Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.476/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_476/2008/sst

Urteil vom 8. Oktober 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Zünd,
Gerichtsschreiber Thommen.

Parteien
A.X.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Till Gontersweiler,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Kosten und Entschädigung etc.,

Beschwerde gegen den Sitzungsbeschluss des Obergerichts des Kantons Zürich,
III. Strafkammer, vom 7. Mai 2008.

Sachverhalt:

A.
B.X.________ wurden diverse Wirtschaftsstraftatbestände (Betrug, ungetreue
Geschäftsbesorgung, Veruntreuung, Urkundenfälschung etc.) vorgeworfen. Die
Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Zürich war auf den 11. - 13. Mai 2005
angesetzt. Am 12. Mai 2005 erlag B.X.________ den Folgen eines Suizidversuchs
vom Vortag.

B.
Den beteiligten Parteien wurde Gelegenheit zur Stellungnahme zum Kosten- und
Entschädigungspunkt eingeräumt. Mit Beschluss vom 7. Juli 2005 wurde auf die
Anklage wegen Eintritts eines Prozesshindernisses (Tod) nicht eingetreten und
das Verfahren abgeschrieben. Die Kosten der Untersuchung (Fr. 280'004.70) und
des gerichtlichen Verfahrens (Fr. 15'999) wurden dem Nachlass von B.X.________
zu 4/5 auferlegt. Die Gutachterkosten wurden dem Nachlass vollumfänglich
auferlegt. Dem Nachlass wurde eine Prozessentschädigung von Fr. 50'000.--
zugesprochen.

C.
Die Witwe des Angeschuldigten, A.X.________, rekurrierte gegen diesen
Kostenentscheid. Mit Sitzungsbeschluss vom 7. Mai 2008 wies das Obergericht des
Kantons Zürich den Rekurs ab.

D.
Dagegen erhebt A.X.________ Beschwerde in Strafsachen. Sie verlangt die
Aufhebung des obergerichtlichen Beschlusses.

E.
Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtet auf eine Stellungnahme zur
Beschwerde (Schreiben vom 15. September 2008; act. 10). Die
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt in ihrer Vernehmlassung vom
23. September 2008 die Abweisung der Beschwerde unter Verweis auf den
angefochtenen Beschluss (act. 11).

Erwägungen:

1.
Nach Art. 81 Abs. 1 BGG ist zur Erhebung einer Beschwerde in Strafsachen
berechtigt, wer am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen oder keine
Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a) und ein rechtlich geschütztes
Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheides hat
(lit. b). Die beiden Voraussetzungen von lit. a und b müssen kumulativ erfüllt
sein. Das bedeutet einerseits, dass auch die in Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG
beispielhaft aufgeführten Personen, die in der Regel beschwerdebefugt sind, im
Einzelfall ein Rechtsschutzinteresse nachzuweisen haben. Anderseits sind auch
dort nicht aufgeführte Personen beschwerdebefugt, sofern sie ein rechtlich
geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids haben (BGE
133 IV 121 E. 1.1). Die Nachkommen ehemaliger Angeschuldigter sind unter den
allgemeinen Legitimationsvoraussetzungen zur Beschwerde legitimiert (Urteil
6B_180/2008 vom 12. August 2008 E. 16).

1.1 Aus dem angefochtenen Beschluss geht hervor, dass A.X.________ die
Erbschaft ihres Ehemannes unter Inventar angenommen hat, während die Kinder des
Verstorbenen das Erbe ausgeschlagen haben (Beschluss S. 8). Sie nahm somit als
einzige Erbin am kantonalen Verfahren teil. Durch den angefochtenen Beschluss
ist sie insofern in rechtlich geschützten Interessen betroffen, als ihre
Erbschaft mit einer umfangreichen Verfahrenskostenforderung belastet ist. Auf
die Beschwerde ist daher einzutreten.

2.
Die Beschwerdeführerin bestreitet, dass für die Überbindung der
Verfahrenskosten an den Nachlass eine genügende gesetzliche Grundlage bestehe.

2.1 Die Vorinstanz kommt nach einer Auseinandersetzung mit der neusten
bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 132 I 117) zum Schluss, dass § 42 und §
189 des kantonalen Gesetzes betreffend den Strafprozess vom 4. Mai 1919
(Strafprozessordnung; LSZH 321; StPO/ZH) eine genügende gesetzliche Grundlage
für die Auflage der Verfahrenskosten an den Nachlass bilden (vgl. angefochtenen
Beschluss S. 9-13). Die Oberstaatsanwaltschaft schliesst sich dieser Sichtweise
an (vgl. Vernehmlassung vom 23. September 2008).
Die anwendbaren Bestimmungen der zürcherischen Strafprozessordnung lauten wie
folgt:
§ 42 StPO/ZH

1 Die Kosten einer eingestellten Untersuchung werden von der Staatskasse
getragen. Sie werden dem Angeschuldigten ganz oder teilweise auferlegt, wenn er
die Untersuchung durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen
verursacht hat oder wenn er die Durchführung der Untersuchung erschwert hat.
Sie werden dem Verzeiger ganz oder teilweise überbunden, wenn er seine Anzeige
in verwerflicher oder leichtfertiger Weise erstattet hat. Hat ein
Verfahrensbeteiligter, sei er Partei, Zeuge oder anderer Dritter, durch
verwerfliches Verhalten unnötige Kosten verursacht, werden sie ihm auferlegt.
§ 189 StPO/ZH
1 Wird der Angeklagte freigesprochen, so werden ihm die Kosten auferlegt, wenn
er die Einleitung der Untersuchung durch ein verwerfliches oder leichtfertiges
Benehmen verursacht oder ihre Durchführung erschwert hat. Er kann unter diesen
Voraussetzungen zu einer Entschädigung an den Geschädigten verurteilt werden.
2 Unter den gleichen Voraussetzungen können die Kosten und, wo es sich
rechtfertigt, eine Entschädigung an den Angeschuldigten dem Verzeiger auferlegt
werden.
3 Hat ein Verfahrensbeteiligter, sei er Partei, Zeuge oder anderer Dritter,
durch verwerfliches Verhalten unnötige Kosten verursacht, werden sie ihm
auferlegt, und er kann zur Leistung einer entsprechenden Entschädigung an
andere Beteiligte verpflichtet werden.
4 Bei Freisprechung wegen Schuldunfähigkeit entscheidet der Richter über den
Kostenpunkt unter Würdigung aller Umstände.
5 Im Übrigen werden die Kosten bei Freisprechung der Gerichtskasse überbunden.

2.2 Das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage (Legalitätsprinzip) im
Abgaberecht ist ein selbständiges verfassungsmässiges Recht, dessen Verletzung
unmittelbar gestützt auf Art. 127 Abs. 1 BV geltend gemacht werden kann (BGE
128 I 317 E. 2.2.1). In einem unlängst ergangenen Grundsatzurteil entschied das
Bundesgericht, dass die Kostenauflage an den Nachlass eines verstorbenen
Angeschuldigten ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung das Legalitätsprinzip
verletzt (BGE 132 I 117). Zu beurteilen war ein Fall aus dem Kanton Bern. Das
Berner Strafverfahrensgesetz sieht die Kostenauflage an den Nachlass nicht
ausdrücklich vor. Nach der Rechtsprechung bedürfen öffentliche Abgaben, wozu
auch Strafverfahrenskosten zählen, einer Grundlage in einem formellen Gesetz.
Darin müssen zumindest der Kreis der Abgabepflichtigen, der Gegenstand und die
Bemessungsgrundlagen der Abgabe festgelegt sein. Während die Anforderungen an
die Formellgesetzlichkeit der Bemessungsgrundlagen insoweit gelockert werden
können, als verfassungsrechtliche Prinzipien wie das Kostendeckungs- und
Äquivalenzprinzip eine Überprüfung erlauben, müssen der Kreis der
Abgabepflichtigen und der Gegenstand der Abgabe stets explizit im Gesetz
geregelt sein (BGE 123 I 248 E. 2; Adrian Hungerbühler, Grundsätze des
Kausalabgabenrechts, in: ZBl 2003 S. 516).

2.3 Das Bundesgericht hielt weiter fest, dass die Strafverfahrenskosten nicht
eine zu Lebzeiten begründete Schuld des Angeschuldigten sind, welche nach
seinem Tod durch Universalsukzession auf seinen Nachlass übergeht. Das Berner
Strafverfahrensgesetz sieht keine automatische Haftung des Angeschuldigten vor.
Eine Kostenpflicht entsteht nur im gerichtlich zu beurteilenden Ausnahmefall,
dass der Angeschuldigte das Verfahren in rechtlich vorwerfbarer Weise
veranlasst hat (Art. 390 Abs. 1 Ziff. 2 StrV/BE). Bis zum gerichtlichen
Kostenentscheid stehen weder die Zahlungspflicht noch der allfällige
Forderungsbetrag fest. Die Pflicht zur Kostentragung entsteht somit erst durch
die entsprechende Verfügung; diese wirkt nicht feststellend, sondern
rechtsgestaltend. Die Kostenverfügung wurde in jenem Fall erst nach dem Tod des
Angeschuldigten erlassen. Ein Rechtsübergang vom Angeschuldigten auf die Erben
war daher ausgeschlossen (BGE 132 I 117 E. 7.3).

2.4 Im vorliegenden Fall liegen die Verhältnisse identisch. Die Kostenauflage
an den Nachlass ist gesetzlich nicht vorgesehen und verletzt daher das
abgabenrechtliche Legalitätsprinzip (Art. 127 Abs. 1 BV). Auch im Kanton Zürich
werden Bestand und Höhe der Verfahrenskosten erst durch den Entscheid des
Gerichts und nach Massgabe des prozessualen Verschuldens festgelegt (vgl. § 42
und § 189 StPO/ZH). Was die Vorinstanz dagegen ins Feld führt, überzeugt nicht.
Dass in der Zürcher Strafprozessordnung im Gegensatz zum Berner
Strafverfahrensgesetz (Art. 389 und 390 StrV/BE) zuerst der schuldhaft
kostenverursachende Angeschuldigte und erst in zweiter Linie der Kanton für
ersatzpflichtig erklärt werden, trifft nur für die Kosten bei Freispruch (§ 189
StPO/ZH), nicht aber auf diejenigen bei Einstellung (§ 42 StPO/ZH) zu. Diese
systematischen Überlegungen ändern jedoch ebenso wenig an der fehlenden
gesetzlichen Festlegung des Abgabepflichtigen wie der Umstand, dass die
Kostenauflage an den Nachlass der ständigen Praxis der Zürcher Gerichte
entspricht. An der Sache vorbei geht auch das Argument, wonach die Tragung der
Kosten bei eingestelltem Verfahren in § 42 StPO und bei Freispruch in § 189
StPO ausdrücklich im Gesetz geregelt sei und sich daran auch bei Versterben des
Ersatzpflichtigen nichts ändere.
Wie das Bundesgericht im erwähnten Grundsatzentscheid bereits angedeutet hat,
fehlt auch im Kanton Zürich eine gesetzliche Grundlage für eine Kostenauflage
an den Nachlass (BGE 132 I 117 E. 6.1). Nach § 42 Abs. 1 StPO/ZH sind die
Kosten einer eingestellten Untersuchung in erster Linie von der Staatskasse zu
tragen. In verwerflicher Weise verursachte Kosten können dem Angeschuldigten
oder dem Verzeiger auferlegt werden. Anderen Verfahrensbeteiligten (Parteien,
Zeugen, Dritten) können die Kosten auferlegt werden, die sie durch
verwerfliches Verhalten verursacht haben. Eine entsprechende Regelung gilt für
die Kostenauflage bei Freispruch (§ 189 StPO/ZH).
Der Beschwerdeführerin wird nicht vorgeworfen, durch ihr eigenes Verhalten im
Verfahren von B.X.________ unnötige Kosten verursacht zu haben. Vielmehr werden
ihr die Verfahrenskosten überbunden, die ihr verstorbener Ehemann in
vorwerfbarer Weise verursacht haben soll. Der Entscheid über die Kostenauflage
erging vorliegend mit Beschluss vom 7. Juli 2005, mithin rund 2 Monate nach dem
Tod von B.X.________ (12. Mai 2005). Entgegen der Vorinstanz, welche sich in
diesem Punkt über das bundesgerichtliche Präjudiz hinwegsetzt (Beschluss S. 12
unten), handelt es sich beim Kostenentscheid nach dem Gesagten um einen
rechtsgestaltenden Beschluss. Die Kostenforderung entstand erst im Zeitpunkt
des Beschlusses. Damit konnte sie sich aber nicht mehr gegen B.X.________
richten. Ein erbrechtlicher Übergang war ausgeschlossen. Ebensowenig konnte
jedoch die Beschwerdeführerin direkt für kostenpflichtig erklärt werden. Für
den Fall des Versterbens Angeschuldigter benennt das Zürcher Strafprozessrecht
keine Personen, denen die Kosten auferlegt werden können. Es fehlt somit an
einer expliziten formellgesetzlichen Statuierung des Kreises abgabepflichtiger
Personen. Es besteht kein Anlass, die zürcherische Kostenregelung unter
Legalitätsgesichtspunkten milder zu beurteilen als die inhaltlich identischen
Berner Strafverfahrensbestimmungen. Die Beschwerde erweist sich somit als
berechtigt und der angefochtene Beschluss ist aufzuheben.

2.5 Bei diesen Ausgang erübrigt sich die Behandlung der weiteren Vorbringen. Es
braucht insbesondere nicht beurteilt zu werden, ob der ausführlich begründete
Vorwurf, der Angeschuldigte habe die Untersuchung durch (zivilrechtlich)
vorwerfbares Verhalten veranlasst, mit der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1
BV; Art. 6 Ziff. 2 EMRK) vereinbar ist. Auch die Entschädigungsregelung wird
neu zu beurteilen sein, zumal die Vorinstanz die Ausrichtung einer
Entschädigung unter Hinweis auf die nunmehr entfallene Kostenpflicht des
Nachlasses verweigert hat (angefochtener Beschluss S. 36 Ziff. 13; vgl. auch
Vernehmlassung der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich vom 23. September
2008; act. 11).

3.
Es werden keine Kosten erhoben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Zürich hat die
Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu
entschädigen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Sitzungsbeschluss des Obergerichts des
Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 7. Mai 2008 aufgehoben und die
Angelegenheit zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. Oktober 2008

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Thommen