Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.483/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_483/2008/sst

Urteil vom 12. November 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Mathys,
Gerichtsschreiber Stohner.

Parteien
X.________,
Y.________,
Beschwerdeführer,
beide vertreten durch Rechtsanwalt Titus Bossart,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8510 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte (Art. 169 StGB),

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 15. April
2008.

Sachverhalt:

A.
Das Obergericht des Kantons Thurgau befand X.________ und Y.________ am 15.
April 2008 zweitinstanzlich der Verfügung über mit Beschlag belegte
Vermögenswerte (Art. 169 StGB) schuldig und verurteilte sie zu einer Geldstrafe
von zehn Tagessätzen zu Fr. 100.-- (X.________) resp. zu Fr. 80.-- (Y.________)
bei einer Probezeit von zwei Jahren sowie zu einer Busse von Fr. 800.--
(X.________) resp. Fr. 700.-- (Y.________).

B.
X.________ und Y.________ führen Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen,
das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 15. April 2008 und
entsprechend auch das Urteil der Bezirkskommission Frauenfeld vom 16. November
/ 18. Dezember 2007 seien aufzuheben und sie seien von Schuld und Strafe
freizusprechen. Die Verfahrenskosten seien vollumfänglich vom Staat zu tragen
und sie seien für ihre Rechtsvertretung zu entschädigen. Eventualiter für den
Fall eines Schuldspruchs seien die ausgesprochenen Strafen auf die Hälfte zu
reduzieren. Ausserdem sei ihrer Beschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau beantragt die Abweisung der
Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Obergericht hat sich innert
Frist nicht vernehmen lassen.
Erwägungen:

1.
1.1 Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten, da sie unter Einhaltung
der gesetzlichen Frist (Art. 100 Abs. 1 BGG) und Form (Art. 42 BGG) von den mit
ihren Anträgen unterliegenden beschuldigten Personen (Art. 81 Abs. 1 lit. b
Ziff. 1 BGG) eingereicht wurde und sich gegen einen von einer letzten
kantonalen Instanz (Art. 80 BGG) gefällten Endentscheid (Art. 90 und 95 BGG) in
Strafsachen (Art. 78 Abs. 1 BGG) richtet.

1.2 Soweit die Beschwerdeführer jedoch die Aufhebung des erstinstanzlichen
Urteils beantragen, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden, denn
Anfechtungsobjekt bildet einzig das kantonal letztinstanzliche Urteil der
Vorinstanz vom 15. April 2008 (Art. 80 Abs. 1 BGG).

2.
2.1 Die Vorinstanz geht von folgendem Sachverhalt aus: Die Beschwerdeführer
sind Kollektivgesellschafter einer Pizzeria. Gegenüber A.________, welcher bis
zum 15. Oktober 2006 in der Pizzeria der beiden Beschwerdeführer tätig war,
wurde im Umfang von Fr. 210.-- pro Monat und der Hälfte des 13. Monatslohns
eine Lohnpfändung verfügt. Dies wurde den beiden Beschwerdeführern mit
Schreiben des Betreibungsamts der Stadt Wil vom 11. Mai 2006 angezeigt, und sie
wurden gestützt auf Art. 99 SchKG darauf hingewiesen, dass die gepfändeten
Lohnbeträge rechtsgültig nur noch an das Betreibungsamt geleistet werden
könnten. Die beiden Beschwerdeführer lieferten in der Folge jedoch trotz
mehrmaliger Mahnung die gepfändeten Quoten August bis 15. Oktober 2006 von
insgesamt Fr. 525.-- (August Fr. 210.--, September Fr. 210.-- und hälftiger
Oktober Fr. 105.--) dem Betreibungsamt nicht ab, sondern zahlten diese ihrem
Arbeitnehmer A.________ aus respektive verrechneten sie mit dessen
Lohnvorbezügen bzw. Schulden bei ihnen. Am 5. Juni 2007 überwiesen die
Beschwerdeführer schliesslich die Fr. 525.-- dem Betreibungsamt. Am 5.
September 2007 erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau Anklage gegen
die beiden wegen Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte (Art. 169
StGB).

2.2 Die Vorinstanz hat erwogen, die Beschwerdeführer hätten im Umfang von Fr.
525.-- über gepfändeten Lohn verfügt. Die Tatsache, dass sie schliesslich unter
dem Druck des laufenden Strafverfahrens am 5. Juni 2007 dem Betreibungsamt die
Fr. 525.-- überwiesen hätten, ändere an ihrer Strafbarkeit nichts. Der
Tatbestand des Verstrickungsbruchs gemäss Art. 169 StGB setze keinen konkreten
Vermögensschaden oder Verlusteintritt bei den Gläubigern voraus, da ansonsten
dem Ziel des Gesetzes, ein ordnungsgemässes und zügiges
Zwangsvollstreckungsverfahren sicherzustellen, nicht Rechnung getragen werden
könnte. Ausreichend sei, dass - wie vorliegend der Fall - das
Betreibungsverfahren zum Nachteil der Gläubiger erheblich beeinträchtigt bzw.
deutlich verzögert werde. Die Beschwerdeführer hätten zumindest
eventualvorsätzlich gehandelt und damit auch den subjektiven Tatbestand von
Art. 169 StGB erfüllt (angefochtenes Urteil S. 5 - 9).

2.3 Die Beschwerdeführer rügen unter Bezugnahme auf BGE 86 IV 170 eine
Verletzung von Art. 169 StGB. Eine Lohnpfändung könne nur gegenüber dem
Arbeitnehmer selber, nicht aber gegenüber dem Arbeitgeber angeordnet werden.
Mit der Mitteilung der Lohnpfändung gemäss Art. 99 SchKG durch das
Betreibungsamt sei nicht in ihr Vermögen eingegriffen worden, denn gepfändeter
Schuldner sei der Arbeitnehmer, und bei einer gepfändeten Lohnquote sei nur die
Forderung, nicht aber das Geld des Arbeitgebers gepfändet. Dieser sei mithin
frei, über sein Geld so zu verfügen, wie es ihm beliebe, und laufe einzig
Gefahr, doppelt bezahlen zu müssen. Im Übrigen fehle es auch an einem Schaden,
denn das Betreibungsverfahren sei nicht zum Nachteil der Gläubiger erheblich
beeinträchtigt bzw. deutlich verzögert worden (Beschwerde S. 4 - 8).
2.4
2.4.1 Gemäss Art. 169 StGB macht sich namentlich strafbar, wer eigenmächtig zum
Schaden der Gläubiger über einen Vermögenswert verfügt, der amtlich gepfändet
ist.
2.4.2 Die Beschwerdeführer berufen sich zutreffend auf BGE 86 IV 170, welcher
entgegen der Auffassung der Vorinstanz einschlägig ist. Wie im genannten
Entscheid dargelegt, wird dem Schuldner des Betriebenen gemäss Art. 99 SchKG
bei der Pfändung von Forderungen oder Ansprüchen angezeigt, dass er
rechtsgültig nur noch an das Betreibungsamt leisten könne. Diese Anzeige ist
jedoch kein Element der Lohnpfändung selbst, sondern bloss eine zu dieser
hinzutretende Massnahme zur wirksamen Geltendmachung des Pfändungsvollzugs. Als
solche kann sie weder allgemein die bisherige Stellung des Drittschuldners
verschlechtern noch insbesondere die Einbeziehung ihm gehörender
Vermögensstücke in den Pfändungsnexus bewirken. Denn Betriebener ist nicht er
(der Drittschuldner), sondern sein Gläubiger, weswegen durch die Lohnpfändung
auch nur dessen bereits vorhandene oder innerhalb eines Jahres auf Grund eines
Arbeitsverhältnisses eingehende Aktiven vom Pfändungsbeschlag erfasst werden.
Der Drittschuldner wird davon lediglich insofern berührt, als er auf
entsprechende Anzeige hin in Zukunft mit befreiender Wirkung bloss noch an das
Betreibungsamt zahlen kann. Darüber hinaus aber erfährt seine Stellung als
Schuldner durch die Lohnpfändung keinerlei Veränderung, und namentlich erwächst
seinem Gläubiger (bzw. dem Betreibungsamt) infolge der genannten Anzeige kein
zusätzlicher Anspruch auf Herausgabe eines der gepfändeten Lohnquote
entsprechenden, im Besitze des Lohnschuldners befindlichen Geldbetrages. Der
Drittschuldner ist demnach ungeachtet der betreibungsamtlichen Anzeige frei,
über sein Geld so zu verfügen, wie es ihm beliebt. Das Bundesgericht kam daher
zusammenfassend zum Schluss, der Arbeitgeber, der im Fall einer gegen seinen
Arbeitnehmer gerichteten Lohnpfändung auf betreibungsamtliche Anzeige hin die
gepfändete Lohnquote in Abzug bringe, den abgezogenen Geldbetrag aber nicht an
das Betreibungsamt abliefere, sondern anderweitig verwende, verfüge damit nicht
über eine amtlich gepfändete Sache, denn Pfändungsobjekt bilde bis zu ihrer
Tilgung ausschliesslich die Lohnforderung und nicht das Geld als solches.
2.4.3 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang, dass in der Botschaft über die
Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes
(Strafbare Handlungen gegen das Vermögen und Urkundenfälschung) sowie
betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die wirtschaftliche
Landesversorgung (Strafbestimmungen) vom 24. April 1991 (BBl 1991 969 ff.)
unter Bezugnahme auf BGE 86 IV 170 explizit ausgeführt wird, die
Nichtablieferung der gepfändeten Lohnquote durch den Arbeitgeber des Schuldners
falle nicht unter Art. 169 StGB, denn Gegenstand der Pfändung bilde
ausschliesslich die Lohnforderung. Hingegen werde das Verhalten durch Art. 159
StGB (Missbrauch von Lohnabzügen) erfasst (BBl 1991 1068).
Wie die Beschwerdeführer schliesslich zu Recht anführen, ist die
bundesgerichtliche Rechtsprechung auch in der Lehre auf Zustimmung gestossen
(Andreas Donatsch, Strafrecht III, Delikte gegen den Einzelnen, 9. Aufl. 2008,
S. 349; Günter Stratenwerth/Guido Jenny, Schweizerisches Strafrecht BT I, 6.
Aufl. 2003, § 23 N. 43).
2.4.4 Nach dem Gesagten ist an der in BGE 86 IV 170 begründeten Rechtsprechung
festzuhalten. Die Vorinstanz hat die Beschwerdeführer, welche Gelder ihres
Unternehmens statt zur Bezahlung der gepfändeten Lohnforderung anderweitig
verwendet haben, folglich zu Unrecht wegen Verfügung über mit Beschlag belegte
Vermögenswerte gemäss Art. 169 StGB bestraft. Vorliegend kann offen gelassen
werden, ob das Verhalten der Beschwerdeführer als Missbrauch von Lohnabzügen im
Sinne von Art. 159 StGB zu werten ist. Dieser Tatbestand bildet nicht
Gegenstand der Anklage, weshalb eine Verurteilung der Beschwerdeführer schon
von daher im bundesgerichtlichen Verfahren nicht in Betracht kommt.

3.
Die Beschwerde ist damit gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der
angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zur Freisprechung der
Beschwerdeführer vom Vorwurf der Verfügung über mit Beschlag belegte
Vermögenswerte (Art. 169 StGB) und zur Neuregelung der Kosten- und
Entschädigungsfolgen für das kantonale Verfahren an die Vorinstanz
zurückzuweisen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1
und 4 BGG). Der Kanton Thurgau hat den Beschwerdeführern für das
bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um
aufschiebende Wirkung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons
Thurgau vom 15. April 2008 aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen zu
neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Thurgau hat den Beschwerdeführern für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. November 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Stohner