Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.306/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_306/2008/bri

Urteil vom 9. Oktober 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Mathys,
Gerichtsschreiberin Binz.

Parteien
X._________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Christos Antoniadis,

gegen

A._________,
Beschwerdegegner,
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Einstellung der Untersuchung (fahrlässige Körperverletzung),

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, vom 18. März 2008.

Sachverhalt:

A.
Am 25. Oktober 2005 fuhr A._________ mit seinem Personenwagen in Winterthur auf
der Jägerstrasse Richtung Tössfeldstrasse, wobei er den rechten Blinker mit der
Absicht, rechts in die Agnesstrasse einzubiegen, gestellt hatte. Als er das
Fahrverbotsschild für Motorwagen und Motorräder der Agnesstrasse wahrnahm,
stellte er den Blinker zurück und fuhr auf der Jägerstrasse weiter. Dabei
kollidierte er mit der aus der Agnesstrasse fahrenden Motorradlenkerin
X._________, die sich dabei unter anderem eine Kontusion der Hals- und
Lendenwirbelsäule zuzog. In der Folge wurde gegen A._________ eine
Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Körperverletzung eröffnet.

B.
Mit Verfügung vom 21. September 2007 stellte die Staatsanwaltschaft Winterthur/
Unterland die Strafuntersuchung mangels pflichtwidrigen Verhaltens des
Angeschuldigten ein. Dagegen erhob X._________ Rekurs mit dem Antrag, die
Strafuntersuchung sei in Aufhebung der angefochtenen Verfügung fortzuführen.
Das Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, wies mit Beschluss vom
18. März 2008 den Rekurs ab.

C.
X._________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die
Strafuntersuchung sei in Aufhebung des angefochtenen Beschlusses fortzuführen.

D.
Die Beschwerdegegner und das Obergericht des Kantons Zürich verzichten auf
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Zur Erhebung der Beschwerde in Strafsachen ist unter anderem auch das Opfer
legitimiert, wenn sich der angefochtene Entscheid auf die Beurteilung seiner
Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Als Opfer im
Sinne des Opferhilfegesetzes gilt jede Person, die durch eine Straftat in ihrer
körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt
worden ist (Art. 2 Abs. 1 OHG), unabhängig davon, ob der Täter ermittelt worden
ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat. Nach der Rechtsprechung muss die
Beeinträchtigung von einem gewissen Gewicht sein. Bagatelldelikte wie z.B.
Tätlichkeiten, die nur unerhebliche Beeinträchtigungen bewirken, sind daher vom
Anwendungsbereich des Opferhilfegesetzes grundsätzlich ausgenommen.
Entscheidend ist jedoch nicht die Schwere der Straftat, sondern der Grad der
Betroffenheit der geschädigten Person (BGE 131 I 455 E. 1.2.2 S. 459 f.). Die
Beschwerdeführerin erlitt eine Kontusion der Hals- und Lendenwirbelsäule und
ist deshalb unmittelbar in ihrer körperlichen Integrität beeinträchtigt worden.
Sie ist durch den Entscheid auch in ihren zivilen Schadenersatz- und
Genugtuungsansprüchen betroffen (Art. 45 und 47 OR). Die Beschwerdeführerin ist
somit zur Beschwerde legitimiert.

2.
Die Beschwerdeführerin rügt die Einstellung der Strafuntersuchung gegen den
Beschwerdegegner. Sie bringt vor, sie habe auf dessen angezeigten
Richtungswechsel vertrauen dürfen. Die Vorinstanz habe die Anwendung des
Vertrauensprinzips (Art. 26 Abs. 1 SVG) und das Vorliegen des adäquaten
Kausalzusammenhanges der fahrlässigen Körperverletzung zu Unrecht verneint.

2.1 Die Vorinstanz führt aus, für die Bejahung einer fahrlässigen
Körperverletzung sei zu prüfen, ob der Beschwerdegegner eine Sorgfaltspflicht
verletzt habe. Dieser habe ausgesagt, dass er im Schritttempo auf der
Jägerstrasse gefahren sei und die Beschwerdeführerin auf der Agnesstrasse
gesehen habe. Den rechten Blinker habe er zurückgenommen, sobald er das
Verbotsschild gesehen habe. Die Beschwerdeführerin habe er immer noch dort
stehen und warten sehen. Er sei an der Agnesstrasse vorbeigefahren und habe
hinten plötzlich einen "Klapf" gehört. Die Beschwerdeführerin sei im toten
Winkel losgefahren. Weiter gibt die Vorinstanz die Aussagen der
Beschwerdeführerin wieder. Diese habe kurz vor der Jägerstrasse gesehen, dass
ein Durchfahrtsverbot für Motorfahrzeuge für das letzte Stück der Agnesstrasse
signalisiert sei. Bei der Kreuzung habe sie einige an der Jägerstrasse entlang
kommende Fahrzeuge vorbei gelassen. Rechts von ihr seien auf dem Trottoir der
Jägerstrasse zwei Fussgänger gewesen. Sie habe links den Personenwagen des
Beschwerdegegners gesehen. Sie habe nochmals nach rechts zu den Fussgängern
geschaut, danach ein zweites Mal nach links. Weil der Beschwerdegegner immer
noch rechts geblinkt habe, sei sie losgefahren. In dem Moment sei es zur
Kollision gekommen. Die Vorinstanz hält im Rahmen der rechtlichen Würdigung
fest, der Umfang der zu beachtenden Sorgfalt richte sich nach den Bestimmungen
des Strassenverkehrsgesetzes. Die Beschwerdeführerin habe bei der Einmündung
der Agnes- in die Jägerstrasse ein Trottoir überquert und sei gestützt auf Art.
15 Abs. 3 VRV vortrittsbelastet gewesen. Der Beschwerdegegner habe seinen
Blinker nach rechts gestellt, um seine Richtung anzuzeigen, wie dies Art. 39
Abs. 1 SVG vorschreibe. Da er seinen Irrtum über die Fahrtrichtung noch auf der
Jägerstrasse festgestellt und seinen Blinker zurückgestellt habe, sei er zur
Fortsetzung seiner Fahrt auf der Hauptstrasse berechtigt gewesen. Er sei im
Schritttempo unterwegs gewesen als ihm die Beschwerdeführerin rechts hinten in
den Wagen hineingefahren sei. Im Zeitpunkt der Kollision habe er also die
Kreuzung schon beinahe passiert. Deshalb könne offen bleiben, ob er aufgrund
seines widersprüchlichen Verhaltens auf sein Vortrittsrecht verzichtet bzw. auf
die Beschwerdeführerin zu wenig Rücksicht genommen habe. Zur Voraussehbarkeit
der Gefahr führt die Vorinstanz aus, die Beschwerdeführerin hätte nicht auf den
Verzicht des Beschwerdegegners auf sein Vortrittsrecht vertrauen dürfen. Sie
sei als Ortsunkundige selber von der eingeschränkten Durchfahrtsregelung der
Agnesstrasse überrascht worden. Deshalb hätte sie abwarten müssen, ob es sich
beim Beschwerdegegner allenfalls auch um einen Ortsunkundigen handle, der seine
Fahrtrichtung noch ändern könnte. Das Mitverschulden der Beschwerdeführerin
wiege derart schwer, dass es als wahrscheinlichste und unmittelbarste Ursache
des Erfolges erscheine und so das Verhalten des Beschwerdegegners bezüglich der
fahrlässigen Körperverletzung in den Hintergrund dränge. Das Verhalten des
Beschwerdegegners sei somit nicht adäquat kausal zur erlittenen
Körperverletzung der Beschwerdeführerin. Selbst bei Bejahung einer
Sorgfaltspflichtverletzung würde es an der Adäquanz fehlen. Demzufolge sei die
Einstellung der Strafuntersuchung zu Recht erfolgt.

2.2 Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, es seien keine Gründe
ersichtlich, weshalb sie nicht darauf vertrauen durfte, dass der
Beschwerdegegner die angekündigte Richtungsänderung tatsächlich durchführen
würde. Es sei nicht massgeblich, dass sie selber von der eingeschränkten
Durchfahrtsregelung der Agnesstrasse überrascht worden sei, sondern dass die
Strasse überhaupt befahren werden dürfe. Die Verkehrslage sei nicht unklar und
die Situation alltäglich gewesen. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung
müsse für den Ausschluss des Vertrauensprinzips die Verkehrslage derart unklar
sein, dass die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe
rückt. Vorliegend handle es sich um den Fall einer lediglich abstrakten
Möglichkeit eines Fehlverhaltens, welche keine Schranke des
Vertrauensgrundsatzes darstelle. Die Pflicht zur Ankündigung einer
Richtungsänderung würde keinen Sinn machen, wenn sich die anderen
Verkehrsteilnehmer nicht darauf verlassen könnten. Es sei auch nicht
zutreffend, dass ihr - bestrittenes - Mitverschulden das Verhalten des
Beschwerdegegners derart in den Hintergrund gedrängt und den adäquaten
Kausalzusammenhang unterbrochen habe. Das Verhalten des Beschwerdegegners, die
angezeigte Richtungsänderung nicht durchzuführen, sei geeignet, eine Kollision
mit Verletzungsfolgen herbeizuführen. Die wahrscheinlichste und unmittelbarste
Ursache des Zusammenstosses sei somit das Verhalten des Beschwerdegegners,
weshalb auch der adäquate Kausalzusammenhang gegeben sei.

2.3 Die Begründung der Vorinstanz, die Beschwerdeführerin hätte nicht auf den
Verzicht des Beschwerdegegners auf das Vortrittsrecht vertrauen dürfen, ist
nicht überzeugend. Entscheidend ist nicht die Tatsache, dass die
Beschwerdeführerin von der eingeschränkten Durchfahrtsregelung der Agnesstrasse
überrascht wurde, sondern dass Zubringerdienst gestattet ist und der
Beschwerdegegner die Fahrberechtigung der anderen Verkehrsteilnehmer nicht
zuerst abzuklären hatte. Die Beschwerdeführerin bringt zu Recht vor, es sei
massgeblich, dass die Agnesstrasse überhaupt befahren werden dürfe. Gestützt
auf den Vertrauensgrundsatz (Art. 26 Abs. 1 SVG) durfte sie sich grundsätzlich
darauf verlassen, dass der Beschwerdegegner ihr gegenüber auf sein
Vortrittsrecht verzichten würde (vgl. BGE 92 IV 29 E. 1 S. 30, mit Hinweis).
Ihr Mitverschulden ist deshalb kaum derart schwerwiegend, dass es das Verhalten
des Beschwerdegegners bezüglich der fahrlässigen Körperverletzung in den
Hintergrund drängte (vgl. BGE 130 IV 7 E. 3.2 S. 10, mit Hinweisen). Diese
Frage kann jedoch offen gelassen werden, da ein sorgfaltspflichtiges Verhalten
des Beschwerdegegners nicht nachweisbar und die Sache deshalb sowieso an die
Vorinstanz zurückzuweisen ist (vgl. E. 2.5 hiernach).

2.4 Nach Art. 125 Abs. 1 StGB wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei
Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer fahrlässig einen Menschen am Körper oder
an der Gesundheit schädigt. Fahrlässig begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer
die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt
oder darauf nicht Rücksicht nimmt (Art. 12 Abs. 3 Satz 1 StGB). Ein
Schuldspruch wegen fahrlässiger Körperverletzung setzt somit voraus, dass der
Täter den Erfolg durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht verursacht hat.
Sorgfaltswidrig ist die Handlungsweise, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat
aufgrund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit
bewirkte Grenze des erlaubten Risikos überschritten hat (Art. 12 Abs. 3 Satz 2
StGB). Das Mass der Sorgfalt, welche vom Fahrzeuglenker verlangt wird, richtet
sich nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen
Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen.
Gesetzliche Grundlage der vom Fahrzeuglenker im Strassenverkehr zu beachtenden
Sorgfalt bilden die im Strassenverkehrsgesetz und in den dazu gehörenden
Verordnungen statuierten Verkehrsregeln (BGE 129 IV 282 E. 2.2.1 S. 285, mit
Hinweisen).

2.5 Jede Richtungsänderung ist mit dem Richtungsanzeiger oder durch deutliche
Handzeichen rechtzeitig bekannt zu geben (Art. 39 Abs. 1 Satz 1 SVG). Eine
pflichtgemässe Zeichengebung entbindet den Fahrzeugführer nicht von der
gebotenen Vorsicht (Abs. 2). Gemäss Art. 15 Abs. 3 VRV muss, wer über ein
Trottoir auf eine Haupt- oder Nebenstrasse fährt, den Benützern dieser Strassen
den Vortritt gewähren.
Der Aussage des Beschwerdegegners ist zu entnehmen, dass er den Blinker
zurückgenommen habe, bevor die Beschwerdeführerin losgefahren sei. Diese bringt
demgegenüber vor, der Beschwerdegegner habe immer noch rechts geblinkt, als sie
losgefahren sei. Für die Beurteilung des Vortrittsrechts und damit der
Verletzung einer Sorgfaltspflicht seitens des Beschwerdegegners ist
entscheidend, in welchem Zeitpunkt er den Blinker zurückgestellt hat. Den
genauen Zeitpunkt hat die Vorinstanz jedoch nicht festgestellt, weshalb sich
der Sachverhalt in diesem Punkt als lückenhaft erweist. Insoweit verletzt das
angefochtene Urteil materielles Bundesrecht. Es ist deshalb aufzuheben und die
Sache zur ergänzenden Tatsachenfeststellung und neuen Beurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 BGG; vgl. auch BGE 133 IV 293 E.
3.4.2 S. 295 f., mit Hinweisen). Bei der neuerlichen Befassung wird zu prüfen
und nachvollziehbar zu begründen sein, ob und inwiefern der Beschwerdegegner
mit seinem Verhalten auf sein Vortrittsrecht verzichtete und deshalb in
Verletzung seiner Sorgfaltspflicht eine fahrlässige Körperverletzung beging.

3.
Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde als begründet und ist
gutzuheissen. Der Beschwerdegegner wird mangels Anträgen nicht kosten- und
entschädigungspflichtig. Dem Kanton Zürich dürfen keine Kosten auferlegt werden
(Art. 66 Abs. 4 BGG), hingegen hat er der Beschwerdeführerin deren Parteikosten
zu ersetzen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Obergerichts des Kantons
Zürich vom 18. März 2008 aufgehoben und die Sache zur ergänzenden
Sachverhaltsfeststellung und neuen Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von Fr.
3'000.-- auszurichten.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 9. Oktober 2008

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Schneider Binz