Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.375/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_375/2008/sst

Urteil vom 21. Oktober 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Ferrari, Mathys,
Gerichtsschreiberin Binz.

Parteien
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, 8026 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

Y.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Werner Michel.

Gegenstand
Stationäre therapeutische Massnahme (Art. 59 StGB),

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, vom 29. Januar 2008.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Zürich (2. Abteilung) verurteilte Y.________ am 12. Dezember
2006 wegen versuchter schwerer Körperverletzung und Vergehens gegen das
Waffengesetz zu zwei Jahren Gefängnis. Zudem ordnete es im Sinne von Art. 43
Ziff. 1 Abs. 1 aStGB eine ambulante Massnahme während des Strafvollzugs an.

B.
Auf Berufung der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich bestätigte das
Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, am 29. Januar 2008 dieses
Urteil im Schuld- und Strafpunkt. Es ordnete erneut eine ambulante Massnahme
an. Im Übrigen stellte das Gericht unter anderem fest, dass das
erstinstanzliche Urteil vom 12. Dezember 2006 hinsichtlich der Anordnung einer
ambulanten Massnahme ohne Aufschub des Strafvollzugs in Rechtskraft erwachsen
war.

C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons
Zürich, das Urteil des Obergerichtes des Kantons Zürich sei aufzuheben und die
Sache zur Anordnung einer stationären Massnahme zurückzuweisen. Y.________
stellt in seiner Vernehmlassung den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen,
während die Vorinstanz auf eine Stellungnahme verzichtet.
Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat zutreffend die Bestimmungen des neuen Massnahmenrechts (Art.
56-65 StGB) angewendet, obwohl die Taten des Beschwerdegegners vor dem
Inkrafttreten des neuen Rechts begangen und abgeurteilt worden sind (vgl. Art.
2 Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Änderung des StGB vom 13. Dezember 2002).

2.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt,
indem sie von einer stationären Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB absah.
Zudem habe sie entgegen Art. 63b Abs. 5 StGB und damit bundesrechtswidrig
erneut eine ambulante Massnahme angeordnet.

3.
Die von der ersten Instanz am 12. Dezember 2006 rechtskräftig angeordnete
ambulante Massnahme wurde vom Bewährungs- und Vollzugsdienst des Justizvollzugs
des Kantons Zürich mit formeller Verfügung vom 10. Dezember 2007 gestützt auf
Art. 63a Abs. 2 lit. b StGB aufgehoben. Zur Begründung wurde im Wesentlichen
ausgeführt, die ambulante Behandlung sei zur Verhinderung und Verminderung
weiterer schwerer Gewaltdelikte nicht zweckmässig. Zudem sei die Massnahme
aussichtslos und deshalb aufzuheben.

3.1 Erachtet die Vollzugsbehörde die Fortführung der ambulanten Behandlung als
aussichtslos, so stellt sie deren Scheitern mittels anfechtbarer Verfügung fest
(vgl. Art. 63a Abs. 2 lit. b StGB). Gegen eine solche Verfügung steht nach
Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs die Beschwerde in Strafsachen offen
(Art. 78 Abs. 2 lit. b BGG; vgl. zum alten Recht auch BGE 119 IV 190 E. 1 S.
191). Erwächst die Verfügung in Rechtskraft, hat ein Gericht auf Antrag der
Vollzugsbehörde über die Konsequenzen zu befinden. Im Falle des Aufschubs der
Freiheitsstrafe zugunsten einer ambulanten Massnahme (Art. 63 Abs. 2 StGB)
obliegt es dem Gericht zu entscheiden, ob die aufgeschobene Strafe zu
vollziehen (Art. 63b Abs. 2 StGB) oder eine stationäre therapeutische Massnahme
nach den Art. 59-61 StGB anzuordnen ist (Art. 63b Abs. 5 StGB). Für das
Aussprechen einer anderen ambulanten Massnahme besteht kein Raum (BGE 6B_556/
2007 vom 4. Juli 2007 E. 3.4 mit Hinweisen). Die Folgen der Aufhebung einer
vollzugsbegleitenden Behandlung sind im Gesetz nicht geregelt. Indessen müssen
die gleichen Überlegungen gelten, wie sie der erwähnten Rechtsprechung zugrunde
liegen, womit auch in diesem Fall eine erneute ambulante Massnahme
ausgeschlossen ist. In Frage kommt dagegen eine (nachträgliche) stationäre
Massnahme im Sinne von Art. 65 Abs. 1 StGB (vgl. Marianne Heer, Basler
Kommentar Strafrecht I, 2. Aufl. 2007, Art. 63b StGB N. 1; Günter Stratenwerth,
Schweizerisches Strafrecht, AT II, 2. Aufl. 2006, § 9 Rz. 94 S. 313 f.;
Christian Schwarzenegger und andere, Strafrecht II, Strafen und Massnahmen, 8.
Aufl. 2007, S. 246 Ziff. 2.53 b).

3.2 Somit ist die erneute Anordnung einer ambulanten Massnahme im
vorinstanzlichen Urteil bundesrechtswidrig und die entsprechende Rüge der
Beschwerdeführerin begründet.

4.
Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen einer nachträglichen stationären
Massnahme nach Art. 65 Abs. 1 StGB verneint. Zum einen fehle dem
Beschwerdegegner die minimale Bereitschaft für eine solche Behandlung. Zudem
sei es fraglich, ob er vor dem Hintergrund der verschiedenen gescheiterten
therapeutischen Bemühungen in der Vergangenheit in der Lage wäre, eine
stationäre Massnahme zu absolvieren. Und schliesslich erscheine diese unter dem
Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit als unzulässig. Der Beschwerdegegner
habe nunmehr seine zweijährige Freiheitsstrafe bis auf wenige Tage verbüsst. Im
heutigen Zeitpunktpunkt sei deshalb eine stationäre Massnahme, die - mit der
Verlängerungsmöglichkeit nach Art. 59 Abs. 4 StGB - bis zu fünf Jahren dauern
könne, nicht mehr verhältnismässig. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass
beim Beschwerdegegner eine gewisse Rückfallgefährdung bestehe.

4.1 Nach Auffassung der Beschwerdeführerin verletzt die Vorinstanz mit einer
solchen Begründung Art. 56 Abs. 2 StGB. Diese Bestimmung verlange, dass der mit
der stationären Massnahme verbundene Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des
Täters im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit und Schwere weiterer Straftaten
nicht unverhältnismässig sei. Die Vorinstanz stelle demgegenüber einzig eine
Beziehung zur restlichen Strafe her, nicht aber zu allfälligen künftigen
Gewaltdelikten. Es werde völlig ausgeblendet, dass beim Beschwerdegegner
aufgrund seiner psychischen Störung eine sehr hohe Rückfallgefahr bestehe. Die
daraus resultierende Gefahr für die Gesellschaft erscheine dermassen hoch, dass
der Eingriff in seine Freiheit angemessen sei. Die fehlende Motivation des
Beschwerdegegners dürfe nicht schon heute zur Ablehnung der Massnahme führen.
Denn einerseits dürften an die Behandlungsbereitschaft nicht allzu strenge
Anforderungen gestellt werden und anderseits könne der Beschwerdegegner seine
Meinung ändern, wenn ihm bei einer aussichtslosen Durchführung der stationären
Massnahme gestützt auf Art. 62c Abs. 4 StGB die nachträgliche Verwahrung drohe.

4.2 Ist der Täter psychisch schwer gestört, so kann das Gericht eine stationäre
Massnahme anordnen, wenn er ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das mit
seiner psychischen Störung in Zusammenhang steht, und zu erwarten ist, dadurch
lasse sich die Gefahr weiterer mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang
stehenden Taten begegnen (Art. 59 Abs. 1 StGB). Diese Massnahme kann nach Art.
65 Abs. 1 StGB auch nachträglich angeordnet werden. Die Anordnung einer
Massnahme setzt voraus, dass der mit ihr verbundene Eingriff in die
Persönlichkeitsrechte des Täters im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit und
Schwere weiterer Straftaten nicht unverhältnismässig ist (Art. 56 Abs. 2 StGB).
Diese Verhältnismässigkeit im engeren Sinne verlangt, dass zwischen dem
Eingriff und dem angestrebten Zweck eine vernünftige Relation bestehen muss
(vgl. dazu Urteil 6S.408/2005 vom 23. Januar 2006 E. 3 mit Hinweisen). Sie kann
dazu führen, dass selbst eine geeignete und notwendige Massnahme
unverhältnismässig ist, wenn der mit ihr verbundene Eingriff im Vergleich zur
Bedeutung des angestrebten Ziels unangemessen schwer wiegt (Botschaft zur
Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 21. September 1998, BBl 1999
2070 f.). Schon unter der Herrschaft des alten Rechts war gemäss der
Rechtsprechung des Bundesgerichtes die Umwandlung einer ambulanten in eine
stationäre Massnahme selbst dann noch zulässig, wenn die Strafe vollständig
verbüsst war (BGE 128 I 184 E. 2.3.2 S. 189 mit Hinweis), wobei diese
Möglichkeit nur in klaren Ausnahmefällen und unter strenger Berücksichtigung
des Verhältnismässigkeitsgebotes zulässig sein sollte. Eine solche
Ausnahmesituation wurde etwa angenommen, wenn ein entlassener Straftäter nach
dem Scheitern der Therapie die öffentliche Sicherheit in schwerer Weise
gefährdete und nur eine langfristige stationäre Behandlung die Rückfallgefahr
vermindern konnte (Urteil 6S.408/2005 vom 23. Januar 2006 E. 2 mit Hinweisen).

4.3 Gemäss dem Bericht des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des
Justizvollzugs des Kantons Zürich vom 1. November 2007, auf den sich die
Vorinstanz in ihrem Urteil bezieht, muss beim Beschwerdegegner von einem
deutlichen bis sehr hohen Rückfallrisiko bezüglich Gewaltdelikte ausgegangen
werden. Da eine eingehende Abklärung der hirnorganischen Beeinträchtigung
fehle, könne keine Aussage zur Behandelbarkeit der psychischen Störung gemacht
werden. Ein das Risiko senkender Effekt im Rahmen einer ambulanten Massnahme
könne frühestens nach zwei- bis dreijähriger Therapiedauer erwartet werden. Aus
Sicht des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes bietet einzig die Anordnung
einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB die Möglichkeit, eine
risikovermindernde Behandlung adäquat durchzuführen. Bei einer allfälligen
Entlassung aus dem Strafvollzug bestünden bei einer ambulanten Massnahme grosse
Bedenken. Die Lebensgeschichte des Beschwerdegegners im Gutachten zeige, dass
es in der Vergangenheit nie gelungen sei, ihn auch nur mittelfristig sozial zu
stabilisieren.

4.4 Diese Feststellungen, die auch dem vorinstanzlichen Urteil zugrunde liegen,
sprechen für die Notwendigkeit einer (nachträglichen) stationären Massnahme.
Soweit die Vorinstanz massgeblich darauf abstellt, dass beim Beschwerdegegner
die Massnahmebereitschaft fehlt, kann dem nicht gefolgt werden. Abgesehen
davon, dass - wovon auch die Vorinstanz ausgeht - an die Therapiewilligkeit
keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden dürfen, lässt sich aus den
Aussagen des Beschwerdegegners anlässlich der vorinstanzlichen Verhandlung
nichts Entscheidendes herleiten. Immerhin gab er zu Protokoll, er sei stets für
eine ambulante Behandlung bereit gewesen, womit er zum Ausdruck bringt, die
Notwendigkeit einer Therapie einzusehen und sich dieser zu unterziehen. Seine
fehlende Motivation bezieht sich nicht auf das grundsätzliche Bedürfnis einer
Behandlung, sondern auf die Art, wie diese durchzuführen ist. Darauf kann es
jedoch nur beschränkt ankommen. Das ergibt sich schon daraus, dass der
Gesetzgeber lediglich bei der stationären Suchtbehandlung (Art. 60 Abs. 2
StGB), nicht aber bei der Behandlung von psychischen Störungen (Art. 59 StGB)
der Behandlungsbereitschaft des Täters besondere Bedeutung zumisst. Im Übrigen
ist darauf hinzuweisen, dass es aufgrund psychischer Erkrankungen an der
Fähigkeit fehlen kann, die Notwendigkeit und das Wesen einer Behandlung
abzuschätzen (Urteil 6S.248/2003 vom 14. August 2003 E. 9.4 mit Hinweisen).
Mangelnde Einsicht gehört bei schweren, langdauernden Störungen häufig zum
typischen Krankheitsbild. Ein erstes Therapieziel kann durchaus darin bestehen,
Einsicht und Therapiewilligkeit zu schaffen, was gerade im Rahmen stationärer
Behandlungen auch Aussicht auf Erfolg hat (Marianne Heer, Basler Kommentar,
a.a.O., Art. 59 N. 80 mit Hinweisen).

4.5 Die Beschwerdeführerin rügt zu Recht, die Vorinstanz habe die Frage der
Verhältnismässigkeit unvollständig gewürdigt. Im angefochtenen Entscheid wird
einzig festgehalten, eine stationäre Massnahme sei nicht mehr verhältnismässig,
weil die zweijährige Freiheitsstrafe bis auf wenige Tage vollständig verbüsst
sei. Die Vorinstanz unterlässt es darzutun, wie sie das deutliche bis sehr hohe
Risiko weiterer Gewaltdelikte in ihre Gewichtung einbezieht. Aufgrund der
Feststellungen im vorinstanzlichen Urteil muss von einer schweren Gefährdung
der Öffentlichkeit ausgegangen werden, die allenfalls nur durch eine
langfristige stationäre Therapie vermindert werden kann. In diesem Zusammenhang
wird von der Beschwerdeführerin zu Recht geltend gemacht, dass sich allenfalls
weitere neuropsychologische Abklärungen aufdrängen, nachdem beim
Beschwerdegegner deutliche Hinweise für eine hirnorganische Beeinträchtigung
vorliegen. Wenn die Vorinstanz bei dieser Sachlage auf eine nachträgliche
stationäre Massnahme mit der Begründung verzichtet, eine solche sei
unverhältnismässig, verletzt sie Art. 65 Abs. 1 StGB, was zur Aufhebung des
vorinstanzlichen Urteils führt.

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Kosten dem unterliegenden
Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der obsiegenden
Beschwerdeführerin ist gemäss Art. 68 Abs. 3 BGG keine Entschädigung
zuzusprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutheissen, das Urteil des Obergerichtes des Kantons Zürich
vom 29. Januar 2008 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. Oktober 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Schneider Binz