Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.436/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_436/2008/sst

Urteil vom 21. Oktober 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Favre,
Gerichtsschreiber Briw.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch
Fürsprecher Peter Krähenbühl,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28,
4502 Solothurn, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Wiederaufnahme (Verkehrsregelverletzung),

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Solothurn,
Strafkammer, vom 22. April 2008.

Sachverhalt:

A.
X.________ wurde mit Strafverfügung der Staatsanwaltschaft des Kantons
Solothurn vom 17. Oktober 2007 mit Fr. 360.-- gebüsst, weil er am 20. Mai 2007
um 07.46 Uhr auf der A1 in Oberbuchsiten die zulässige Höchstgeschwindigkeit
von 120 km/h um 26 km/h (nach Abzug einer Sicherheitsmarge von 7 km/h) mit
seinem Personenwagen überschritten habe.
Am 2. November 2007 wurde X.________ diese Strafverfügung in Deutschland
zugestellt.
Am 14. November 2007 (Datum von Eingabe und Postaufgabe) erhob sein
Rechtsvertreter "vorsorglich Einsprache".
Am 14. Februar 2008 stellte dieser ein Wiederaufnahmebegehren gemäss § 208 der
Strafprozessordnung des Kantons Solothurn (StPO/SO). Er machte geltend, seine
Einsprache vom 14. November 2007 sei nicht innert der gesetzlichen Frist von 10
Tagen und damit verspätet erfolgt, womit die Strafverfügung in Rechtskraft
erwachsen sei. Gemäss § 208 StPO/SO sei die Wiederaufnahme wegen neuer
Tatsachen oder Beweismittel zulässig. Der Rechtsvertreter habe vom Zustelldatum
und der Fristversäumnis erst mit der Akteneinsicht vom 12. Februar 2008
Kenntnis erhalten. Wie in der Zwischenzeit habe in Erfahrung gebracht werden
können, sei X.________ am Datum der vorgeworfenen
Geschwindigkeitsüberschreitung um 10.00 Uhr an einer Feier seines Patenkindes
in Strassburg gewesen. Das bestätige die Mutter des Patenkindes mit Schreiben
vom 2. Dezember 2007. Eines seiner drei Fahrzeuge sei im Gebrauche eines engen
Verwandten in die Radarkontrolle geraten. Dass er selber gefahren wäre,
erscheine aufgrund der Zeitverhältnisse nicht glaubwürdig. In einem
Einspracheverfahren wäre er mit grösster Wahrscheinlichkeit freigesprochen
worden. Er beantragte, das Verfahren wieder aufzunehmen, vom Schreiben der
Mutter Kenntnis zu nehmen und ihn von der Widerhandlung gegen das
Strassenverkehrsgesetz freizusprechen.
Am 26. Februar 2008 verfügte das Richteramt Thal-Gäu, auf die Einsprache werde
(wegen verspäteter Einreichung) nicht eingetreten, es würden keine Kosten
erhoben und das Wiederaufnahmebegehren gehe zuständigkeitshalber an das
Obergericht.

B.
Am 12. März 2008 verfügte das Obergericht: (1.) Der Gesuchsteller habe bis zum
8. April 2008 einen Kostenvorschuss von Fr. 500.-- zu leisten. (2.) "Falls der
Vorschuss innerhalb der gesetzten Frist nicht geleistet [werde, trete] die
Strafkammer des Obergerichts auf die Wiederaufnahme nicht ein." Dazu verwies es
auf eine Fussnote in der Verfügung, in welcher der Wortlaut von § 169bis StPO/
SO zitiert wird. In der beiliegenden Rechnung mit Einzahlungsschein wurde auf
die Zahlungsmodalitäten bei Post und Bank hingewiesen und angefügt, im
Zweifelsfall sei zu beweisen, dass rechtzeitig bezahlt wurde.
Am 15. April 2008 (Eingang am 16. April 2008) teilte der Rechtsvertreter dem
Obergericht mit, zufolge eines kanzleiinternen EDV-Problems sei der
Kostenvorschuss erst am 10. April 2008 überwiesen worden. Seitens des
Obergerichts seien der Zahlungseingang am 14. April 2008 bestätigt worden und
er bei dieser Gelegenheit auf die Möglichkeit hingewiesen worden, "ein Gesuch
um Aufhebung der Säumnisfolgen gem. § 27 StPO zu stellen". Zur Zeit fehle es
aber noch an einer die Verspätung feststellenden Verfügung, respektive an einem
förmlichen Nichteintretensentscheid. Er bitte deshalb darum, das
Wiederaufnahmebegehren trotz der zweitägigen Verspätung in der Überweisung des
Kostenvorschusses an die Hand zu nehmen, ohne ihn auf den Weg der Beseitigung
von Säumnisfolgen zu verweisen. Er gehe nämlich davon aus, dass die
Gerichtskanzlei ihm richtigerweise eine Nachfrist zur Bezahlung des
Kostenvorschusses hätte ansetzen sollen, auch wenn dies die StPO/SO nicht
vorsehe (aber auch nicht ausschliesse). Das Unterlassen einer Mahnung nach
nicht fristgerecht erfolgter Vorschusszahlung erfülle nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts keinen schutzwürdigen Zweck. Eine solche Regelung hielte vor
der Verfassung nicht Stand und sei überspitzter Formalismus (mit Verweisung auf
BGE 95 I 1). Eine Nachfrist erübrige sich aber vorliegend, weil der Fehler
erkannt und der Vorschuss inzwischen geleistet worden sei.
Das Obergericht des Kantons Solothurn beschloss am 22. April 2008, auf das
Wiederaufnahmegesuch vom 14. Februar 2008 nicht einzutreten. Es hielt fest, die
fristgemässe Vornahme einer Prozesshandlung sei versäumt worden. Säumnisfolge
gemäss § 169bis StPO/SO sei, dass das Wiederaufnahmegesuch dahin falle. Anders
als Art. 62 Abs. 3 des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) sehe auch der Entwurf für
die zukünftige Schweizerische Strafprozessordnung keine Nachfrist vor. Der
Gesuchsteller sei darauf hingewiesen worden, er könne gestützt auf § 27 StPO/
SO, welche Bestimmung nach der kantonalen Praxis analog anzuwenden sei, ein
Gesuch um Aufhebung der Säumnisfolgen stellen. Er habe "dies ausdrücklich nicht
getan, sondern, wenn seinem Anliegen nicht stattgegeben werde könne, um eine
beschwerdefähige Verfügung ersucht". Somit sei auf das Wiederaufnahmegesuch
zufolge verspäteter Leistung des Kostenvorschusses nicht einzutreten.

C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, den Beschluss des
Obergerichts aufzuheben und dieses anzuweisen, auf das Wiederaufnahmegesuch
einzutreten.

Erwägungen:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer macht insbesondere gestützt auf BGE 95 I 1 zur
Hauptsache überspitzten Formalismus durch Verweigerung einer Zahlungsfrist
geltend. § 169bis StPO/SO erfülle keinen schutzwürdigen Zweck. Das
Zahlungsnachfristenregime von Art. 62 Abs. 3 BGG bezeuge zu seinen Gunsten eine
Rechtsentwicklung von einem unmittelbaren Nichteintreten hin zur Gewährung
einer Nachfrist.
1.1.1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsbehörden
Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung, auf Beurteilung innert
angemessener Frist (Art. 29 Abs. 1 BV) und auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs.
2 BV). Tritt eine Behörde auf eine ihr unterbreitete Sache nicht ein, obschon
sie darüber entscheiden müsste, begeht sie eine formelle Rechtsverweigerung
(BGE 117 Ia 116 E. 3a). Das aus Art. 29 Abs. 1 BV fliessende Verbot des
überspitzten Formalismus wendet sich gegen prozessuale Formstrenge, die als
exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum
blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in
unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft frei,
ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 128 II 139 E. 2a; 130 V 177 E.
5.4.1).
1.1.2 § 169bis StPO/SO in der Fassung vom 5. November 2003 regelt den
Kostenvorschuss bei Rechtsmitteln und lautet:
"Wer ein Rechtsmittel einlegt, kann von der Rechtsmittelinstanz zur Leistung
eines Kostenvorschusses verpflichtet werden. Wird der Vorschuss nicht
geleistet, fällt das Rechtsmittel dahin. Der Präsident kann die bedürftige
Partei auf Gesuch hin von der Vorschusspflicht befreien."
Wird der Kostenvorschuss nicht geleistet, fällt das Rechtsmittel dahin. §
169bis StPO/SO sieht (anders als etwa Art. 62 Abs. 3 des hier nicht anwendbaren
BGG) keine Nachfrist vor. Für den Fall der Säumnis wendet die kantonale Praxis
indessen § 27 StPO/SO über die "Aufhebung der Säumnisfolgen" analog an. Diese
Praxis entspricht grundsätzlich der vorgesehenen gesetzlichen Regelung von Art.
89 ff. der zukünftigen Schweizerischen Strafprozessordnung (vgl.
Referendumsvorlage, BBl 2007 6977).
Die Vorinstanz hat den Beschwerdeführer in der Verfügung des Kostenvorschusses
über die Folgen der Säumnis und nach eingetretener Säumnis über die Möglichkeit
der Aufhebung der Säumnisfolgen in Kenntnis gesetzt. Er hätte ein Gesuch
stellen können. Er hat dies, wie die Vorinstanz feststellt, ausdrücklich nicht
getan. Eine Verfassungsverletzung ist nicht ersichtlich.

1.2 Zu verneinen ist ebenfalls ein überspitzter Formalismus wegen
"unterlassener Umdeutung einer Eingabe". Entgegen dem vorinstanzlichen Hinweis,
ein Gesuch gemäss § 27 StPO/SO zu stellen, beharrte der Beschwerdeführer auf
der Behandlung des Wiederaufnahmebegehrens trotz verspäteter Leistung des
Kostenvorschusses (oben E. B). Eine Umdeutung hätte dem erklärten Willen des
rechtskundigen Gesuchstellers widersprochen. Eben so wenig ist ersichtlich,
dass die Vorinstanz eine "Frist zur Stellung eines Wiedereinsetzungsgesuches"
hätte ansetzen müssen.

1.3 Nicht stichhaltig ist ferner der Einwand, die Vorinstanz nehme mit dem
Nichteintretensbeschluss in Kauf, dass er zu Unrecht verurteilt bleibe. Damit
werde Bundesrecht vereitelt. Das Prozessrecht ist allerdings nicht Selbstzweck
(oben E. 1.1.1), steht aber auch nicht zur Parteidisposition, wie der
Beschwerdeführer in seinem Schreiben vom 15. April 2008 anzunehmen scheint
(oben E. B).

1.4 Das Zahlungsversäumnis erfolgte, wie der Beschwerdeführer vorbringt, in der
"Risikosphäre" des Rechtsvertreters. Grundsätzlich muss sich der Vertretene die
Rechtshandlungen seines Verteidigers anrechnen lassen. Der Beschwerdeführer
wendet aber ein, aus dem Gebot der notwendigen und wirksamen Verteidigung
folge, dass dem Beschuldigten ein allfälliges Fehlverhalten des Verteidigers
nicht angerechnet werden könne (mit Hinweis auf ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI/
KARL HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Auflage, Basel 2005, § 43
Rz. 31). Vorliegend geht es indessen nicht um notwendige, d.h. angesichts von
Art und Schwere der Strafsache zwingend vorgeschriebene Verteidigung (BGE 131 I
350 E. 2.1; HAUSER/SCHWERI/ HARTMANN, a.a.O., § 40 Rz. 11), in welchem Fall
gegebenenfalls in der schwerwiegenden Vernachlässigung anwaltlicher Berufs- und
Standespflichten eine Verletzung der Verteidigungsrechte liegen kann (BGE 131 I
185 E. 3.2.3). Die Säumnis bestand in der verspäteten Vorschussleistung für das
Wiederaufnahmeverfahren. Trotz Kenntnis dieses Sachverhalts hielt der
Beschwerdeführer an der Behandlung des Wiederaufnahmebegehrens fest, ohne sich
vorerst von der Säumnis erheben zu wollen, was vorhersehbar zum gesetzmässigen
Nichteintretensentscheid führte.

2.
Die Beschwerde ist unbegründet und abzuweisen. Der Beschwerdeführer trägt die
Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Solothurn,
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. Oktober 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Briw