Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.219/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_219/2008/sst

Urteil vom 14. Juli 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Favre, Zünd,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Raess,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh., Rathaus, 9043 Trogen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Vorsätzliche Tötung, mehrfaches Führen eines Motorfahrzeuges ohne
Führerausweis; Strafzumessung,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Appenzell A.Rh. vom
10. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Das Kantonsgericht von Appenzell A.Rh. verurteilte X.________ am 28. August
2006 wegen vorsätzlicher Tötung und mehrfachen Führens eines Motorfahrzeuges
ohne Führerausweis zu 9 Jahren Zuchthaus und widerrief den bedingten Vollzug
einer vom Untersuchungsamt St. Gallen am 3. November 2003 ausgesprochenen
Gefängnisstrafe von 5 Tagen. Es hielt (u.a.) für erwiesen, dass X.________ am
28. Februar 2005 +C.________ erschossen hatte.
Auf Appellation von X.________ und Anschlussappellation der Staatsanwaltschaft
hin bestätigte das Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh. am 25. März 2008 das
erstinstanzliche Urteil im Schuldpunkt, passte die Strafe ans neue Recht an,
erhöhte sie um ein Jahr auf 10 Jahre Freiheitsstrafe und verhängte zusätzlich
eine Busse von 400 Franken (Dispositiv-Ziff. 4-6). Es auferlegte ihm die
Verfahrenskosten (Dispositiv-Ziff. 7), entschädigte den amtlichen Verteidiger
aus der Staatskasse (Dispositiv-Ziff. 8) und verurteilte ihn zu einer
Parteientschädigung an die Geschädigten (Dispositiv-Ziff. 9).

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, die Dispositiv-Ziffern 4-9
des obergerichtlichen Urteils aufzuheben und die Sache an das Obergericht
zurückzuweisen oder ihn eventuell vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung
freizusprechen und lediglich wegen mehrfachen Führens eines Motorfahrzeugs ohne
Führerausweis angemessen zu bestrafen, unter Zusprechung einer Entschädigung
für die überschiessende Untersuchungshaft. Subeventuell sei er im Sinne der
Anklage schuldig zu sprechen und zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren zu
verurteilten. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.
Die Staatsanwaltschaft beantragt in ihrer Vernehmlassung, die Beschwerde
abzuweisen. Das Obergericht hat auf Stellungnahme verzichtet.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe den Untersuchungsgrundsatz von
Art. 18 und 19 der Ausserrhodischen Strafprozessordnung vom 30. April 1978
(StPO) bzw. seinen Anspruch auf gerechte Beurteilung i.S. von Art. 29 Abs. 1 BV
und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt.
Die Verletzung von kantonalem Gesetzesrecht ist zwar kein zulässiger
Beschwerdegrund (Art. 95 BGG). Das schadet dem Beschwerdeführer vorliegend
insofern nicht, als er in der Beschwerde nachweist, dass sich die kantonalen
Strafverfolgungs- und Anklagebehörden ebenso wie die erkennenden Gerichte
offenkundig in unhaltbarer Weise über ihre in Art. 21 StPO festgelegte
Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit hinweggesetzt und damit
Art. 9 BV verletzt haben. Auf diese gehörig begründete Willkürrüge ist
einzutreten.

2.
2.1 Der Sachverhalt ist insoweit unbestritten, als es am 28. Februar 2005, um
ca. 15 Uhr, beim WinWin-Markt in Herisau zu einer Schlägerei zwischen
+C.________ und A.Y.________ kam, in deren Verlauf letzterer einen
Nasenbeinbruch erlitt. A.Y.________ telefonierte seinem Bruder B.________ und
dem Freund oder Ex-Freund einer seiner Schwestern, Z.________, und liess sich
dann im Spital Herisau behandeln. Nach ca. 20:30 Uhr begaben sich Z.________,
B.Y.________ und A.Y.________ zum Imbiss "Säntis Kebab-Pizza" in Herisau. Um
20:44 Uhr meldete sich X.________, der Schwager der Gebrüder Y.________
telefonisch bei Z.________ und stiess kurz darauf zur Runde, in welcher
beschlossen wurde, +C.________ zu stellen und ihm einen Denkzettel zu
verpassen. Sie machten ausfindig, dass sich dessen Wohnung im gleichen Gebäude
befand wie das "Säntis Kebab-Pizza", worauf Z.________ dort klingelte und den
ihm unbekannten +C.________ aufforderte, seinen Wagen umzuparkieren. Dieser kam
der Aufforderung nicht sofort nach, sondern liess einige Minute verstreichen.
Als er die Strasse betrat, befanden sich dort nur noch B.Y.________ und
X.________. Z.________ und A.Y.________ waren bereits weggefahren. Nach dem
Eintreffen von +C.________ zog X.________ eine Pistole aus dem Hosenbund und
schoss ihm in die Brust, woran er kurz danach verstarb.
Umstritten ist, was sich zwischen dem Aufeinandertreffen der drei Männer und
der Schussabgabe des Beschwerdeführers abspielte. Die Aussagen des
Beschwerdeführers zum Tatgeschehen sind widersprüchlich, teils will er
unvermittelt geschossen haben, teils nach einer vorgängigen tätlichen
Auseinandersetzung. B.Y.________ hat stets bestritten, dass vor der
Schussabgabe durch den Beschwerdeführer eine solche stattfand.

2.2 Nach Art. 21 StPO sind die Strafverfolgungsbehörden zur Erforschung der
Wahrheit verpflichtet, die Beweisabnahme ist auf alle Tatsachen zu erstrecken,
welche für die Beurteilung von Tat und Täter von Bedeutung sind. Es bedarf
keiner weiteren Ausführungen, dass für die strafrechtliche Beurteilung von Tat
und Täter entscheidend ist, was sich zwischen dem Aufeinandertreffen der drei
Männer und der Schussabgabe durch den Beschwerdeführer genau abspielte. Die
Strafverfolgungsbehörden waren damit klarerweise verpflichtet, alle verfügbaren
Beweise zu erheben, die geeignet sind, das Tatgeschehen zu erhellen.

2.3 Das Verbrechen wurde von einem unbeteiligten Dritten, D.________, welcher
zur Tatzeit am Tatort vorbeigefahren ist, beobachtet und der Polizei gemeldet.
Tags darauf von dieser befragt, hat er ausgesagt, er habe die drei Personen
schon frühzeitig sehen können. Obwohl sie nur beieinander gestanden seien, sei
ihm die Situation komisch vorgekommen. Beim Näherkommen habe er einen der
Männer dem Griechen - er habe aus der Presse erfahren, dass es ein Grieche
gewesen sei, er kenne diesen im Übrigen, habe ihn aber damals nicht erkannt -
einen Schlag und unmittelbar danach einen Stoss versetzen sehen, worauf der
Grieche ausgerutscht und zu Boden gefallen sei. Als er auf der Höhe des Tatorts
angekommen sei, habe er kurz auf die Strasse achten müssen. Als er wieder auf
die Szene geschaut habe, habe er in der Hand des hinteren Mannes eine
Schusswaffe gesehen, die er zuvor nicht bemerkt habe. Fast gleichzeitig habe er
einen Knall vernommen. Der Schütze habe auf eine Entfernung von 2 - 3 m einen
gezielten Schuss auf den am Boden liegenden Mann abgegeben.

2.4 Das Obergericht hat dazu erwogen, die Aussage von D.________ sei nicht
verwertbar, da dieser nie als Zeuge befragt worden sei. Es sei nicht seine
Sache dies nachzuholen, auf Grund der Konzeption der Strafprozessordnung
sollten die Gerichte keine grundlegenden Untersuchungshandlungen vornehmen
müssen, da bereits vom Verhöramt eine umfassende tatsächliche und rechtliche
Würdigung gefordert werde. Bei der den Gerichten zustehenden Möglichkeit,
selber Beweise zu erheben, habe der Gesetzgeber an Beweishandlungen gedacht,
die sich erstmals in diesem Verfahrensstadium aufdrängten. Im jetzigen
Verfahrensstadium erscheine eine Rückweisung der Untersuchung wegen des
Zeitablaufs von rund 2 ½ Jahren nicht mehr sinnvoll.

2.5 Dieses Vorgehen der Untersuchungs- und der Anklagebehörde sowie beider
kantonalen Gerichtsinstanzen ist schlechterdings nicht nachvollziehbar: Bei der
Untersuchung eines Tötungsdelikts meldet sich ein unbeteiligter Augenzeuge, der
dessen Ablauf exklusiv mitverfolgt und der Polizei genau geschildert hat, und
weder die Strafverfolgungsbehörden noch die erkennenden Gerichte halten es für
angebracht bzw. notwendig, ihn als Zeugen einzuvernehmen und dadurch als
Beweismittel ins Verfahren einzuführen. Stattdessen gehen sie von den wenigen
auf Grund übereinstimmender Aussagen oder objektiven Beweismitteln
feststehenden Tatsachen aus - dass das Opfer vom Beschwerdeführer und seinen
Komplizen unter einem Vorwand auf die Strasse gelockt, dort von diesem und
B.Y.________ erwartet und anschliessend vom Beschwerdeführer mit einem Schuss
in die Brust getötet wurde -, lassen offen, ob es vor der Schussabgabe zu einer
tätlichen Auseinandersetzung kam und nehmen auf Grund des Wundkanals an, das
Opfer sei bei der Schussabgabe seitlich zum Beschwerdeführer gestanden. Daraus
zieht das Obergericht wiederum den Schluss, dass das Opfer in diesem Zeitpunkt
nicht im Begriff war, den Beschwerdeführer anzugreifen, da nach seinen
Erfahrungen Angriffe frontal ausgeführt werden, nicht aus einer seitlich
abgewandten Position, und verneint (u.a.) damit das Vorliegen sowohl einer
Notwehr- als auch einer Putativnotwehrsituation. Indem das Obergericht somit
spekulative und wenigstens teilweise den Beobachtungen des einzigen Augenzeugen
widersprechende Annahmen trifft, obwohl ein Beweismittel verfügbar wäre, das
geeignet erscheint, das Tatgeschehen weitgehend zu erhellen, setzt es sich in
willkürlicher Weise über seine in Art. 21 StPO festgelegte Pflicht zur
Erforschung der materiellen Wahrheit hinweg, die Rüge ist offensichtlich
begründet.

2.6 Die Staatsanwaltschaft wendet in ihrer Vernehmlassung zwar ein, es müsse
offen bleiben, ob es sinnvoll gewesen wäre, den angeblichen Augenzeugen
untersuchungsrichterlich einzuvernehmen. Tatsache sei, dass dessen Aussage
einerseits etliche Widersprüche aufweise, anderseits aber den Beschwerdeführer
auf schwerwiegendste Weise belaste. Die Tatumstände seien schliesslich
anderweitig - auch durch das Geständnis - geklärt worden, sodass auf eine
Einvernahme des Augenzeugen, der nicht mehr mit dieser Angelegenheit habe
konfrontiert werden wollen, verzichtet worden sei.
Diese Einwände sind unbegründet. Wie sich aus den obenstehenden Ausführungen
(E. 2.5) ergibt, ist das Tatgeschehen keineswegs durch andere Beweismittel in
einer Weise abgeklärt und belegt, die eine untersuchungsrichterliche oder
gerichtliche Einvernahme des einzigen unbeteiligten Augenzeugen überflüssig
erscheinen lassen könnte. Der Umstand, dass dessen Aussagen nach der
Einschätzung der Staatsanwaltschaft Widersprüche enthalten und den
Beschwerdeführer schwer belasten, spricht nicht gegen, sondern für dessen
Einvernahme als Zeugen. Dass D.________ mit dieser Geschichte nicht mehr
konfrontiert werden möchte, ist verständlich, stellt aber offensichtlich keinen
zureichenden Grund dar, von einer Befragung als Zeuge abzusehen. Zutreffend
ist, dass seine Darstellung des Vorfalls gegenüber der Polizei den
Beschwerdeführer stärker belastet als der vom Obergericht angenommene
Sachverhalt. Abschliessend lässt sich dies indessen erst nach der Würdigung der
Zeugenaussage von D.________ beurteilen, und es wird Sache des Obergerichts
sein zu entscheiden, ob die prozessuale Situation eine allfällige
Schlechterstellung des Beschwerdeführers zulässt oder nicht. Entgegen der
Auffassung des Obergerichts liegt es zudem keineswegs nahe, dass sich der
Augenzeuge an ein derart dramatisches Ereignis nicht mehr erinnern kann; auf
dessen Einvernahme konnte es daher auch nicht in willkürfreier antizipierter
Beweiswürdigung verzichten. (BGE 124 I 274 E. 5b S. 285 mit Hinweisen, siehe
auch BGE 131 I 153 E. 3 S. 157 mit Hinweisen).

3.
Die Willkürrüge ist daher gutzuheissen, der angefochtene Entscheid ohne Prüfung
der weiteren Rügen aufzuheben und die Sache ans Obergericht zurückzuweisen. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG). Hingegen hat der Kanton Appenzell A.Rh. dem Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 68 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid vom 10. Juli 2007
aufgehoben und die Sache ans Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh.
zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Appenzell A.Rh. hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh.
schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 14. Juli 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Störi