Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.372/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_372/2008/sst

Urteil vom 12. November 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter, Ferrari, Zünd,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
A.X.________,
B.X.________,
C. und D.X.________, Beschwerdeführer, alle drei vertreten
durch Rechtsanwalt Philip Stolkin,

gegen

W.________, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Casanova,
Y.________, vertreten durch Rechtsanwalt Benno Burtscher,
Z.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Robert Schwarz,
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, Sennhofstrasse 17, 7001 Chur,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Fahrlässige schwere Körperverletzung,

Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden,
Kantonsgerichtsausschuss, vom 11. März 2008.

Sachverhalt:

A.
Am 3. Oktober 2005 ereignete sich bei der Sanierung der Ruine Belfort in Brienz
/Brinzauls ein Unfall, als A.X.________, zusammen mit anderen Arbeitern, eine
ausschliesslich für Materialtransporte zugelassene Seilbahn benutzte, von der
Transportplattform sprang und dabei schwer verletzt wurde. Er liegt seither im
Wachkoma.
Am 4. Oktober 2005 eröffnete die Staatsanwaltschaft Graubünden eine
Strafuntersuchung gegen Y.________, W.________ und Z.________ wegen
fahrlässiger schwerer Körperverletzung.
Am 7. September 2006 konstituierten sich A.X.________ sowie dessen Familie -
die Ehefrau B.________ und die Töchter D.________ und C.________ X.________ -
als Privatkläger im Sinne von Art. 130 der Bündner Strafprozessordnung vom 8.
Juni 1958 (StPO), ohne Anträge zu stellen.
Mit Schlussverfügung vom 1. Februar 2007 schloss der Untersuchungsrichter die
Untersuchung. In Dispositiv-Ziffer 3 wird ausgeführt, der Geschädigte sei
berechtigt, innert 20 Tagen ab Mitteilung der Verfügung seine zivilrechtlichen
Forderungen beim Untersuchungsrichter einzureichen. Die Klageschrift müsse den
genauen Forderungsbetrag und die Beweismittel nennen. Mit Eingabe vom 12.
Februar 2007 reichte Rechtsanwalt Stolkin namens der Privatkläger eine
"Stellungnahme in Sachen X.________" ein, in welcher er eine Reihe von
"Verfahrensanträgen" zum Strafverfahren stellte, indessen keine
Zivilforderungen erhob.
Am 14. März 2007 erhob die Staatsanwaltschaft Graubünden Anklage gegen
Y.________, W.________ und Z.________.
Am 18. April 2007 erhoben A.________, B.________, C.________ und D.________
X.________ "ergänzende Klage" mit dem Antrag, über die Zivilansprüche der Opfer
im Grundsatz zu entscheiden und die Zivilforderungen im Übrigen auf den
Zivilweg zu verweisen. Am 2. Juli 2007 erklärte Rechtsanwalt Stolkin den
Rückzug der Klage, unter dem Vorbehalt, sie allenfalls auf dem Zivilweg wieder
einzureichen.
Am 9. November 2007 sprach der Bezirksgerichtsausschuss Albula Y.________ und
W.________ frei (Dispositiv-Ziffer 1). Z.________ sprach er der fahrlässigen
schweren Körperverletzung schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von 1'500
Franken (Dispositiv-Ziffern 2 und 3). Die Adhäsionsklage schrieb er infolge
Rückzuges ab (Dispositiv-Ziffer 4). Zudem verpflichtete er A.________,
B.________, D.________ und C.________ X.________, Y.________, W.________ und
Z.________ ausseramtlich zu entschädigen (Dispositiv-Ziffer 8). Zu den
zugesprochenen Parteientschädigungen führt er aus (Entscheid vom 8. November
2007, E. 12 S.21), nach Art. 130 StPO könne der Geschädigte seine
Zivilforderungen gegen den Angeschuldigten beim Strafgericht adhäsionsweise
geltend machen. Diese könne er nach Art. 132 StPO und Art. 114 Abs. 1
Zivilprozessordnung vom 1. Dezember 1985 (ZPO) jederzeit bis zum Ende der
Hauptverhandlung zurückziehen, ohne auf den Anspruch zu verzichten. Die Kläger
hätten am 18. April 2007 eine ergänzende Klage beim Bezirksgericht Albula gegen
die A. W.________ Erben, die Y.________ AG und Z.________ erhoben und diese am
2. Juli 2007 zurückgezogen.
Mit Berufung vom 18. Februar 2008 beantragten A.________, B.________ D.________
und C.________ X.________ dem Kantonsgerichtsausschuss, Dispositiv-Ziffer 1 des
bezirksgerichtlichen Urteils aufzuheben, Y.________ und W.________ wegen
fahrlässiger schwerer Körperverletzung zu verurteilen und angemessen zu
bestrafen. Ausserdem sei Dispositiv-Ziffer 8 aufzuheben und von einer
Überbindung der gegnerischen Parteikosten an die Geschädigten abzusehen.
Der Kantonsgerichtsausschuss wies die Berufung am 11. März 2008 ab, soweit er
darauf eintrat. Er erwog, den Berufungsklägern komme zwar ohne Zweifel
Opferstellung zu, weshalb sie zur Ergreifung des Rechtsmittels gegen die beiden
Freisprüche befugt seien, sofern sie sich am Strafverfahren beteiligt und,
soweit zumutbar, ihre Zivilansprüche geltend gemacht hätten. Dies sei nicht der
Fall, da sie ihre Zivilforderung zunächst verspätet erhoben und alsdann
zurückgezogen hätten. Mit dem Rückzug der Adhäsionsklage seien sie im
erstinstanzlichen Verfahren unterlegen, weshalb ihnen auch zu Recht
Parteientschädigungen an die Gegenparteien auferlegt worden seien.

B.
Mit "Einheits- und Verfassungsbeschwerde" beantragen A.________, B.________,
D.________ und C.________ X.________, das kantonsgerichtliche Urteil
aufzuheben, sie von der Leistung einer Parteientschädigung zu befreien und die
Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen, um sie materiell zu beurteilen.
Ausserdem ersuchen sie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.

Erwägungen:

1.
1.1 Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid in einer
Strafsache, gegen den die Beschwerde in Strafsachen gegeben ist. Mit dieser
können alle, auch die von den Beschwerdeführern erhobenen Verfassungsrügen
vorgebracht werden, womit für die subsidiäre Verfassungsbeschwerde kein Raum
bleibt (Art. 113 BGG).

1.2 Die Beschwerdeführer berufen sich auf eine ganze Reihe von Bestimmungen der
Bundesverfassung, der EMRK und des UNO-Pakts II, ohne indessen konkret und
substantiiert zu begründen, inwiefern diese verletzt sein sollen. Die konkreten
Vorbringen erschöpfen sich allerdings in den zulässigen Rügen, der
Kantonsgerichtsausschuss habe das OHG verletzt und das kantonale Prozessrecht
willkürlich angewandt. Diese sind zulässig.

2.
2.1 Das Opfer kann sich am Strafverfahren beteiligen und insbesondere den
Gerichtsentscheid mit den gleichen Rechtsmitteln anfechten, wie der
Beschuldigte, wenn es sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit
der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung
auswirken kann (Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG). Die Behörden haben das Opfer in
allen Verfahrensabschnitten über seine Rechte zu informieren (Abs. 2). Nach
Art. 9 Abs. 1 OHG hat das Strafgericht über die Zivilansprüche des Opfers zu
befinden, solange der Täter nicht freigesprochen worden oder das Verfahren
eingestellt worden ist. Das Gericht kann dabei zunächst nur den Strafpunkt
beurteilen und die Zivilansprüche später behandeln (Abs. 2). Würde die
vollständige Behandlung der Zivilansprüche einen übermässigen Aufwand bedeuten,
kann das Strafgericht darüber im Grundsatz befinden und die Opfer im Übrigen
ans Zivilgericht verweisen (Abs. 3).
Während sich somit die Legitimation des Opfers zur Anfechtung eines kantonal
erstinstanzlichen Entscheids aus dem Bundesrecht - hier Art. 8 Abs. 1 lit. c
OHG - ergibt, richtet sich die Form der Beteiligung am Strafverfahren nach dem
einschlägigen kantonalen Prozessrecht. Dessen Regelungen dürfen indessen nicht
derart ausgestaltet sein oder angewendet werden, dass sie die Durchsetzung der
Zivilansprüche des Opfers im Strafverfahren übermässig erschweren und dadurch
Sinn und Zweck des Opferhilfegesetzes zuwiderlaufen würden (BGE 120 IV 44 E. 5a
S. 55). Aus Sinn und Zweck des Opferhilfegesetzes ergibt sich indessen, dass
das Opfer Rechtsmittel im Strafpunkt nur soll ergreifen können, wenn es, soweit
zumutbar, seine Zivilansprüche im Strafverfahren geltend gemacht hat. Das
Strafverfahren darf nicht nur ein Vehikel zur Durchsetzung von Zivilforderungen
in einem Zivilprozess sein, den das Opfer nach Abschluss des Strafverfahrens,
je nach dessen Ausgang anzustrengen gedenkt (BGE 131 IV 195 E. 1.1.2; 120 IV 44
E. 4b S. 53).

2.2 Nach Art. 130 Abs. 2 StPO ist eine Adhäsionsklage innert 20 Tagen nach
Eingang der Verfügung betreffend den Schluss der Untersuchung durch ein
schriftlich formuliertes Begehren einzureichen. Diese Bestimmung ist klar, und
es ist nicht nachvollziehbar, inwiefern sie die Vorgabe des Opferhilfegesetzes,
dass dem Opfer die Möglichkeit eingeräumt werden muss, im Strafverfahren
Zivilansprüche geltend zu machen, übermässig erschweren oder gar vereiteln
sollte. Diese Rechtslage wurde dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführer in
Dispositiv-Ziffer 3 der Schlussverfügung zudem ausdrücklich und unzweideutig
mitgeteilt. Dieser hat in der Folge - unbestrittenermassen nach Ablauf der
20-tägigen Rechtsmittelfrist - das Begehren gestellt, die
Schadenersatzforderungen der Beschwerdeführer dem Grundsatz nach zu beurteilen.
Diese Forderung hat er anschliessend zurückgezogen, unter dem Vorbehalt, was
nach bündnerischem Recht zulässig ist, sie vor einem Zivilgericht wieder
einzuklagen.
Damit erweist sich, dass die Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt hätten,
ihre Zivilforderungen im Strafverfahren einzubringen. Sie taten dies auch,
woraus sich ergibt, dass ihnen dies zumutbar war, auch wenn sie, was durchaus
nachvollziehbar ist, ihre Forderungen innerhalb der Rechtsmittelfrist noch
nicht beziffern konnten. Dies stand dem Begehren, über die Forderung im
Grundsatz zu befinden, nicht entgegen, und der Strafrichter wäre nach Sinn und
Zweck von Art. 8 und 9 OHG auch verpflichtet gewesen, dies zu tun. Mit ihrem
Rückzug der Zivilforderung haben die Beschwerdeführer auf deren Beurteilung
durch den Strafrichter freiwillig verzichtet. Dass sie dies wohl nur deshalb
taten, weil ihr Rechtsvertreter die Frist zur Einreichung der Zivilforderung
verpasst hatte und die Erfolgsaussichten, den Anspruch vom Strafrichter
zugesprochen zu erhalten, entsprechend gering waren, vermag nichts daran zu
ändern, dass sie ihre Forderung nicht vom Strafrichter beurteilen liessen,
obwohl dies zumutbar und nach den einschlägigen Bestimmungen des Bündner
Strafprozessrechts auch ohne weiteres möglich gewesen wäre.

2.3 Nach Art. 141 StPO kann u.a. das Opfer gegen bezirksgerichtliche Urteile
Berufung erheben. Dass für die Ergreifung eines Rechtsmittels nebst dessen
allgemeiner Zulässigkeit regelmässig ein entsprechendes Rechtsschutzinteresse
erforderlich ist, bedarf - jedenfalls gegenüber einem Rechtsanwalt - keiner
weiteren Ausführungen. Die Rüge, der Kantonsgerichtsausschuss habe Art. 141
StPO willkürlich angewandt, indem er das Eintreten auf die Berufung vom
Erfüllen der Legitimationsvoraussetzungen von Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG (dazu
vorn E. 2.1) abhängig machte und, weil die Prüfung negativ verlief, auf das
Rechtsmittel in der Sache nicht eintrat, ist offensichtlich unbegründet. Der
Kantonsgerichsausschuss hat weder das Opferhilfegesetz verletzt noch das
Bündner Strafprozessrecht willkürlich angewandt, indem er auf die Berufung der
Beschwerdeführer gegen die Freisprüche zugunsten von Y.________ und W.________
nicht eintrat.

3.
3.1 Der Bezirksgerichtsausschuss Albula hat die Beschwerdeführer verpflichtet,
Y.________ eine Parteientschädigung von 3'141.90, W.________ eine solche von
2'862.15 Franken und Z.________ eine solche von 2'840.-- Franken zu bezahlen.
Er hat erwogen nach Art. 114 Abs. 1 ZPO habe bei einem Rückzug der Klage der
Kläger in der Regel die gerichtlichen und aussergerichtlichen Kosten zu tragen.
Nach Art. 122 Abs. 3 ZPO könnten zudem unnötige aussergerichtliche Kosten der
verursachenden Partei auferlegt werden. Die Beschwerdeführer hätten eine
Adhäsionsklage eingereicht und sie erst nach Eingang der Vernehmlassungen der
drei Beklagten zurückgezogen. Dadurch hätten sie unnötige Kosten verursacht,
die sie zu ersetzen hätten.
Der Kantonsgerichtsausschuss hat im angefochtenen Entscheid die
erstinstanzliche Regelung der Entschädigungsfolgen im Ergebnis geschützt, sie
indessen mit dem in Art. 122 Abs. 2 ZPO festgehaltenen Unterliegerprinzip
begründet.

3.2 Diese Regelung der Entschädigungsfolgen verstösst offensichtlich weder
gegen das OHG noch beruht sie auf einer willkürlichen Anwendung des kantonalen
Prozessrechts. Nach den Art. 8 und 9 OHG ist das Opfer zwar befugt, seine
Zivilansprüche im Strafverfahren geltend zu machen. Dies schliesst indessen
nicht aus, dass die Kantone die Entschädigungsfolgen nach den üblichen
prozessualen Grundsätzen - hier dem Unterliegerprinzip bzw. für unnötige Kosten
dem Verursacherprinzip - verlegen. In concreto lässt sich die Verurteilung zu
Entschädigungen an die Gegenparteien nach beiden Prinzipien rechtfertigen.
Einerseits haben die Beschwerdeführer die Klage zurückgezogen und sind damit
unterlegen. Anderseits lässt sich der Standpunkt vertreten, die Klage hätte
angesichts der klaren Rechtslage nach Ablauf der Rechtsmittelfrist
vernünftigerweise nicht mehr eingereicht oder wenigstens vor der Einholung der
Vernehmlassungen wieder zurückgezogen werden sollen, weshalb deren Kosten als
"unnötige Kosten" dem Verursacher aufzuerlegen sind. Die Rüge, die
Entschädigungsregelung des erstinstanzlichen Entscheids verstosse gegen
Bundesrecht, ist jedenfalls unbegründet.

4.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens würden
an sich die unterliegenden Beschwerdeführer kostenpflichtig. Vorliegend ist
indessen zu berücksichtigen, dass die (aussichtslose) Beschwerde im
Wesentlichen nur dazu diente, die negativen Folgen der unsorgfältigen
Verfahrensführung - insbesondere des Verstreichenlassens der Frist für die
Einreichung der Adhäsionsklage - ihres Rechtsvertreters vor der ersten Instanz
auszubügeln. Es rechtfertigt sich daher, diesem die Verfahrenskosten persönlich
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 und 3 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege wird damit gegenstandslos. Jenes um unentgeltliche Verbeiständung
ist abzulehnen, da die Beschwerde aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).
Rechtsanwalt Stolkin ist allerdings daraufhinzuweisen, dass mutwillige
Prozessführung mit Ordnungsbusse geahndet werden kann (Art. 33 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden Rechtsanwalt Stolkin, Freiburg,
auferlegt.

3.
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wird abgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht von Graubünden,
Kantonsgerichtsausschuss, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. November 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Störi