Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.49/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_49/2008/bri

Urteil vom 15. Mai 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Favre, Zünd,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Thierry P. Julliard,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft, Bahnhofplatz 3a, 4410 Liestal,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Entschädigung wegen ungerechtfertigter Strafverfolgung,

Beschwerde gegen den Beschluss des Verfahrensgerichts in Strafsachen des
Kantons Basel-Landschaft vom 15. Oktober 2007.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft stellte am 30. Oktober 2006 das von
A.________ und B.________ gegen X.________ angestrengte Strafverfahren wegen
Diebstahls und Betrugs ein. Nach der Rechtsmittelbelehrung kann dieser
Beschluss innert 10 Tagen beim Verfahrensgericht mit Beschwerde angefochten
werden. Die angeschuldigte Person wird zudem darauf hingewiesen, dass sie
gemäss § 33 Abs. 4 StPO innert 30 Tagen seit Zustellung des
Einstellungsbeschlusses bei der Staatsanwaltschaft "Antrag auf angemessene
Entschädigung für ungerechtfertigte Haft, für Anwaltskosten sowie für
anderweitige Nachteile" stellen könne.

Am 22. Januar 2007 schrieb das Verfahrensgericht das von A.________ und
B.________ angehobene Beschwerdeverfahren ab, nachdem sie die Beschwerde innert
Frist nicht begründet hatten.

Am 26. Januar 2007 stellte X.________ bei der Staatsanwaltschaft eine Forderung
gegen den Kanton Basel-Landschaft in Höhe von Fr. 14'940.20 als Entschädigung
und Genugtuung für die durch das Strafverfahren erlittenen Nachteile.

Am 3. Mai 2007 trat die Staatsanwaltschaft auf das Begehren wegen Verspätung
nicht ein.

Das Verfahrensgericht in Strafsachen wies die Beschwerde von X.________ am 15.
Oktober 2007 ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen Entscheid des
Verfahrensgerichts aufzuheben und die Sache an die Staatsanwaltschaft zur
Beurteilung seiner Entschädigungs- und Genugtuungsbegehren zurückzuweisen.
Ausserdem sei ihm für das Verfahren vor dem Verfahrensgericht eine angemessene
Parteientschädigung zuzusprechen und für das Verfahren vor Bundesgericht
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
Das Verfahrensgericht und die Staatsanwaltschaft beantragen in ihren
Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen bzw. sie abzuweisen, soweit darauf
einzutreten sei.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer will vom Kanton Basel-Landschaft für die (angeblich)
ungerechtfertigte Haft und weitere durch das Strafverfahren zu Unrecht
erlittene Nachteile entschädigt werden.

Diese Forderungen haben zwar insoweit einen Zusammenhang mit dem
Strafverfahren, als sie ihren Rechtsgrund in einem (rechtmässigen oder
rechtswidrigen) Verhalten der Strafverfolgungsbehörden - z.B. in der Anordnung
von Untersuchungshaft - und dem daraus entstandenen Schaden bzw. der dadurch
bewirkten seelischen Unbill haben. Der Sache nach handelt es sich um
Haftungsansprüche gegen den Kanton Basel-Landschaft, mithin um auf kantonales
öffentliches Recht gestützte vermögensrechtliche Ansprüche. Anders als
Zivilansprüche, die Kraft ausdrücklicher Bestimmung in Art. 78 Abs. 2 lit. a
BGG mit strafrechtlicher Beschwerde vorgebracht werden müssen, wenn sie
zusammen mit der Strafsache zu behandeln sind, ist die Behandlung derartiger
durch Strafverfahren ausgelöster Staatshaftungsansprüche in Art. 78 ff. BGG
nicht ausdrücklich geregelt. Die Botschaft des Bundesrates vom 28. Februar 2001
zur Totalrevision der Bundesrechtspflege (BBl 2001 S. 4202 ff., insbesondere S.
4313 f.) schweigt sich dazu aus, ebenso, soweit ersichtlich, die Literatur. Ihr
Zusammenhang mit dem Strafverfahren ist nicht so eng, dass sie sinnvollerweise
nur in diesem mitbeurteilt werden können, wie dies für die Verfahrens- und
Parteikosten der Fall ist. Sie unterliegen daher, insbesondere auch mangels
einer Art. 78 Abs. 2 lit. a BGG entsprechenden Ausnahmeregelung für
öffentlich-rechtliche Forderungen, grundsätzlich der dafür vorgesehenen
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten im Sinne der Art. 82 ff.
BGG. Für deren Behandlung ist die strafrechtliche Abteilung zuständig (Art. 30
Abs. 1 lit. c Ziff. 1 und Art. 33 Bundesgerichtsreglement; Entscheid 6B_300/
2007 vom 13. November 2007, E. 1.2).

Da der erforderliche Streitwert von 30'000 Franken nicht erreicht ist und der
Beschwerdeführer weder behauptet noch darlegt, es würden sich Rechtsfragen von
grundsätzlicher Bedeutung stellen (Art. 85 BGG), ist die Beschwerde als
subsidiäre Verfassungsbeschwerde im Sinne der Art. 113 ff. BGG
entgegenzunehmen.

2.
Umstritten ist einzig, ob der Beschwerdeführer seine Ansprüche rechtzeitig
geltend machte.

2.1 Nach dem einschlägigen § 33 Abs. 4 der basellandschaftlichen
Strafprozessordnung vom 3. Juni 1999 (StPO) ist der Entschädigungsantrag
"innert 30 Tagen nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens" zu
stellen. Staatsanwaltschaft und Verfahrensgericht vertreten, gestützt auf den
im Internet publizierten Entscheid des Verfahrensgerichts G 2002/0027, die
Auffassung, der Fristenlauf für Entschädigungsbegehren beginne bereits mit der
Zustellung des Einstellungsentscheids. Der Beschwerdeführer macht geltend, dies
widerspreche klarem kantonalem Recht und macht damit sinngemäss dessen
willkürliche Anwendung geltend, was zulässig ist.

2.2 Das Verfahrensgericht führt im angefochtenen Entscheid aus, § 33 Abs. 4
StPO könne sich nur auf die formelle, nicht die materielle Rechtskraft
beziehen. Formell rechtskräftig werde ein Beschluss in der Regel nach
unbenutztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. einem Entscheid der Behörde,
gegen den kein ordentliches Rechtsmittel mehr zulässig sei. In § 181 StPO werde
ausdrücklich geregelt, dass Urteile des Strafgerichts nach unbenütztem Ablauf
der Appellationsfrist, mit dem Rückzug der Appellation sowie dem Verzicht auf
diese rechtskräftig würden. In diesem Fall werde die Rechtskraft der Urteile
auf den Tag der Ausfällung zurückbezogen. Demgegenüber bestünden keine
speziellen Bestimmungen zur formellen Rechtskraft des Einstellungsbeschlusses.
Es stelle sich daher die Frage, ob dabei die Grundregel oder die spezielle
Regel von § 181 StPO zur Anwendung gelange. Diesbezüglich liege eine Lücke vor,
die es durch Auslegung zu füllen gelte.

Unter der Geltung der alten, bis Ende 1999 in Kraft stehenden
Strafprozessordnung habe gegolten, dass Entschädigungsbegehren bei
gerichtlichen Freisprüchen innerhalb eines Monats nach der Urteilsverkündung
einzureichen gewesen seien. Diese Praxis sei von der Überweisungsbehörde in
konstanter Praxis analog auf Verfahrenseinstellungen angewandt worden, indem
Entschädigungsbegehren innert eines Monats ab der Zustellung des
Einstellungsbeschlusses hätten eingereicht werden müssen. In der
Vernehmlassungsvorlage für die Revision sei vorgesehen gewesen, die Frist für
die Einreichung des Entschädigungsbegehrens wie bisher mit der Eröffnung des
Einstellungsbeschlusses beginnen zu lassen. Unklar und nicht nachvollziehbar
sei, weshalb § 33 Abs. 4 StPO nunmehr anders laute. In der zukünftigen
Schweizerischen Strafprozessordnung werde wiederum festgehalten, dass der
Beginn der Rechtskraft rückwirkend auf das Urteilsdatum festgelegt werde. Die
in der geltenden Strafprozessordnung festgestellte echte Gesetzeslücke sei
damit in Übereinstimmung mit dieser zukünftigen bundesrechtlichen und der
altrechtlichen kantonalen Regelung dahingehend zu füllen, dass die Frist für
Entschädigungsbegehren mit der Zustellung des Einstellungsbeschlusses zu laufen
beginne.

2.3 Der Beschwerdeführer rügt diese Auslegung zu Recht als willkürlich. Mit §
33 Abs. 4 StPO hat der Gesetzgeber den Fristenlauf für Entschädigungsbegehren
unmissverständlich geregelt: dem (ehemals) Angeschuldigten steht nach der
Einstellung des Strafverfahrens für allfällige Entschädigungsforderungen eine
Frist von 30 Tagen zur Verfügung ab dem Eintritt der Rechtskraft des
Entscheids, mithin ab dem Zeitpunkt, in dem (unter dem Vorbehalt einer späteren
Wiederaufnahme des Verfahrens) feststeht, dass es bei der Einstellung bleibt.
Da die Rechtskraft der Einstellungsbeschlüsse nicht speziell geregelt ist,
tritt die formelle Rechtskraft mit dem unbenützten Ablauf der Beschwerdefrist,
mit dem Rechtsmittelverzicht aller Beschwerdeberechtigten oder dem
rechtskräftigen Abschluss des Rechtsmittelverfahrens ein. Die Regelung ist
klar, abschliessend und vollständig, es liegt offensichtlich weder eine echte
noch eine unechte Gesetzeslücke vor, die es mit einer Auslegung contra legem zu
füllen gälte. Von einem gesetzgeberischen Versehen kann ohnehin nicht
ausgegangen werden, da § 33 Abs. 4 StPO erst im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens, mithin durch einen bewussten Eingriff des
Gesetzgebers, seine endgültige Fassung erhielt.

Die Verfahrensparteien müssen zudem in der Lage sein, über den Lauf von
Rechtsmittelfristen Klarheit zu erlangen, weshalb Verfahrensvorschriften nach
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung so auszulegen sind, wie sie vom
Rechtssuchenden vernünftigerweise verstanden werden dürfen (BGE 114 Ia 25 E.
3c; 97 I 100 E. 4). Es ist auch unter diesem Gesichtspunkt offensichtlich
unhaltbar, den Fristbeginn für Entschädigungsbegehren entgegen dem klaren
Gesetzestext von § 33 Abs. 4 StPO auf die Zustellung des
Einstellungsbeschlusses vorzuverlegen. Eine analoge Anwendung von § 181 StPO,
welche das Verfahrensgericht im angefochtenen Entscheid jedenfalls in Betracht
zieht, lehnt es in der Vernehmlassung zu Recht ausdrücklich ab (Vernehmlassung
S. 2).

2.4 Die gesetzgeberische Lösung ist zudem sachgerecht, es ist kein vernünftiger
sachlicher Grund dafür ersichtlich, den Fristenlauf für Entschädigungsbegehren
in einem Zeitpunkt beginnen zu lassen, in dem noch gar nicht feststeht, ob der
Einstellungsbeschluss je in Rechtskraft erwachsen wird. Deren Eintritt wird dem
Betroffenen zwar nicht in jedem Fall von Amtes wegen mitgeteilt. Im
vorliegenden Verfahren hat beispielsweise die Präsidentin des
Verfahrensgerichts dem Beschwerdeführer ihren Abschreibungsbeschluss vom 22.
Januar zugestellt. Vom unbenutzten Ablauf der dagegen offen stehenden
Beschwerdefrist und damit vom Eintritt der Rechtskraft hat sie ihm dagegen
keine Mitteilung gemacht und war dazu auch nicht verpflichtet. Es ist dem
Betroffenen indessen ohne weiteres zumutbar, sich bei der zuständigen Behörde
nach dem Eintritt der Rechtskraft zu erkundigen, wenn er die grosszügige
30-tägige Frist voll ausschöpfen will. Das führt entgegen der Auffassung des
Verfahrensgerichts auch nicht zu einer Verzögerung des
Entschädigungsverfahrens, da dieses ohnehin sistiert werden müsste, bis das
Strafverfahren rechtskräftig eingestellt ist.

2.5 Das Verfahrensgericht hat die Beschwerde von B.________ und A.________
gegen den Einstellungsbeschluss am 22. Januar 2007 abgeschrieben. Dieser
erwuchs nach dem zutreffenden Hinweis des Verfahrensgerichts in der
Vernehmlassung (S. 3 oben) nach Ablauf der gegen diesen Entscheid offen
stehenden 30-tägigen Rechtsmittelfrist in Rechtskraft. Damit war das vom
Beschwerdeführer am 26. Januar 2007 eingereichte Entschädigungsbegehren nicht
verspätet, sondern im Gegenteil verfrüht, da das Strafverfahren in diesem
Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig eingestellt war. Der Beschwerdeführer hätte
nach den obigen Ausführungen die rechtskräftige Einstellung des Strafverfahrens
abwarten können, da erst diese den Fristenlauf für das Entschädigungsbegehren
in Gang setzt. Die Staatsanwaltschaft hat dessen Begehren vom 26. Januar 2007
daher zu Unrecht als verspätet zurückgewiesen. Der angefochtene Entscheid des
Verfahrensgerichts, dass dieses Vorgehen schützte, ist damit aufzuheben, die
Willkürrüge ist begründet.

3.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid des
Verfahrensgerichts aufzuheben. Da es nicht Sache des Bundesgerichts sein kann,
über die dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor Verfahrensgericht
zustehende Parteientschädigung zu befinden, ist die Sache an dieses
zurückzuweisen, um darüber neu zu befinden, und es an die Staatsanwaltschaft
weiterzuleiten, um das Entschädigungsbegehren an die Hand zu nehmen. Im Streit
liegen Entschädigungsforderungen gegen den Kanton Basel-Landschaft und damit
Vermögensinteressen, weshalb dieser ausgangsgemäss die Gerichtskosten zu tragen
hat (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Ausserdem hat er dem Beschwerdeführer eine
angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 64 BGG); dessen Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des
Verfahrensgerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 15. Oktober 2007
aufgehoben. Die Sache wird an das Verfahrensgericht zurückgewiesen zur
Festlegung einer Parteientschädigung und zur Weiterleitung an die
Staatsanwaltschaft, um das Entschädigungsbegehren an die Hand zu nehmen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Kanton Basel-Landschaft
auferlegt.

3.
Der Kanton Basel-Landschaft hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verfahrensgericht in Strafsachen des
Kantons Basel-Landschaft schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 15. Mai 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Störi