Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.413/2008
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2008
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_413/2008/sst

Urteil vom 6. Februar 2009
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Ferrari, Favre, Zünd,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
A.X.________,
Y.________,
Beschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwältin
Renate Vitelli-Jucker,

gegen

Z.________, Beschwerdegegner,
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Ermächtigungsgesuch,

Beschwerde gegen den Ermächtigungsentscheid des Kantonsrats des Kantons Zürich
vom 21. April 2008.

Sachverhalt:

A.
Am 16. September 2007 wurde in Wetzikon/ZH der Taxichauffeur B.X.________ von
C.________ erstochen. Der Täter befand sich auf freiem Fuss, obwohl Oberrichter
Z.________ mit Präsidialverfügung der III. Strafkammer des Zürcher Obergerichts
am 23. August 2007 Sicherheitshaft gegen ihn angeordnet hatte.
Am 23. Januar 2008 übermittelte die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich
dem Kantonsrat des Eidgenössischen Standes Zürich das Gesuch der
Staatsanwaltschaft IV vom 15. Januar 2008 um Ermächtigung zur Einleitung einer
Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Tötung gegen den Präsidenten der III.
Strafkammer des Obergerichts, Z.________.
Am 28. Januar 2008 überwies die Geschäftsleitung des Kantonsrates das Gesuch
seiner Justizkommission zur Behandlung. Diese lud Oberrichter Z.________
"gestützt auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz des rechtlichen Gehörs" am
31. Januar 2008 ein, zum Gesuch Stellung zu nehmen. In seiner Stellungnahme vom
7. Februar 2008 hielt Oberrichter Z._______ fest, dass er "nicht gegen eine
Ermächtigung zur Eröffnung einer Strafuntersuchung" gegen seine Person
opponiere, wenngleich er der Meinung sei, die Voraussetzungen dafür seien
klarerweise nicht gegeben. Am 10. März 2008 beantragte die Justizkommission der
Geschäftsleitung, das Gesuch um Ermächtigung einer Strafuntersuchung gegen
Oberrichter Z.________ von der Hand zu weisen.
Am 21. April 2008 beschloss der Kantonsrat, dem Gesuch nicht stattzugeben. Der
Beschluss wurde im Amtsblatt vom 25. April 2008 publiziert.

B.
Mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde beantragen A.X.________ und Y.________,
die Mutter bzw. der Stiefvater des Opfers, diesen Beschluss des Kantonsrats
aufzuheben und ihm die Sache zu neuer Beurteilung zurückzuweisen. Ausserdem
ersuchen sie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Oberrichter Z.________ nimmt in seiner Vernehmlassung eingehend zur Sache
Stellung, verzichtet indessen auf einen formellen Antrag. Der Kantonsrat
beantragt unter Verweis auf den angefochtenen Entscheid, die Beschwerde
abzuweisen.
Erwägungen:

1.
Nach Art. 347 Abs. 2 lit. b StGB sind die Kantone berechtigt, die
Strafverfolgung der Mitglieder ihrer obersten Vollziehungs- und
Gerichtsbehörden wegen Vergehen oder Verbrechen im Amt vom Vorentscheid einer
nicht richterlichen Behörde abhängig zu machen. Der Kanton Zürich hat von
dieser Befugnis Gebrauch gemacht und lässt die Strafverfolgung der Mitglieder
des Regierungsrates und der oberen Gerichte für amtliche Verrichtungen nur mit
Ermächtigung des Kantonsrates zu (§ 38 Abs. 1 des Kantonsratsgesetzes vom 5.
April 1981, KRG). Das Ermächtigungsverfahren ist in § 38 Abs. 2 - 5 KRG
allerdings höchst rudimentär geregelt. Zur Frage, nach welchen materiellen
Kriterien die Ermächtigung zu erteilen oder zu verweigern ist, äussert sich das
Gesetz nicht. Es ist indessen anerkannt, dass dabei nicht nur strafrechtliche
Gesichtspunkte allein, sondern auch politische bzw. staatspolitische
Überlegungen berücksichtigt werden dürfen (BGE 106 IV 43; 1P.337/2002 E. 6.2 in
Pra. 2003 Nr. 171). Dementsprechend steht der Entscheid dem Kantonsrat als
politischer Behörde zu. Insofern handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche
Angelegenheit, womit an sich die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten gegeben wäre (Art. 82 lit. a BGG). Diese ist indessen gegen
Entscheide über die Verweigerung der Ermächtigung zur Strafverfolgung gegen
Behördemitglieder ausgeschlossen (Art. 83 lit. e BGG). Somit verbleibt einzig
die subsidiäre Verfassungsbeschwerde, welche von der Strafrechtlichen Abteilung
zu behandeln ist, da sie ein straf- bzw. strafprozessrechtliches Gebiet
betrifft (Art. 33 Bundesgerichtsreglement).
Da im Ermächtigungsverfahren aus (zureichenden) staatspolitischen Gründen die
Ermächtigung zur Einleitung einer nach rein strafrechtlichen Kriterien
angebrachten Strafuntersuchung verweigert werden kann, hat der angefochtene
Entscheid überwiegend politischen Charakter. Entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführer ist der kantonale Gesetzgeber befugt, derartige Entscheide von
der Rechtsweggarantie auszunehmen (Art. 29a BV; BBl 1997 I S. 524; ANDREAS
KLEY, St. Galler Kommentar zu Art. 29a BV, Rz. 24; GIOVANNI BIAGGINI, Kommentar
BV, Art. 29a N. 10). Aus Art. 2 EMRK (dazu unten E. 2) ergibt sich in Fällen,
in denen dem staatlichen Funktionär wie hier nicht eine absichtliche Tötung
vorgeworfen wird, nichts anderes. Der Staat kann seiner Aufklärungspflicht
diesfalls auch ohne Einschaltung der Strafjustiz gerecht werden, etwa indem er
den Hinterbliebenen entsprechende Zivil-, Verwaltungs- oder
Disziplinarverfahren zur Verfügung stellt (EGMR vom 24. Oktober 2004 i.S.
Mastromatteo/Italien Nr. 90; EGMR vom 8. Juli 2004 i.S. Vo/Frankreich Nr. 90).
Die Behandlung des Ermächtigungsverfahrens durch den Kantonsrat als
nicht-gerichtliche Instanz ist damit auch unter diesem Gesichtspunkt
konventionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die Vorwürfe an Oberrichter Z.________ betreffen seine Amtsführung. Es geht
nicht darum, ihn als Privatperson der strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen.
Das Ermächtigungsverfahren dient vielmehr dazu, ihn seine Amtstätigkeit vor
ungerechtfertigten Angriffen unbehelligt ausführen zu lassen und so das
reibungslose Funktionieren der Justiz als dritte Staatsgewalt zu gewährleisten.
Der Umstand, dass der angefochtene Entscheid von einer politischen Behörde
getroffen wurde, steht der Zulässigkeit der Beschwerde ans Bundesgericht nicht
entgegen (Art. 114 BGG i.V.m. Art. 86 Abs. 2 und 3 BGG).

2.
2.1 Art. 10 Abs. 1 BV gewährleistet den umfassenden Schutz menschlichen Lebens.
Die Bestimmung richtet sich einerseits als Abwehrrecht gegen den Staat. Dieser
ist indessen anderseits verpflichtet, den Grundrechten in der ganzen
Rechtsordnung zum Durchbruch zu verhelfen und damit das Leben seiner Bürger
auch vor Angriffen Privater zu schützen (Art. 35 BV). Er ist zwar weder
verpflichtet noch in der Lage, Gewaltanwendungen unter Privaten gänzlich zu
verhindern. Dem Gesetzgeber steht ein grosses Ermessen zu, wie er den Schutz
seiner Bürger gewährleisten will. Er ist jedoch grundsätzlich gehalten, die
Verletzungen des Rechts auf Leben durch vorsätzliche oder fahrlässige Tötungen
mit strafrechtlichen Sanktionen zu belegen und eine effektive Strafverfolgung
zu gewährleisten.
Die Verpflichtung zur Aufklärung und Verfolgung von Tötungsdelikten ergibt sich
ebenfalls aus Art. 2 Abs. 1 EMRK. Sie gilt indessen nicht absolut. Bestehen
sachliche Gründe, von der Verfolgung oder Bestrafung des Urhebers einer Tötung
abzusehen, ist es dem Staat nicht verwehrt, die Interessen an der Verfolgung
und Bestrafung des Täters und die entgegenstehenden z.B. staats- oder
kriminalpolitischen Interessen gegeneinander abzuwägen und gegebenenfalls
letzteren zum Durchbruch zu verhelfen. Es ist etwa zulässig, aus besonderen
Gründen ein Amnestiegesetz zu erlassen, das zur Folge hat, dass selbst ein Mord
ungesühnt bleibt (zur Veröffentlichung bestimmter Entscheid des Bundesgerichts
6B_627/2007 vom 11. August 2008 E. 4.3.5 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung
der Strassburger Organe).

2.2 Strafverfolgungsprivilegien wie Immunitäten von Parlamentariern und
Magistratspersonen können somit in einem Spannungsverhältnis zu Art. 10 Abs. 1
BV und Art. 2 Abs. 1 EMRK stehen, welche bei Tötungsdelikten die Verfolgung und
Bestrafung der Täter grundsätzlich vorschreiben. Ausserhalb des
Anwendungsbereichs dieser Bestimmungen können derartige Privilegien mit Art.
29a BV und Art. 6 EMRK in Konflikt treten, wobei zu beachten ist, dass die
Rechtsweggarantie im Bereich des Strafrechts die Rechte des Beschuldigten,
nicht diejenigen des Opfers oder seiner Angehörigen schützt. Damit können die
Beschwerdeführer daraus nichts zu ihren Gunsten ableiten. Hingegen ergibt sich
aus dem verfassungs- und konventionsrechtlich garantierten Schutz des Lebens,
dass der Staat das Strafverfolgungsprivileg des eines Tötungsdelikts
Beschuldigten nicht ohne weiteres schützen darf, sondern dass er die Interessen
an der Strafverfolgung und diejenigen an deren Verhinderung gegeneinander
abzuwägen hat. In verfahrensrechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass die
Beschwerdeführer, die sich als nahe Angehörige des Opfers im Schutzbereich von
Art. 10 Abs. 1 BV und Art. 2 Abs. 1 EMRK befinden, am Verfahren, welches zum
Entscheid über die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen einen mit einem
Strafverfolgungsprivileg ausgestatteten Beschuldigten führt, unabhängig vom
einschlägigen Verfahrensrecht als Parteien beteiligt werden müssen. Damit
stehen ihnen die verfassungs- und konventionsrechtlich garantierten
Verfahrensrechte zu. Sie haben u.a. Anspruch auf rechtliches Gehör und einen
begründeten Entscheid.

2.3 Der Zürcher Kantonsrat hat im angefochtenen Entscheid die Natur des
Ermächtigungsverfahrens als Abwägung zwischen den Interessen der
Beschwerdeführer an der Verfolgung des von ihnen der fahrlässigen Tötung
bezichtigten Oberrichters und denjenigen des letzteren und des Kantons Zürich
am reibungslosen Gang der Justiz verkannt. Er hat dementsprechend - durchaus im
Einklang mit seiner Praxis und dem anwendbaren Verfahrensrecht - einzig
Oberrichter Z.________ das rechtliche Gehör gewährt und auf eine Begründung
seines Entscheids verzichtet. Das ist unhaltbar. Im Licht des verfassungs- und
konventionsrechtlich garantierten Rechts auf Leben wäre der Kantonsrat
verpflichtet gewesen, beiden Seiten die gleichen Parteirechte einzuräumen und
seinen Entscheid zu begründen. Dies ist auch dem Kantonsrat als politischer
Behörde ohne weiteres möglich und zumutbar, indem er den begründeten Antrag
seiner Justizkommission oder einen begründeten Gegenantrag eines seiner
Mitglieder annehmen und diesen damit samt Begründung zum Beschluss erheben
würde (vgl. BGE 132 I 196 E. 3; 131 I 18 E. 3.1 betreffend die Begründung von
negativen Einbürgerungsentscheiden).

3.
Der angefochtene Entscheid ist somit gutzuheissen und die Sache an den
Kantonsrat zu neuem Beschluss zurückzuweisen. Oberrichter Z.________ hat keinen
Antrag gestellt und wird damit weder kosten- noch entschädigungspflichtig.
Damit rechtfertigt sich, für das bundesgerichtliche Verfahren keine Kosten zu
erheben und den Beschwerdeführern zu Lasten des Kantons Zürich eine angemessene
Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 66 und 68 BGG). Dementsprechend wird
deren Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid des Kantonsrates
des Kantons Zürich vom 21. April 2008 aufgehoben und die Sache zu neuem
Entscheid an diesen zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführern für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsrat des Kantons Zürich
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. Februar 2009
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Störi