Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.516/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_516/2008, 6B_28/2009

Urteil vom 16. Juli 2009
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Ferrari,
Gerichtsschreiber Briw.

Parteien
6B_28/2009
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Steiner,
Beschwerdegegner,

und

6B_516/2008
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Steiner,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Versuchte vorsätzliche Tötung; Zwischenentscheid; Willkür,

Beschwerden gegen den Sitzungsbeschluss des Kassationsgerichts des Kantons
Zürich vom 1. Dezember 2008 und das Urteil des Geschworenengerichts des Kantons
Zürich vom 5. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich erhob am 23. Januar 2007 gegen
X.________ Anklage wegen mehrfacher versuchter vorsätzlicher Tötung, weil er am
23. Mai 2005 vor einem Nachtclub im Zürcher Niederdorf mit drei von fünf
abgefeuerten Schüssen aus einem kleinkalibrigen Revolver A.________ und
B.________ getroffen hatte (Urteil des Geschworenengerichts S. 152). Zuvor
waren das gegen die Geschädigten eröffnete Verfahren wegen Körperverletzung
durch die Staatsanwaltschaft am 19. Mai 2006 eingestellt und der gegen diesen
Einstellungsentscheid von X.________ geführte Rekurs von der Einzelrichterin
des Bezirks Zürich am 18. Oktober 2006 abgewiesen worden.
Das Geschworenengericht sprach am 5. Juli 2007 X.________ schuldig der
versuchten vorsätzlichen Tötung z.N. von A.________, der mehrfachen einfachen
Körperverletzung z.N. von A.________ und B.________, der mehrfachen einfachen
Körperverletzung z.N. von C.________ und D.________, der Drohung sowie der
Widerhandlung gegen das Waffengesetz, sprach ihn aber vom Vorwurf der
versuchten vorsätzlichen Tötung z.N. von B.________ frei. Es bestrafte ihn mit
7 Jahren Freiheitsstrafe sowie Fr. 250.-- Busse und ordnete eine ambulante
Behandlung gemäss Art. 63 Abs. 1 StGB an.
Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hiess am 1. Dezember 2008 eine
Nichtigkeitsbeschwerde von X.________ gut, hob das Urteil des
Geschworenengerichts auf und wies die Sache im Sinne der Erwägungen zur
Neubeurteilung an dieses zurück.

B.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen vom 23. Juni 2008 (Verfahren 6B_516
/2008) mit dem Antrag, das Urteil des Geschworenengerichts aufzuheben, die
Sache zur Neubeurteilung zurückzuweisen und ihm die unentgeltliche Rechtspflege
zu gewähren.
Das Bundesgericht teilte X.________ am 15. Dezember 2008 mit, nach der
kassationsgerichtlichen Aufhebung des Urteils des Geschworenengerichts werde
das bundesgerichtliche Verfahren 6B_516/2008 voraussichtlich als gegenstandslos
geworden abgeschrieben. In seiner Stellungnahme vom 18. Dezember 2008 bringt
X.________ vor, er habe seine Beschwerde wegen des Verhaltens des
Geschworenengerichts erheben müssen, weshalb dieses auch die
Gegenstandslosigkeit zu verantworten habe. Der Kanton Zürich sei gemäss Art. 68
BGG zu einer Entschädigung von Fr. 3'000.-- zu verpflichten. Ansonsten habe er
gegen den vorgesehenen Entscheid nichts einzuwenden.

C.
Die Oberstaatsanwaltschaft führt Beschwerde in Strafsachen vom 15. Januar 2009
(Verfahren 6B_28/2009) mit dem Antrag, den Beschluss des Kassationsgerichts
wegen willkürlicher Anwendung der §§ 236, 244, 264 sowie 430 Abs. 1 Ziff. 4
StPO/ZH aufzuheben und die Sache zurückzuweisen, damit das Kassationsgericht
auf die (weiteren) von X.________ erhobenen Willkürrügen eingehe, die es im
angefochtenen Urteil (noch) nicht beurteilt habe.

Erwägungen:

1.
Nach den Feststellungen des Kassationsgerichts beantragte die
Staatsanwaltschaft im Anschluss an die geschworenengerichtliche
Zeugeneinvernahme und Befragung von X.________, die Einstellungsverfügung vom
19. Mai 2006 sowie den Rekursentscheid vom 18. Oktober 2006 (oben E. A) zu den
Akten zu nehmen. Das Geschworenengericht nahm die beiden Entscheide gegen den
Willen von X.________ zu den Akten, worauf dieser beantragte, die Geschworenen
wegen Befangenheit in den Ausstand zu versetzen. Das Geschworenengericht wies
diesen Antrag ab.
Vor dem Kassationsgericht machte X.________ geltend, die Aktenproduktion
verletze den Unmittelbarkeitsgrundsatz, und die Geschworenen hätten damit eine
bereits vorgenommene richterliche Würdigung des Sachverhalts vor sich gehabt.
Das Kassationsgericht beurteilt die Aktenproduktion als formell und inhaltlich
unzulässig. Die Ausstandsfrage werde das Geschworenengericht auf dieser
Grundlage neu zu beurteilen haben, wobei die Richter nicht schon wegen der
Rückweisung als befangen oder vorbefasst zu gelten hätten. Ebenso wenig müssten
diese bereits wegen der unzulässigen Aktenproduktion den Anschein der
Befangenheit erwecken. Weil das Geschworenengericht aber allenfalls in neuer
Besetzung urteilen werde, sei auf jene die Begutachtung und den Sachverhalt
betreffenden Willkürrügen nicht weiter einzugehen.

2.
Beim angefochtenen Beschluss des Kassationsgerichts handelt es sich um einen
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG, so dass die Beschwerde nur unter
den Voraussetzungen dieser Bestimmung zulässig ist.

2.1 Die Staatsanwaltschaft führt aus, mit der kassationsgerichtlichen Auslegung
der §§ 236, 244, 264 und 430 Abs. 1 Ziff. 4 StPO/ZH würde für die
Aktenproduktion vor Geschworenengericht eine krass unverhältnismässige,
überspitzt formalistische und die materielle Rechtsanwendung unhaltbar
erschwerende Formstrenge zur Anwendung gelangen. Diese Praxis zur
Aktenproduktion könnte von ihr in Zukunft nicht mehr behoben werden. Darin
liege ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit.
a BGG, weshalb die Beschwerde zulässig sei.

2.2 Die Bestimmung von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG wurde im Wortlaut aus Art. 87
Abs. 2 aOG übernommen. Das Bundesgericht bezieht die bisherige Praxis dazu mit
ein. Nach dieser Praxis muss der nicht wieder gutzumachende Nachteil
rechtlicher Natur und somit auch mit einem für die beschwerdeführende Partei
günstigen Endentscheid nicht oder nicht vollständig zu beheben sein (BGE 134
III 188 E. 2.1; 133 IV 137 E. 2.3, 139 E. 4). Dies ist etwa der Fall, wenn der
umstrittene Zwischenentscheid mit dem Endentscheid nicht mehr angefochten
werden kann, so dass eine bundesgerichtliche Überprüfung nicht möglich ist (BGE
127 I 92 E. 1c). Hingegen genügt ein tatsächlicher Nachteil wie die
Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens nicht (BGE 133 IV 139 E. 4; 128 I
177 E. 1.1; 127 I 92 E. 1c). Wurden allerdings gegen einen
Rückweisungsentscheid, in dem über eine Frage des Bundesrechts für die untere
Instanz definitiv entschieden worden war, gleichzeitig staatsrechtliche
Beschwerde und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde (Art. 268 aBStP) erhoben,
so trat das Bundesgericht auf die staatsrechtliche Beschwerde ein,
vorausgesetzt die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde war zulässig (BGE 128 I
177 E. 1.2.3; für den Zivilprozess BGE 127 I 92 E. 1b). Ferner konnte unter
Umständen auch nach der Praxis zu Art. 87 Abs. 2 aOG vom Erfordernis des nicht
wieder gutzumachenden Nachteils aus prozessökonomischen Gründen abgesehen
werden (BGE 132 I 13 E. 1.1; 127 I 92 E. 1d). Diese Praxis ist allerdings
restriktiv. Ein Zwischenverfahren ist nur gerechtfertigt, wenn zwingende
prozessökonomische Gründe eine frühere Befassung gebieten und der rechtliche
Nachteil auch durch einen günstigen Entscheid in der Sache nicht mehr behoben
werden kann (BGE 134 III 188 E. 2.2). Dabei ist es nicht nötig, dass sich der
Nachteil schon im kantonalen Verfahren durch einen günstigen Endentscheid
beheben lässt. Es reicht aus, wenn er in einem anschliessenden
bundesgerichtlichen Verfahren beseitigt werden kann (BGE 134 III 188 E. 2.1).

2.3 Eine nicht verfahrensabschliessende Rückweisung eines Strafverfahrens
begründet grundsätzlich keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne
von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG, auch wenn sie eine Verfahrensverzögerung nach
sich zieht (BGE 133 IV 139 E. 4; Urteile 6B_1005/2008 vom 22. Dezember 2008 und
6B_633/2008 vom 4. September 2008). Nachteile im Zusammenhang mit
Beweismassnahmen sind in der Regel rein tatsächlicher Natur und daher nur im
Rahmen von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG, nicht aber im Rahmen von Art. 93 Abs. 1
lit. a BGG beachtlich (BGE 134 III 188 E. 2.3; 133 IV 139 E. 4). Vorliegend
kommt die Variante von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG aufgrund der prozessualen
Situation nicht in Betracht. Nach ständiger Praxis des Bundesgerichts zu Art.
87 Abs. 2 aOG, die im Rahmen von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG weiterhin gilt,
liegt bei Zwischenentscheiden, welche die Beweisführung betreffen,
grundsätzlich kein nicht wieder gutzumachender Nachteil rechtlicher Natur vor
(Urteile 1B_121/2007 vom 25. Juni 2007, 1B_81/2007 vom 29. Mai 2007 sowie
4P.335/2006 vom 27. Februar 2007 E. 1.2.4).

2.4 Somit ist auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft nicht einzutreten. Mit
ihr wird eine verfassungswidrige Auslegung und Anwendung des kantonalen
Prozessrechts geltend gemacht, weil das Kassationsgericht beantragte
Beweismittel nicht zugelassen hatte. Dabei handelt es sich um eine typische
Beweismassnahme. Die gerügte Praxis des Kassationsgerichts kann mit dem
Endentscheid (Art. 93 Abs. 3 BGG; vgl. Urteil 4P.335/2006 vom 27. Februar 2007
E. 1.2.4) sowie in künftigen Anwendungsfällen vor Bundesgericht angefochten
werden. Die erwähnten Ausnahmekonstellationen (oben E. 2.2 sowie Urteil 4P.335/
2006 vom 27. Februar 2007 E. 1.2.4 zu weiteren Ausnahmen) sind nicht gegeben.
Ein nicht wieder gutzumachender Nachteil für die Staatsanwaltschaft ist nicht
ersichtlich.
Der in ihrem amtlichen Wirkungskreis tätigen Staatsanwaltschaft sind keine
Gerichtskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG).

3.
Wie erwähnt, hob das Kassationsgericht das Urteil des Geschworenengerichts vom
5. Juli 2007 auf. Damit ist das Anfechtungsobjekt des Verfahrens 6B_516/2008
(oben E. B) dahingefallen und die Beschwerde als gegenstandslos geworden am
Geschäftsverzeichnis abzuschreiben. Praxisgemäss sind für diesen
Abschreibungsentscheid keine Kosten zu erheben. Über das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ist indessen trotz der Gegenstandslosigkeit der
Beschwerde zu befinden. Das Gesuch ist gutzuheissen, wenn die Vorbringen des
Bedürftigen jedenfalls vertretbar sind (Verfügung 6B_287/2008 vom 19. Januar
2009).
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe sich mit seiner Schussabgabe auf
A.________ nicht der versuchten vorsätzlichen Tötung (Art. 111 i.V.m. Art. 22
Abs. 1 aStGB) schuldig gemacht. Wer mit einer kleinkalibrigen Waffe auf einen
Menschen schiesse, nehme dessen Tod nicht in Kauf. Nur bei ganz besonders
unglücklichen Umständen sei mit tödlichen Verletzungen zu rechnen. Das Risiko
sei bei Null gelegen. Sein Fall sei mit dem Urteil 6S.253/1999 vom 12. Januar
2000 nicht vergleichbar.
Der Beschwerdeführer richtet sich im Wesentlichen gegen die tatsächlichen
Feststellungen des Geschworenengerichts (zusammenfassend Urteil S. 151 - 154,
zur potentiell tödlichen Wirkung der Projektile und zum subjektiven Sachverhalt
Urteil S. 114 - 122), indem er lediglich seinen Standpunkt vertritt. In
tatsächlicher Hinsicht handelt es sich beim Urteil des Geschworenengerichts
indessen nicht um ein letztinstanzliches Urteil (der Beschwerdeführer hat
dieses Urteil denn auch beim Kassationsgericht angefochten), so dass insoweit
auf die Beschwerde nicht einzutreten wäre. Daher wäre der bundesgerichtlichen
Prüfung der Tatbestandsmässigkeit der vorinstanzlich festgestellte Sachverhalt
zugrunde zu legen (Art. 105 Abs. 1 BGG), so dass die Beschwerde als
aussichtslos erscheint. Entsprechend ist das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege abzuweisen und keine Parteientschädigung gemäss Art. 64 Abs. 2 BGG
auszurichten. Auch eine Entschädigung gemäss Art. 68 BGG kommt bei diesem
Verfahrensausgang nicht in Betracht.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft im Verfahren 6B_28/2009 wird nicht
eingetreten.

2.
Die Beschwerde von X.________ im Verfahren 6B_516/2008 wird als gegenstandslos
geworden am Geschäftsverzeichnis abgeschrieben.

3.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

4.
Es werden keine Kosten erhoben und keine Parteientschädigungen ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kassationsgericht des Kantons Zürich und
dem Geschworenengericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Juli 2009

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Favre Briw