Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.56/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_56/2008/bri

Urteil vom 14. April 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Favre,
Gerichtsschreiber Thommen.

Parteien
L.X.________,
Y.X.________,
M.X.________,
Beschwerdeführer,
alle drei vertreten durch Rechtsanwalt ass. iur. Holger Hügel, Sidler &
Partner,

gegen

A.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Manfred Dähler,
Untersuchungsamt Altstätten, Rabengasse 4, 9450 Altstätten SG,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Aufhebung des Strafverfahrens,

Beschwerde gegen den Entscheid des Präsident der Anklagekammer des Kantons St.
Gallen vom 30. November 2007.

Sachverhalt:

A.
Am Mittwoch 14. Februar 2007 ereignete sich auf der Autobahn A13 bei Weite/SG
in Fahrtrichtung St. Margrethen ein Unfall mit vier beteiligten Fahrzeugen,
dessen Hergang umstritten ist. Das vorderste Fahrzeug geriet infolge eines
Selbstunfalles ins Schleudern und kollidierte mit den Leitplanken. Sowohl der
dem ersten Fahrzeug folgende Z.________ als auch die Beschwerdeführer
(L.X.________, Y.X.________ und M.X._______) und die Beschwerdegegnerin
(A.________) mussten in der Folge Ausweich- und Bremsmanöver einleiten, welche
zum Zusammenstoss zwischen den Personenwagen der Beschwerdegegnerin und der
Beschwerdeführer führte. Die vordere rechte Ecke des Personenwagens der
Beschwerdegegnerin kollidierte mit der hinteren linken Ecke des Personenwagens
der Beschwerdeführer. Beide wollen sich bereits zuvor auf der Überholspur
befunden haben.

B.
Mit Verfügung vom 4. Juli 2007 hob das Untersuchungsamt Altstätten das wegen
mehrfacher fahrlässiger Körperverletzung gegen A.________ geführte
Strafverfahren auf.

C.
Eine dagegen von L.X.________, Y.X.________ und M.X._______ erhobene Beschwerde
wies der Präsident der Anklagekammer des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom
30. November 2007 ab.

D.
L.X.________, Y.X.________ und M.X._______ führen Beschwerde in Strafsachen.
Sie beantragen zur Hauptsache die Aufhebung des angefochtenen Entscheids.

E.
Stellungnahmen wurden keine eingeholt.

Erwägungen:

1.
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit von Amtes wegen (Art. 29 Abs. 1
BGG).

1.1 Zur Beschwerde in Strafsachen ist unter anderem das Opfer legitimiert,
sofern sich der angefochtene Entscheid auf die Beurteilung seiner
Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Als Opfer im
Sinne von Art. 2 OHG ist jede Person anzusehen, die durch eine Straftat in
ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar
beeinträchtigt worden ist (BGE 133 IV 228 E. 2).

1.2 Die Beschwerdeführer wurden bei dem Verkehrsunfall in ihrer körperlichen
Integrität beeinträchtigt, sie haben am kantonalen Verfahren teilgenommen und
die gemäss Art. 182 Abs. 3 des Strafprozessgesetzes des Kantons St. Gallen vom
1. Juli 1999 (StP/SG; SGS 962.1) wie ein Freispruch wirkende Aufhebung des
Strafverfahrens gegen die Beschwerdegegnerin kann sich auf ihre
Zivilforderungen auswirken. Sie sind daher zur Beschwerde legitimiert.

2.
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).

2.1 Die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem
Recht sowie behauptete Mängel in der Sachverhaltsfeststellung prüft das
Bundesgericht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht
und substantiiert begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 IV 286 E.
1).

2.2 Die Beschwerdeführer machen auf den ersten 22 Seiten ihrer Beschwerde unter
dem Titel 'Sachverhalt' rein appellatorische Ausführungen zu ihrer
Interpretation des Unfallgeschehens. Darauf ist ebenso wenig einzugehen wie auf
die Ausführungen der Beschwerdeführer zum erstinstanzlichen Entscheid
(Beschwerde S. 27). Verfehlt ist die gerügte Verletzung der Rechtsweggarantie
nach Art. 29a BV, zumal die Rechtsstreitigkeit durch eine richterliche Behörde
(Anklagekammer des Kantons St. Gallen) beurteilt wurde. Zu Unrecht wird der
Vorinstanz das notwendige Fachwissen zur Beurteilung des Unfallgutachtens
abgesprochen (Beschwerde S. 28).

3.
Die Beschwerdeführer beanstanden, dass nicht Anklage erhoben wurde. Dadurch
seien Art. 5 Abs. 1 BV (Legalitätsprinzip), Art. 9 BV (Willkürverbot), Art. 2
lit. c der Verfassung des Kantons St. Gallen (Schutz vor Willkür sowie Wahrung
von Treu und Glauben), Art. 97 Abs. 1 und 106 Abs. 2 BGG sowie Art. 182 Abs. 2
StP/SG verletzt worden. Sie machen ferner geltend, dass die Ablehnung weiterer
Beweismassnahmen ihr rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und die
Verfahrensgerechtigkeit (Art. 29 Abs. 1 BV) verletzen.
3.1
3.1.1 Unter welchen Voraussetzungen ein Strafverfahren eingestellt werden darf
und wann Anklage zu erheben ist, ergibt sich primär aus dem kantonalen
Prozessrecht (vgl. Bundesgerichtsurteil 6P.64/2002 vom 9. Dezember 2002, E. 4).
3.1.2 Die Vorinstanz stützt ihre Bestätigung der untersuchungsamtlichen
Verfahrensaufhebung auf Art. 182 StP/SG. Danach wird das Verfahren aufgehoben,
wenn das Gericht den Angeschuldigten mangels Tatbestands, mangels Beweises,
wegen Verjährung oder aus einem anderen Grund freisprechen würde (Abs. 1).
Bestehen Zweifel oder kommt die Anordnung einer freiheitsentziehenden Massnahme
in Betracht, wird Anklage beim Gericht erhoben (Abs. 2). Die Aufhebung des
Verfahrens hat die Bedeutung eines gerichtlichen Freispruchs (Abs. 3). Nach der
kantonalen Rechtsprechung zu Art. 182 StP/SG hat eine Aufhebung zu erfolgen,
wenn aufgrund objektiver Kriterien von vornherein feststeht, dass jedes andere
Ergebnis als ein Freispruch ausgeschlossen erscheint (Entscheid der
Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 15. Oktober 2001, in: GVP 2001 Nr.
76).
3.1.3 Nach der Rechtsprechung gilt beim Entscheid über die Anklageerhebung
resp. Verfahrensaufhebung der auf die gerichtliche Beweiswürdigung
zugeschnittene Grundsatz 'in dubio pro reo' nicht. Vielmehr ist nach der Maxime
'in dubio pro duriore' im Zweifelsfall (wegen des schwereren Delikts) Anklage
zu erheben. Dahinter steckt die Überlegung, dass bei nicht eindeutiger
Beweislage nicht die Untersuchungs- oder Anklagebehörden, sondern die für die
materielle Beurteilung zuständigen Gerichte über einen Vorwurf entscheiden
sollen. Aus dem Umstand, dass eingestellt werden muss, wenn eine Verurteilung
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist, folgt
nicht, dass erst bei derart hoher Wahrscheinlichkeit eingestellt werden darf.
Ein solcher Massstab wäre zu streng und würde dazu führen, dass selbst bei
geringer Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung ein Anklagezwang bestünde.
Verlangt wird lediglich, im Zweifel Anklage zu erheben resp. zu überweisen. Als
praktische Leitlinie kann daher gelten, dass Anklage erhoben werden muss, wenn
eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch (Urteil 6B_588/
2007 vom 11. April 2008, E. 3.2).
3.1.4 In der Sache kommt die Vorinstanz zum Schluss, dass die für die
Beschwerdegegnerin günstigere Sachverhaltsvariante, wonach sie sich bereits auf
der Überholspur befand als die Beschwerdeführer ein Notausweichmanöver auf
diese Spur hinüber ausführten, welches ihr keine Reaktionsmöglichkeit mehr
liess, nicht ausgeschlossen werden kann. Die Vorinstanz begründet diesen
Schluss unter Einbezug eines Parteigutachtens der Versicherung der
Beschwerdegegnerin. Danach erfolgte die Bremseinleitung der Beschwerdegegnerin
nicht zwingend auf der Normalspur, weil bei Ausrüstung mit ABS während eines
Bremsmanövers ein zusätzliches Ausweichmanöver möglich sei. Der genaue
Unfallhergang sei anhand der bestehenden Spuren nicht rekonstruierbar. Auch der
Zeuge Z.________ könne weder beobachtet haben, wann welches Fahrzeug auf die
Überholspur gewechselt habe, noch wie und wo die Kollision erfolgt sei, weshalb
dessen Aussagen nichts zur Gutachtensanalyse beitragen könnten. Das gleiche
gelte für die beantragten Gutachtensergänzungen und weiteren
Zeugeneinvernahmen.
3.1.5 Was die Beschwerdeführer hiergegen vorbringen, erschöpft sich im
Wesentlichen in appellatorischer Kritik. Sie schildern lediglich ihre Sicht des
Unfallgeschehens, ohne aufzuzeigen, inwiefern die vorinstanzliche
Schlussfolgerung schlichtweg unhaltbar sein soll. Insbesondere ihre These,
wonach Zweifel an der Aussageglaubwürdigkeit der Beschwerdegegnerin bestehen
müssten, stützt sich auf ihre eigenen Interpretationen der Zeugenaussagen und
übrigen Beweise. Die Anwendung von Art. 182 StP/SG ist bundesrechtlich nicht zu
beanstanden. Entgegen den Beschwerdeführern darf eine Verfahrensaufhebung nicht
erst bestätigt werden, wenn 'zweifelsfrei feststeht', dass bei Anklageerhebung
'zwingend ein Freispruch' erfolgen würde (Beschwerde S. 23). Nach Art. 182 StP/
SG und der erläuterten Rechtsprechung darf auf eine Anklageerhebung bereits
verzichtet werden, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung nicht
überwiegt. Dies konnte die Vorinstanz im Anschluss an das Untersuchungsamt und
aufgrund der Faktenlage verneinen, ohne in Willkür zu verfallen. Auch die
weiteren von den Beschwerdeführern angerufenen (Grund-)Rechte wurden nicht in
unzulässiger Weise beeinträchtigt. Insbesondere verletzen die Ablehnung der
Gutachtensergänzungen und weiterer Befragungen weder ihr rechtliches Gehör noch
die Verfahrensgerechtigkeit. Die Vorinstanz kommt - wie erwähnt - zum
willkürfreien Schluss, dass sich die Sachverhaltsdarstellung der
Beschwerdegegnerin auch aufgrund weiterer Beweismassnahmen nicht als unmöglich
ausschliessen lasse. Sie durfte daher darauf verzichten.

4.
Zusammenfassend ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Bei diesem Ausgang braucht auch nicht auf die detaillierten Rechtsbegehren
eingegangen zu werden, welche die Beschwerdeführer für den Fall des Obsiegens
stellen. Für ihr Unterliegen werden den Beschwerdeführern Fr. 3'000.--
Gerichtskosten auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Aufgrund ihres gemeinsamen
Vorgehens haben sie für die Kosten zu gleichen Teilen (je Fr. 1'000.--) unter
solidarischer Haftung einzustehen (Art. 66 Abs. 5 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden den Beschwerdeführern zu gleichen
Teilen unter solidarischer Haftung auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Präsident der Anklagekammer des Kantons
St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 14. April 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Thommen