Konventionen auch das
Recht, Entlastungszeugen zu laden und vernehmen zu lassen, so dass die
Ablehnung einer von der Verteidigung beantragten Zeugeneinvernahme gegen Art. 6
Ziff. 3 lit. d EMRK verstossen kann, wenn die Verfahrenserheblichkeit für das
Gericht ersichtlich war. Eine Beweiserhebung darf demnach nicht willkürlich
abgelehnt werden (vgl. Walter Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren, MRK
und IPBPR, Berlin 2005, Art. 6 MRK NN. 65, 136, 215 ff.).

3.3 Es ist davon auszugehen, dass der Sohn des Beschwerdeführers und sein
Begleiter Z.________ in der Nähe der Wohnung des Schwiegersohnes auf diesen
stiessen. Z.________ holte hierauf den auf der gegenüberliegenden Strassenseite
in einem Tankstellenshop weilenden Beschwerdeführer zu Hilfe. Wie die
Vorinstanz ausführt, erübrigt sich eine Einvernahme von Z.________, weil sich
der Beschwerdeführer unabhängig davon, mit welchen Worten er genau informiert
wurde, selber vor Ort einen kurzen Überblick über die "Keilerei" verschaffen
musste (angefochtenes Urteil S. 16 f.). Dabei stellt die Vornstanz auch den vom
Schwiegersohn anerkannten Standpunkt des Beschwerdeführers in Rechnung, dass
der Schwiegersohn den ersten Fausthieb gegen seinen Sohn ausgeteilt hatte. Wie
der Streit entstanden war, ändert an der angetroffenen Situation nichts
Grundsätzliches. Als der Beschwerdeführer nämlich hinzukam, sah er die Keilerei
und musste sich selber entscheiden, was zu tun war. Er ging sofort auf den
Schwiegersohn los und schlug ihm mehrmals mit der Faust ins Gesicht
(angefochtenes Urteil S. 17). Nach den Vorbringen des Beschwerdeführers griff
er in die Auseinandersetzung ein, um seinen am Boden liegenden Sohn vor den
Schlägen des Schwiegersohnes zu schützen. Dieses Eingreifen zu Gunsten seines
Sohnes ist offensichtlich und ergibt sich ohne Weiteres aus dem anerkannten
Sachverhalt. Die Wertung dieses Sachverhalts ist Rechtsfrage. Die Vorinstanz
konnte willkürfrei auf eine Zeugeneinvernahme verzichten.

3.4 Die Glaubwürdigkeit von Z.________, eines Kollegen des Sohnes, braucht bei
diesem Ergebnis nicht geprüft zu werden. Weiter ist angesichts dieses allseits
anerkannten rechtserheblichen Sachverhalts eine Verletzung des Grundsatzes in
dubio pro reo nicht ersichtlich.

4.
In rechtlicher Hinsicht macht der Beschwerdeführer geltend, weil er seinem am
Boden liegenden Sohn habe helfen wollen, sei sein Handeln als Notwehrhilfe im
Sinne von Art. 33 aStGB bzw. Art. 15 StGB zu qualifizieren. Es würde zumindest
Putativnotwehrhilfe vorliegen.
Die zu beurteilenden Taten ereigneten sich vor dem Inkraftreten des neuen
Allgemeinen Teils des StGB (Art. 15 und 16 StGB). Gemäss Art. 2 Abs. 2 StGB
bleibt das frühere Recht (Art. 33 aStGB) anwendbar, da das neue Recht für den
Beschwerdeführer nicht das mildere ist (vgl. Urteil 6B_674/2007 vom 27. Februar
2008, E. 3.1). Der Notwehrberechtigte ist zu einem gewissen Mass an Rücksichten
verpflichtet (Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil
I, 3. Auflage, Bern 2005, S. 241). Nach der Rechtsprechung zu Art. 33 Abs. 1
aStGB fallen Handlungen, die nicht zur Abwehr eines Angriffs unternommen
werden, sondern blosser Rache oder Vergeltung entspringen, nicht unter den
Begriff der Notwehr (BGE 93 IV 81 S. 83).
Der herbeigerufene Beschwerdeführer durfte den Angriff nur in einer den
Umständen angemessenen Weise abwehren (Art. 33 Abs. 1 aStGB; vgl. BGE 107 IV 12
E. 3a und b). Er war daher berechtigt, die beiden Streitenden selbst mit
"robustem" Einsatz zu trennen. Statt sie zu trennen oder dem Streit Einhalt zu
gebieten, schlug er sofort dem Schwiegersohn mit den Fäusten ins Gesicht und
ermöglichte es seinem Sohn damit, nun seinerseits dem Schwiegersohn "unzählige
Schläge mit den Fäusten zu verpassen", bevor dieser flüchten konnte. Er wurde
"von den beiden schliesslich derart übel zugerichtet", dass er ins Spital
gebracht werden musste (angefochtenes Urteil S. 12).
Notwehr und so auch die Notwehrhilfe sind Institute des Rechtsgüterschutzes.
Sie können nicht zur Rechtfertigung einer rücksichtslosen Aggression
herbeigezogen werden. Ob nun der Beschwerdeführer und sein Sohn mit dem
Aufenthalt in der Nähe der Wohnung des Schwiegersohns eine Auseinandersetzung
suchten und insoweit von einer Provokation auszugehen ist, oder ob der
Schwiegersohn seinerseits mit dem unbestritten ersten Faustschlag die ganze
Auseinandersetzung provozierte, kann bei dieser Sachlage offen bleiben. Für den
hinzukommenden Beschwerdeführer war die Situation eindeutig durchschaubar. Ein
auf Rechtsgüterschutz gerichteter Wille ist bei seinem Vorgehen indessen nicht
erkennbar. Da er sofort auf den Schwiegersohn losging und ihm mehrfach mit den
Fäusten ins Gesicht schlug, war er offensichtlich bereit, sich auf jeden Fall
am Raufhandel zu beteiligen, unabhängig davon, ob nun sein Sohn vom
Schwiegersohn unrechtmässig angegriffen worden war oder nicht (angefochtenes
Urteil S. 17).
Wie erwähnt, fallen Handlungen, die nicht zur Abwehr eines Angriffs unternommen
werden, sondern blosser Rache oder Vergeltung entspringen, nicht unter den
Begriff der Notwehr und damit auch nicht unter jenen der Notwehrhilfe. Ein
Notwehrhilfeexzess oder eine Putativnotwehrhilfe wie auch ein "entschuldbarer
Affekt" (Beschwerde S. 12) sind unter den vorliegenden Umständen nicht zu
begründen. Eine rechtfertigende oder entschuldigende Notwehrhilfe mit
Strafmilderung (Art. 33 Abs. 2 Satz 1 aStGB) oder Straflosigkeit (Art. 33 Abs.
2 Satz 2 aStGB) kommen damit nicht in Betracht. Der Schuldspruch wegen
Raufhandels ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden.

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist auf die (nicht weiter begründete)
Beschwerde im Übrigen nicht einzutreten (oben Bst. B). Sie ist abzuweisen,
soweit darauf einzutreten ist. Die unentgeltliche Rechtspflege kann nicht
gewährt werden, weil das Rechtsbegehren aussichtslos erschien (Art. 29 Abs. 3
BV; Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Angesichts der finanziellen Lage des
Beschwerdeführers sind die aufzuerlegenden Gerichtskosten herabzusetzen (Art.
65 Abs. 2 und Art. 66 Abs. 1 BGG).
Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung
gegenstandslos geworden.

Das Bundesgericht erkennt:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 17. Juni 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Briw