Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.522/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_522/2008, 6B_523/2008/sst

Urteil vom 27. November 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Ferrari, Favre, Mathys,
Gerichtsschreiber Thommen.

Parteien
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

H.C.________, Beschwerdegegner I, vertreten durch
Rechtsanwalt Christian Koch,

sowie

E.A.________, Beschwerdegegner II, vertreten durch Rechtsanwalt Claude Hentz,

Gegenstand
Wiedergutmachung (Art. 53 StGB),

Beschwerden gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, vom 21. April 2008.

Sachverhalt:

A.
Am 12. November 2005 kam es zwischen H.C.________ (Beschwerdegegner I) und
E.A.________ (Beschwerdegegner II) zu einer tätlichen Auseinandersetzung, in
deren Verlauf letzterer auch ein Messer eingesetzt haben soll.

B.
Mit Urteil vom 10. Januar 2007 sprach das Bezirksgericht Zürich H.C.________
(Beschwerdegegner I) der einfachen Körperverletzung im Sinne von Art. 123 Ziff.
1 Abs. 1 StGB schuldig und bestrafte ihn mit einer unbedingten Geldstrafe von
190 Tagessätzen zu Fr. 30.-- als Gesamtstrafe. Vom Vorwurf der qualifizierten
einfachen Körperverletzung im Sinne von Art. 123 Ziff. 2 Abs. 1 StGB wurde er
freigesprochen.
Gleichentags sprach das Bezirksgericht E.A.________ (Beschwerdegegner II) der
einfachen Körperverletzung im Sinne von Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 2
Abs. 1 StGB und der Sachbeschädigung im Sinne von Art. 144 Abs. 1 StGB
schuldig. Vom Vorwurf der mehrfachen Drohung im Sinne von Art. 180 StGB sprach
es ihn frei. Er wurde bestraft mit einer bedingten Geldstrafe von 240
Tagessätzen zu Fr. 30.--, wovon 36 Tagessätze als durch Untersuchungshaft
geleistet galten.

C.
Sowohl H.C.________ als auch E.A.________ erhoben Berufung. Die
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich erhob Anschlussberufung.

D.
An der mündlichen Berufungsverhandlung schlossen die Parteien unter Mitwirkung
des Obergerichts des Kantons Zürich folgende Vereinbarung:
"1. H.C.________ und E.A.________ erklären ihr gegenseitiges Desinteresse an
der weiteren Strafverfolgung.
2. Jeder Angeklagte verpflichtet sich, die Kosten seines Strafverfahrens
(Untersuchungskosten sowie Kosten des erst- und zweitinstanzlichen
Gerichtsverfahren), einschliesslich Kosten seiner amtlichen Verteidigung/
Rechtsvertretung, zu bezahlen.
3. E.A.________ verpflichtet sich, H.C.________ als Ausgleich der gegenseitigen
Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche Fr. 2000.- zu bezahlen, zahlbar in vier
monatlichen Raten à Fr. 500.-, erstmals am 1. des Monats, welcher der
Rechtskraft der Abschreibungsbeschlüsse folgt."

E.
Mit Beschluss vom 21. April 2008 nahm das Obergericht des Kantons Zürich von
der Vereinbarung Vormerk und schrieb beide Strafprozesse in Anwendung von Art.
53 StGB als erledigt ab.

F.
Mit zwei in den vorliegend wesentlichen Punkten identischen Beschwerden in
Strafsachen beantragt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich die
Aufhebung des Beschlusses vom 21. April 2008 und die Rückweisung an die
Vorinstanz.

G.
Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtet auf eine Stellungnahme. Beide
Beschwerdegegner beantragen in ihrer Vernehmlassung die Abweisung der
Beschwerde. Der Beschwerdegegner I verlangt zudem die unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung.

Erwägungen:

1.
Zur Beschwerde in Strafsachen ist nach Art. 81 BGG berechtigt, wer vor der
Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat und ein rechtlich geschütztes
Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat. Zum
Kreis der beschwerdebefugten Parteien zählt namentlich die Staatsanwaltschaft
(Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG).

1.1 Die Beschwerdeführerin hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der
Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Ihr Rechtsschutzinteresse leitet sich
aus dem staatlichen Strafanspruch ab, den sie zu vertreten hat (BGE 134 IV 36
E. 1.4.3).

1.2 Der Beschwerdegegner II kritisiert, dass die Staatsanwaltschaft an der
obergerichtlichen Berufungsverhandlung nicht teilgenommen habe, obwohl ihr
bereits aus dem erstinstanzlichen Verfahren bekannt gewesen sein müsse, dass
seitens der Beschwerdegegner eine einvernehmliche Lösung (Rückzug des
Strafantrags; Verfahrenseinstellung) angestrebt wurde. Ein solches Versäumnis
würde einem Privaten mit Sicherheit als Verwirkung seiner rechtlichen
Möglichkeiten angelastet (vgl. Vernehmlassung des Beschwerdegegners II, S. 2).

1.3 Mit der bundesrechtlichen Voraussetzung der Verfahrensteilnahme nach Art.
81 Abs. 1 lit. a BGG soll verhindert werden, dass sich Parteien, die im
kantonalen Verfahren in keiner Form am Prozess mitgewirkt oder daran ein
Interesse bekundet haben, erstmals vor Bundesgericht ins Verfahren einschalten
können. Dies trifft auf die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich im
vorliegenden Fall jedoch nicht zu. Sie hat das Rechtsmittelverfahren zwar nicht
selbst geführt, sondern die Anklage von einer ihr untergeordneten Behörde
vertreten und damit ihre Interessen mittelbar wahrnehmen lassen (BGE 134 IV 36
E. 1.3.2). Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich hat im
Berufungsverfahren Anträge gestellt (vgl. Anschlussberufung vom 16. Mai 2007;
act. 12/1) und sich somit in minimaler Form im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. a
BGG am Verfahren vor Vorinstanz beteiligt. Die Dispensation der
Staatsanwaltschaft vom Erscheinen an der mündlichen Berufungsverhandlung (vgl.
§ 422 StPO/ZH) ist von Bundesrechts wegen nicht zu beanstanden. Auf die
Beschwerden ist daher einzutreten.

2.
Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung von Art. 53 StGB geltend. Zu
Unrecht habe die Vorinstanz die Voraussetzungen des bedingten Strafvollzugs
(Art. 42 Abs. 1 StGB) bejaht und das Interesse der Öffentlichkeit an der
Strafverfolgung als gering erachtet.

2.1 Art. 53 StGB (Wiedergutmachung) bestimmt: Hat der Täter den Schaden gedeckt
oder alle zumutbaren Anstrengungen unternommen, um das von ihm bewirkte Unrecht
auszugleichen, so sieht die zuständige Behörde von einer Strafverfolgung, einer
Überweisung an das Gericht oder einer Bestrafung ab, wenn:
a. die Voraussetzungen für die bedingte Freiheitsstrafe (Art. 42) erfüllt sind;
und
b. das Interesse der Öffentlichkeit und des Geschädigten an der Strafverfolgung
gering sind.
Es stellt sich die Frage, wie der Strafbefreiungsgrund der Wiedergutmachung
gemäss Art. 53 StGB im Gerichtsverfahren prozessual zu behandeln ist, ob auch
hier eine Einstellung erfolgen kann oder ob bloss eine Strafbefreiung (neben
einem Schuldspruch) möglich ist.

2.2 Der Vierte Abschnitt des Dritten Titels (Strafen und Massnahmen) und des
Ersten Kapitels (Strafen) des Strafgesetzbuches ist unterteilt in die
Strafbefreiung einerseits und die Einstellung des Verfahrens andererseits. Zur
Strafbefreiung zählen das fehlende Strafbedürfnis (Art. 52 StGB), die
Wiedergutmachung (Art. 53 StGB) und die Betroffenheit des Täters durch seine
Tat (Art. 54 StGB). Die Einstellung des Verfahrens (Art. 55a StGB) ist - bei
hier nicht zu diskutierenden Voraussetzungen - in allen Verfahrensstadien
möglich, wenn ein Ehegatte, eine eingetragene Partnerin, ein eingetragener
Partner oder Lebenspartner Opfer ist. Der Gesetzgeber unterscheidet demnach
zwischen Strafbefreiung einerseits und Einstellung andererseits. Die in Art.
55a StGB geschaffene Möglichkeit einer Einstellung in allen Verfahrensstadien
ist deshalb sinnvoll, weil in Fällen von häuslicher Gewalt die Offizialisierung
abgeschwächt und deshalb das Verfahren immer eingestellt werden soll, wenn das
Opfer eines Deliktes im sozialen Nahraum die Durchführung eines Strafverfahrens
nicht wünscht und ein Eingriff in den partnerschaftlichen Bereich möglichst
vermieden werden soll (Christoph Riedo/Nicole Saurer, Basler Kommentar,
Strafrecht I, 2. Auflage, Basel 2007, Art. 55 a N 34).

2.3 Der Regelung von Art. 53 StGB liegt der Gedanke zu Grunde, dass selbst bei
voller Wiedergutmachung das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung
nicht zwingend entfallen muss (vgl. zur amtlichen Publikation vorgesehenes
Urteil 6B_346/2008 vom 27. November 2008, E. 3). Unter dem Randnotentitel "1.
Gründe für die Strafbefreiung / Wiedergutmachung" bestimmt Art. 53 StGB, dass
die zuständige Behörde bei gedecktem Schaden oder hinreichenden
Unrechtsausgleichsbemühungen von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an
das Gericht oder einer Bestrafung absieht. Je nach Verfahrensstadium zeitigt
eine Wiedergutmachung somit unterschiedliche Wirkung. Wird das bewirkte Unrecht
umgehend ausgeglichen, kann die Untersuchungsbehörde von einer Strafverfolgung
absehen. Ist die Strafverfolgung bereits im Gang, so kann die zuständige
Behörde (Staatsanwaltschaft) das Verfahren einstellen oder von einer
Überweisung an das Gericht absehen. Sind die Voraussetzungen der
Wiedergutmachung schliesslich erst im Gerichtsverfahren gegeben, steht dem
Gericht als zuständiger Behörde nur noch der Schuldspruch bei gleichzeitigem
Strafverzicht offen (Franz Riklin, Basler Kommentar - Strafrecht I, 2. Auflage,
Basel 2007, Vor Art. 52 f. N 18 und 24-29; Felix Bommer, Bemerkungen zur
Wiedergutmachung, forumpoenale 3/2008, S.175 - 177; Silvan Flückiger, Art.
66bis StGB/Art. 54 f. StGBneu - Betroffenheit durch Tatfolgen, Straftatfolgen
als Einstellungsgrund und Strafersatz? Bern 2006, S. 79; a.M. Schwarzenegger/
Hug/Jositsch, a.a.O., S. 68; Jositsch, a.a.O., S. 9).
Die unterschiedlichen Rechtsfolgen in den verschieden Verfahrensstadien sind
vom Gesetzgeber gewollt. Nur bei ganz offensichtlichen Fällen soll bereits den
Untersuchungsbehörden die Möglichkeit gegeben werden, ein Verfahren gar nicht
an die Hand zu nehmen und gegebenenfalls einzustellen, um ein langes und
aufwändiges Verfahren zu vermeiden, das einerseits für die Betroffenen eine
Belastung darstellen kann und andererseits dem Grundsatz der Prozessökonomie
zuwiderlaufen würde. Im Gerichtsverfahren andererseits wäre eine reine
Wiedergutmachung ohne jede strafrechtliche Komponente der Strafe unterlegen.
Die wesentlichen Abschreckungselemente des Strafrechts bleiben nur erhalten,
wenn man die Strafdrohung, die staatliche Strafverfolgung, das Strafverfahren
und den strafrechtlichen Schuldspruch neben der Wiedergutmachung beibehält
(vgl. Heinz Schöch, Empfehlen sich Anmerkungen oder Ergänzungen bei den
strafrechtlichen Sanktionen, ohne Freiheitsentzug, Gutachten C am 59. deutschen
Juristentag, München 1992 zum Allgemeinen Entwurf zur Wiedergutmachung C 64).
Mit dieser Differenzierung schuf der Gesetzgeber die Möglichkeit, dem
Einzelfall gerecht zu werden und dem Grundsatz besser zu genügen, Gleiches
gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln (Obergericht des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, Urteil vom 12. September 1996 zu Art. 66bis aStGB, ZR 1997, Nr.
59, S. 153, vom Bundesgericht bestätigt: Entscheid 6S.4/1997 vom 4. Februar
1997).

2.4 Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, dass die Vorinstanz Art. 53 StGB
verletzt hat, als sie von der Vereinbarung zwischen den Beschwerdegegnern bloss
Vormerk nahm und den Strafprozess als erledigt abschrieb. Eine Einstellung
aufgrund Wiedergutmachung ist nach dem Ausgeführten im Gerichtsverfahren von
Bundesrechts wegen ausgeschlossen. Abweichendes kantonales Strafprozessrecht
ist insoweit unbeachtlich (Art. 49 Abs. 1 BV). Bei der erneuten Befassung wird
die Vorinstanz bei gegebenen Tatbestandsvoraussetzungen einen Schuldspruch
auszufällen haben. Dabei wird sie sich in Bezug auf die Vorwürfe gegen den
Beschwerdegegner I vorab auch mit der Frage des Strafantragsrückzugs
auseinandersetzen müssen. Sofern die von der Beschwerdeführerin vorliegend
bestrittenen Voraussetzungen der Wiedergutmachung nach Art. 53 StGB (bedingter
Strafvollzug; öffentliches Interesse an der Strafverfolgung) gegeben sind, wird
sie von einer Bestrafung abzusehen haben.

3.
Bei diesem Ausgang sind die Kosten grundsätzlich den unterliegenden
Beschwerdegegnern aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdegegner I
ersucht jedoch um unentgeltliche Rechtspflege. Seine Bedürftigkeit ist
ausgewiesen und sein Gesuch, in welchem er sich mit eingehender Begründung den
Ausführungen und dem Beschluss des Obergerichts anschliesst, war nicht
aussichtslos. Die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist ihm
demnach zu gewähren (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Obergerichts des Kantons
Zürich vom 21. April 2008 aufgehoben und die Angelegenheit zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege des Beschwerdegegners I wird
gutgeheissen. Es werden ihm keine Kosten auferlegt. Seinem Vertreter,
Rechtsanwalt lic. iur. Christian Koch, wird eine Entschädigung von Fr. 2'000.--
aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

3.
Dem Beschwerdegegner II werden Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. November 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Thommen