Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.553/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_553/2008/sst

Urteil vom 27. August 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Mathys,
Gerichtsschreiber Monn.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, Sennhofstrasse 17, 7001 Chur,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Wiederherstellung der Frist (grobe Verletzung von Verkehrsregeln),

Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden,
Kantonsgerichtsausschuss, vom 25. April 2008.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
-
Nachdem die Staatsanwaltschaft Graubünden gegen X.________ eine
Strafuntersuchung wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln eröffnet hatte,
wurde dieser vom Untersuchungsrichteramt Samedan mit Schreiben vom 19.
September 2007 zur Einvernahme vorgeladen. Mit Faxschreiben vom 28. September
2007 teilte X.________ dem Untersuchungsrichteramt mit, es sei für ihn nicht
zumutbar, an der Einvernahme zu erscheinen.
Mit Strafmandat vom 14. Dezember 2007 sprach das Kreispräsidium Oberengadin
X.________ der groben Verletzung von Verkehrsregeln schuldig und bestrafte ihn
mit einer bedingten Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je Fr. 40.-- sowie einer
Busse von Fr. 800.--. Das Strafmandat wurde am selben Tag per Einschreiben
versandt, konnte aber nicht zugestellt werden. Nachdem das Kreisamt bei der
Einwohnerkontrolle in Erfahrung gebracht hatte, dass X.________ seinen Wohnsitz
in den Kanton Schaffhausen verlegt hatte, wurde ihm das Strafmandat am 19.
Dezember 2007 eingeschrieben an die neue Adresse zugestellt. Indessen blieb
auch dieser Zustellversuch erfolglos, weil X.________ die eingeschriebene
Sendung nicht abholte. Daraufhin wurde das Strafmandat am 18. Januar 2008 mit
A-Post ein drittes Mal zugestellt mit dem Hinweis, dass mit dieser nochmaligen
Zustellung keine neue Einsprachefrist ausgelöst werde.
Mit Schreiben vom 28. Januar 2008 ersuchte X.________ das Kreispräsidium
Oberengadin um Wiederherstellung der Frist zur Einsprache gegen das
Strafmandat. Das Präsidium wies das Gesuch mit Verfügung vom 7. März 2008 ab
und stellte fest, das Strafmandat vom 14. Dezember 2007 sei in Rechtskraft
erwachsen. Eine dagegen gerichtete Berufung wurde durch den Ausschuss des
Kantonsgerichts von Graubünden mit Urteil vom 25. April 2008 abgewiesen.
X.________ wendet sich an das Bundesgericht und beantragt, es sei ihm die
Einsprachefrist wieder herzustellen.
-
Da es um eine Strafsache geht, ist die als "Berufung" bezeichnete Eingabe des
Beschwerdeführers als Beschwerde im Sinne von Art. 78 ff. BGG entgegenzunehmen.
-
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gelten behördliche Sendungen in
Prozessverfahren nicht erst als zugestellt, wenn der Adressat sie tatsächlich
in Empfang nimmt. Es genügt, wenn die Sendung in den Machtbereich des
Adressaten gelangt, so dass er sie zur Kenntnis nehmen kann. Wird der Empfänger
einer eingeschriebenen Briefpostsendung oder Gerichtsurkunde nicht angetroffen,
und wird daher eine Abholeinladung in seinen Briefkasten oder in sein Postfach
gelegt, so wird die Sendung in jenem Zeitpunkt als zugestellt betrachtet, in
welchem sie auf der Poststelle abgeholt wird. Geschieht dies nicht innert der
Abholfrist, wird angenommen, dass die Sendung am letzten Tag der Frist
zugestellt wurde. Die Zustellfiktion rechtfertigt sich, weil für die an einem
Verfahren Beteiligten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben die Pflicht
besteht, dafür zu sorgen, dass behördliche Akte ihnen zugestellt werden können.
Diese Rechtsprechung gilt mithin während eines hängigen Verfahrens und wenn die
Verfahrensbeteiligten mit der Zustellung eines behördlichen oder gerichtlichen
Entscheids oder einer Verfügung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit rechnen
müssen. Unter dieser Voraussetzung ist von einem Verfahrensbeteiligten zu
verlangen, dass er seine Post regelmässig kontrolliert und allenfalls längere
Ortsabwesenheiten der Behörde mitteilt oder einen Stellvertreter ernennt (BGE
130 III 396 E. 1.2.3, 119 V 89 E. 4b/aa, 116 Ia 90 E. 2a, 115 Ia 12 E. 3a). Als
Zeitraum, während welchem die Zustellfiktion aufrechterhalten werden darf, ohne
dass verfahrensbezogene Handlungen der Behörde erfolgen, werden in der
Literatur mehrere Monate bis etwa ein Jahr genannt. Dauert die Untätigkeit der
Behörde länger an, kann nach dieser Meinung die Zustellfiktion nicht mehr
greifen (Yves Donzallaz, La notification en droit interne suisse, Bern 2002, S.
501). Ein Zeitraum bis zu einem Jahr seit der letzten verfahrensbezogenen
Handlung der Behörde scheint in der Tat noch als vertretbar (Urteil 2P.120/2005
vom 23. März 2006, E. 4.2; veröffentlicht in Zbl 108/2007 S. 46). Wenn eine
kantonale Behörde diese Grundsätze übernimmt, so hat das Bundesgericht nur zu
prüfen, ob deren Anwendung durch die Behörde verfassungsmässige Rechte des
Betroffenen verletzt (a.a.O. E. 3; 116 Ia 90 E. 2B; 115 Ia 12 E. 3a).
Der Beschwerdeführer wusste mindestens seit dem 28. September 2007, dass das
Untersuchungsrichteramt Samedan gegen ihn eine Strafuntersuchung wegen grober
Verletzung von Verkehrsregeln führte. Er hätte deshalb ab diesem Zeitpunkt
dafür besorgt sein müssen, dass ihm oder einem Stellvertreter behördliche Akte
zugestellt werden können. Mit einer solchen Kontaktaufnahme durch die Behörden
des Kreises Oberengadin hat er denn auch gerechnet, hat er doch in seinem
Faxschreiben vom 28. September 2007 an das Untersuchungsrichteramt Samedan
ausdrücklich darum gebeten, wieder kontaktiert zu werden (KA act. 1/4).
Demgegenüber findet seine Behauptung, er habe damit gerechnet, nun durch die
angeblich konzilianteren Behörden seines Wohnsitzkantons zu einer Einvernahme
aufgeboten zu werden, im angefochtenen Entscheid keine Stütze. Darauf kann das
Bundesgericht deshalb nicht eintreten. Der Beschwerdeführer will zudem "von
Gerichts- und Betreibungsverfahren her" gewusst haben, dass "vor, an und nach
Weihnachten Gerichtsferien sind". Aus dieser vagen Angabe ist indessen nicht
ersichtlich, aus welchem Grund er für das vorliegende Strafverfahren ohne
weiteres hätte davon ausgehen dürfen, er müsse in der Woche vor Weihnachten
nicht mit einer behördlichen Zustellung rechnen. Nach der oben dargestellten
Rechtsprechung muss er den Zustellversuch vom Dezember 2007, der nur rund drei
Monate nach der Vorladung vom September 2007 erfolgte, gegen sich gelten
lassen. Die Beschwerde ist im Verfahren nach Art. 109 BGG abzuweisen, soweit
darauf einzutreten ist.
-
Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist in Anwendung von Art. 64 BGG
abzuweisen, weil die Rechtsbegehren aussichtslos erschienen. Der finanziellen
Lage des Beschwerdeführers (vgl. act. 10) ist durch eine herabgesetzte
Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:
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Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
-
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
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Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
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Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht von Graubünden,
Kantonsgerichtsausschuss, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 27. August 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Monn