Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.186/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_186/2008/sst

Urteil vom 22. August 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Ferrari, Zünd,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten
durch Rechtsanwalt lic. iur. Benedikt Landolt,

gegen

Verhöramt des Kantons Appenzell A.Rh.,
Rathaus, 9043 Trogen, Beschwerdegegner.

Gegenstand
Kostenauflage,

Beschwerde gegen den Rekursentscheid der Staatsanwaltschaft des Kantons
Appenzell A.Rh. vom 11. Februar 2008.

Sachverhalt:
-
Die am 2. Februar 1991 geborene A.________ lebte auf Grund einer Einweisung
durch die Vormundschaftsbehörde im Wohn- und Schulheim S.________. Am 10. März
2006 riss sie aus und wurde von der Familie X.________, mit deren Sohn
B.________ sie befreundet gewesen war, aufgenommen. Am 3. April 2006 wurde
A.________ von der Appenzeller Kantonspolizei am Wohnort der Familie X.________
in Herisau aufgespürt und zurückgeschickt.
Mit Strafverfügung vom 27. April 2007 bestrafte das Verhöramt Appenzell A.Rh.
X.________ wegen Entziehens von Unmündigen im Sinne von Art. 220 StGB zu einer
bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu 30 Franken und auferlegte ihr die
Verfahrenskosten von 170 Franken. Es erwog, sie habe eine unmündige Person dem
Inhaber der vormundschaftlichen Gewalt entzogen, indem sie sie beherbergt habe,
und dadurch den Tatbestand des Entziehens von Unmündigen erfüllt.
Auf Einsprache von X.________ hin stellte das Verhöramt das Verfahren am 11.
Dezember 2007 ein. Es auferlegte ihr die Verfahrenskosten und verweigerte ihr
eine Entschädigung. Es erwog, X.________ habe A.________ aufgenommen, obwohl
sie gewusst habe, dass diese sich im Wohn- und Schulheim S.________ aufhalten
müsste. Es könne ihr aber nicht nachgewiesen werden, dass sie deren Rückführung
aktiv hintertrieben habe. Sie habe auch nie abgestritten, dass sich A.________
bei ihrer Familie aufhalte. Eine Anzeigepflicht habe für sie nicht bestanden.
X.________ rekurrierte gegen die Kostenauflage und die Verweigerung einer
Entschädigung.
Die Staatsanwaltschaft wies den Rekurs am 11. Februar 2008 kostenpflichtig ab.
Sie erwog, einer Freigesprochenen könnten nach Art. 242 Abs. 1 der
Strafprozessordnung des Kantons A.Rh. die Kosten auferlegt werden, wenn sie das
Strafverfahren durch verwerfliches oder unkorrektes Verhalten veranlasst oder
dessen Durchführung erschwert habe. Nach der Rechtsprechung sei dies der Fall,
wenn Widerrechtlichkeit im Sinne von Art. 41 OR gegeben sei, wenn sie gegen
privat-, straf- oder verwaltungsrechtliche Normen verstossen habe, die direkt
oder indirekt das Vermeiden schädigender Handlungen vorschrieben. Unter den
gleichen Voraussetzungen könne von der Zusprechung einer Parteientschädigung
abgesehen werden.
Vorliegend sei X.________ nach der Ansicht des Verhöramts zwar kein
strafrechtliches Verschulden vorzuwerfen. Umgekehrt aber gelte es festzuhalten,
dass sie von Anfang an gewusst habe, dass A.________ von der
Vormundschaftsbehörde in ein Heim eingewiesen wurde und daraus geflohen sei.
Dessen ungeachtet habe sie die Flüchtige fast einen Monat bei sich aufgenommen,
ohne etwas zu unternehmen oder jemanden zu informieren. Wenn das Verhöramt
lediglich von einem strafrechtlichen Grenzfall ausgehe, so sei dies sehr
grosszügig und nur auf Grund der gesamten Umstände vertretbar. Hingegen habe
sie mit ihrem Verhalten zumindest zivilrechtliche oder gesellschaftliche
(Rechts-)Normen verletzt. Sie sei zwar nicht verpflichtet gewesen, das
flüchtige Mädchen der Polizei zu überstellen. Hingegen hätte es zu ihrer
Pflicht und Verantwortung gehört, die verantwortlichen Stellen über den
Verbleib des Mädchens zu orientieren. Es hätte sich für sie einerseits aus dem
gesellschaftlichen Zusammenleben und anderseits aus der konkreten Situation die
Pflicht ergeben, die zuständigen staatlichen Stellen zu informieren. Indem sie
dies unterlassen habe, habe sie die Einleitung des Strafverfahrens verschuldet.
-
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen Rekursentscheid der
Staatsanwaltschaft unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten des Kantons
Appenzell Rh. aufzuheben. Für das Verfahren vor Vorinstanz sei ihr eine
angemessene Entschädigung zuzusprechen, eventuell sei das Verfahren zu neuem
Entscheid im Kostenpunkt an das Verhöramt zurückzuweisen. Für das Verfahren vor
Bundesgericht ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

Der Verhörrichter verzichtet auf Vernehmlassung, währenddem der Staatsanwalt
beantragt, die Beschwerde kostenfällig abzuweisen.

Erwägungen:
-
Die Beschwerdeführerin rügt, es sei verfassungs- und konventionswidrig, ihr die
Verfahrenskosten zu überbinden und eine Parteientschädigung zu verweigern.
- Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 2 EMRK dürfen einem Angeschuldigten bei Einstellung des Verfahrens nur
Kosten auferlegt werden, wenn er durch ein unter rechtlichen Gesichtspunkten
vorwerfbares Verhalten die Einleitung des Strafverfahrens veranlasst oder
dessen Durchführung erschwert hat. Bei der Kostenpflicht des aus dem Verfahren
entlassenen Angeschuldigten handelt es sich nicht um eine Haftung für ein
strafrechtliches Verschulden, sondern um eine zivilrechtlichen Grundsätzen
angenäherte Haftung für ein fehlerhaftes Verhalten, durch das die Einleitung
oder Erschwerung des Prozesses verursacht wurde. Gemäss Art. 41 Abs. 1 OR ist
zum Ersatz verpflichtet, wer einem anderen widerrechtlich Schaden zufügt, sei
es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit. Im Zivilrecht wird demnach eine
Haftung ausgelöst, wenn jemandem durch ein widerrechtliches und - abgesehen von
den Fällen der Kausalhaftung - schuldhaftes Verhalten ein Schaden zugefügt
wird. Widerrechtlich im Sinne von Art. 41 Abs. 1 OR ist ein Verhalten, wenn es
gegen Normen verstösst, die direkt oder indirekt Schädigungen untersagen bzw.
ein Schädigungen vermeidendes Verhalten vorschreiben. Solche Verhaltensnormen
ergeben sich aus der Gesamtheit der schweizerischen Rechtsordnung, unter
anderem aus Privat-, Verwaltungs- und Strafrecht, gleichgültig, ob es sich um
eidgenössisches oder kantonales, geschriebenes oder ungeschriebenes Recht
handelt. Es ist mit der in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK
festgelegten Unschuldsvermutung vereinbar, einem nicht verurteilten
Angeschuldigten die Kosten zu überbinden, wenn er in zivilrechtlich
vorwerfbarer Weise gegen eine solche Verhaltensnorm klar verstossen und dadurch
das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat (BGE 119
Ia 332 E. 1b mit Hinweisen). Unzulässig ist es dagegen, die Kostenauflage damit
zu begründen, der Angeschuldigte habe sich strafbar gemacht bzw. ihn treffe ein
strafrechtliches Verschulden (BGE 116 Ia 162 E. 2e S. 175; 1P.372/2000 in ZBl
102/2001 S. 141 E. 3b).
- Mit der rechtskräftigen Einstellung des Strafverfahrens gegen die
Beschwerdeführerin ist davon auszugehen, dass das ihr vorgeworfene Verhalten -
das Beherbergen eines minderjährigen Mädchens, von dem sie wusste, dass es aus
einem Erziehungsheim ausgerissen war, während knapp eines Monats, ohne die
Polizei, die zuständige Vormundschaftsbehörde oder die Eltern zu
benachrichtigen - strafrechtlich nicht relevant ist. Die Staatsanwaltschaft
stellt dagegen im angefochtenen Entscheid fest, das Verhöramt sei "sehr
grosszügig" gewesen, wenn es von einem strafrechtlichen Grenzfall ausgehe. Da
im Zweifel - also bei Vorliegen eines Grenzfalls - Anklage zu erheben ist, kann
dies nur so verstanden werden, dass sie damit die (notabene von ihr genehmigte)
Einstellung kritisiert und zum Ausdruck bringt, dass sie den strafrechtlichen
Vorwurf gegen die Beschwerdeführerin für begründet hält und ihr deswegen
wenigstens die Verfahrenskosten überbinden möchte. Eine derart begründete
Kostenauflage stellt eine verfassungs- und konventionsrechtlich verpönte
Verdachtsstrafe dar. Die Staatsanwaltschaft nennt denn auch keine zivil- oder
verwaltungsrechtliche Norm, welche die Beschwerdeführerin verpflichtet hätte,
den Aufenthaltsort des Mädchens der Polizei, der zuständigen
Vormundschaftsbehörde oder den Eltern zu melden. Die angefochtene Kostenauflage
ist daher mit Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK nicht vereinbar. Da
sich nach den Ausführungen der Staatsanwaltschaft die Zusprechung einer
Parteientschädigung nach den gleichen Kriterien richtet wie die Verlegung der
Kosten, erweist sich damit auch die Verweigerung einer solchen als willkürlich.
- Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben. Da allseits anerkannt ist, dass die Beschwerdeführerin nicht in der
Lage war, sich selber zu verteidigen, der vom Verteidiger geltend gemachte
Aufwand von insgesamt 6,25 Stunden für das erst- und das zweitinstanzliche
kantonale Verfahren angemessen und der Stundenansatz von 200 Franken plus
Spesenpauschale nicht übersetzt erscheint, ist die Angelegenheit spruchreif und
kann vom Bundesgericht ohne Rückweisung reformatorisch entschieden werden.
Somit sind von allen Instanzen keine Kosten zu erheben, und der Kanton
Appenzell A.Rh. hat die Beschwerdeführerin für das kantonale und das
bundesrechtliche Verfahren angemessen zu entschädigen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verteidigung
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:
-
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid der
Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. vom 11. Februar 2008 aufgehoben.
-
Es werden weder für das kantonale noch für das bundesgerichtliche Verfahren
Kosten erhoben.
-
Der Kanton Appenzell A.Rh. hat der Beschwerdeführerin für das kantonale
Verfahren eine Entschädigung von Fr. 1'398.80 und für das bundesgerichtliche
Verfahren eine solche von Fr. 1'500.--, insgesamt Fr. 2'898.80, zu bezahlen.
-
Dieses Urteil wird den Parteien und der Staatsanwaltschaft des Kantons
Appenzell A.Rh. schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. August 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Störi