Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.114/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_114/2008 /hum

Urteil vom 4. November 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Ferrari, Zünd, Mathys,
Gerichtsschreiber Boog.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Gerold Meier,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, Herrenacker 26, 8200 Schaffhausen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Rechtswidriges Verweilen im Land (Art. 23 Abs. 1 ANAG),

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 11.
Januar 2008.

Sachverhalt:

A.
Die Einzelrichterin in Strafsachen des Kantonsgerichts Schaffhausen erklärte
X.________ mit Urteil vom 30. Mai 2007 des rechtswidrigen Verweilens im Lande
schuldig und bestrafte ihn mit einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr.
10.--. An diese Strafe rechnete sie 4 Tage Untersuchungshaft an.

Eine vom Beurteilten gegen diesen Entscheid geführte Berufung wies das
Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Urteil vom 11. Januar 2008 ab und
bestätigte das erstinstanzliche Urteil.

B.
X.________ führt Beschwerde an das Bundesgericht, mit der er beantragt, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben, und er sei von Schuld und Strafe
freizusprechen. Ferner ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege.

C.
Das Obergericht des Kantons Schaffhausen stellt in seiner Vernehmlassung
sinngemäss den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Staatsanwaltschaft
schliesst unter Verweisung auf das angefochtene Urteil ebenfalls auf Abweisung
der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
Dem angefochtenen Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 8. Februar 1999 in der Schweiz auf. Das
Bundesamt für Flüchtlinge wies ein von ihm gestelltes Asylgesuch am 15. Januar
2001 ab und wies ihn gleichzeitig aus der Schweiz weg. Vom 5. Oktober 2001 bis
zum 9. Juli 2004 befand sich der Beschwerdeführer aufgrund eines Urteils des
Bezirksgerichts Zürich vom 5. Oktober 2001, mit welchem er zu 3 1/2 Jahren
Zuchthaus und 10 Jahren Landesverweisung verurteilt worden war, im
Strafvollzug. Am 4. Juni 2004 verfügte das Bundesamt für Zuwanderung,
Integration und Auswanderung eine unbefristete Einreisesperre, gültig ab 10.
Juli 2004. Mit Strafbefehl vom 30. März 2005 verurteilte die Staatsanwaltschaft
Zürich-Sihl den Beschwerdeführer wegen Verweisungsbruchs, begangen vom 10. Juli
2004 bis 29. März 2005, zu 3 Monaten Gefängnis, welche Strafe er vom 30. März
2005 an verbüsste. Seit der Entlassung aus dem Strafvollzug hielt sich der
Beschwerdeführer weiterhin ohne gültigen Rechtsgrund in der Schweiz auf
(angefochtenes Urteil S. 4).

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei schon mit Strafbefehl vom 30.
März 2005 wegen Verweisungsbruchs verurteilt worden und könne daher nicht ein
weiteres Mal wegen desselben Delikts bzw. wegen rechtswidrigen Verweilens im
Lande bestraft werden. Sein Aufenthalt in der Schweiz beruhe auf einem
einzigen, ein für alle Mal gefassten Willensentschluss. Dementsprechend habe er
nach der ersten Verurteilung nicht einen neuen Entschluss gefasst, im Gebiet
der Schweiz zu verbleiben. Es liege daher auch nur eine einzige strafbare
Handlung vor (Beschwerde S. 2 f.).

2.2 Die Vorinstanz nimmt an, beim rechtswidrigen Verweilen im Land handle es
sich um ein Dauerdelikt, das solange andauere, als sich die weggewiesene Person
auf dem verbotenen Gebiet aufhalte. Der Täter begehe dieses Delikt nach dem
Wegweisungsentscheid so lange bis er das verbotene Gebiet verlassen habe. Der
Betroffene könne daher für den Zeitraum seit der Entlassung aus dem
Strafvollzug im Kanton Zürich im Jahr 2005 bis zum 29. Oktober 2006, für
welchen er noch nicht bestraft worden sei, ohne weiteres wegen rechtswidrigen
Verweilens im Lande verurteilt werden (angefochtenes Urteil S. 5).

3.
3.1 Gemäss Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG wird, wer rechtswidrig das Land betritt
oder darin verweilt, mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft (bzw. in
der bis zum Inkrafttreten des revidierten Allgemeinen Teils des
Strafgesetzbuches am 1. Januar 2007 gültigen Fassung des Gesetzes mit Gefängnis
bis zu 6 Monaten). Rechtswidrig ist der Aufenthalt im Lande, wenn der Ausländer
weder über eine Aufenthalts- noch eine Niederlassungsbewilligung verfügt,
obschon er einer solchen bedurft hätte (Art. 1 ANAG e contrario).

3.2 Das andauernde und ununterbrochene rechtswidrige Verweilen im Lande gemäss
Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG ist - wie der Tatbestand des Verweisungsbruchs gemäss
Art. 291 StGB - ein Dauerdelikt (BGE 104 IV 186 E. 1; Urteil des Kassationshofs
6S.485/2005 vom 8.2.2006 E. 1.2.1). Eine Dauerstraftat liegt vor, wenn die
Begründung des rechtswidrigen Zustands mit den Handlungen, die zu seiner
Aufrechterhaltung vorgenommen werden, bzw. mit der Unterlassung seiner
Aufhebung eine Einheit bildet und das auf Fortführung des deliktischen Erfolgs
gerichtete Verhalten vom betreffenden Straftatbestand ausdrücklich oder
sinngemäss mitumfasst wird (BGE 132 IV 49 E. 3.1.2.2; 131 IV 83 E. 2.1.2 und
2.4.5; 84 IV 17 E. 2). Das Delikt ist mit der Verwirklichung des Tatbestandes
somit nicht abgeschlossen, sondern der rechtswidrige Zustand wird durch den
fortdauernden Willen des Täters aufrechterhalten und erneuert sich
gewissermassen fortlaufend (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht,
Allg. Teil I, 3. Aufl., Bern 2005, § 12 N 10; CLAUS ROXIN, Strafrecht,
Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. München 2005, § 10 N 105).

Die Verurteilung wegen eines Dauerdelikts bewirkt nach der Rechtsprechung
dessen Zäsur. Da die Verurteilung nur die Herbeiführung und die
Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustandes bis zum Urteilszeitpunkt
erfasst, ist das Aufrechterhalten des Dauerzustands nach dem Urteil als
selbständige Tat zu werten. Die Tateinheit wird durch die Verurteilung
aufgehoben, und für neue Delikte gilt der Grundsatz "ne bis in idem" nicht (BGE
104 IV 230 E. 3 [zur aufgegebenen Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts]). In
diesen Fällen ist daher eine neue Verurteilung für die vom ersten Urteil nicht
erfassten Tathandlungen (vgl. BGE 118 IV 269 E. 4) möglich (Urteil des
Kassationshofs 6S.485/2005 vom 8.2.2006 E. 1.2.1; vgl. auch RUTH RISSING-VAN
SAAN, Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2006, 2. Band, Vor § 52 N
56; SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE/STERNBERG-LIEBEN, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27.
Aufl. 2006, Vorbem §§ 52 ff. N 87).

3.3 Im Lichte dieser Rechtsprechung verletzt das angefochtene Urteil kein
Bundesrecht. Insbesondere ist keine Verletzung des Grundsatzes "ne bis in idem"
(vgl. Art. 4 des Protokolles Nr. 7 zur EMRK vom 22. November 1984 [SR
0.101.07]; Art. 14 Abs. 7 IPBPR [SR 0.103.2]; BGE 128 II 355 E. 5; 120 IV 10 E.
2b) ersichtlich. Die Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" setzt unter
anderem voraus, dass dem Richter im ersten Verfahren die Möglichkeit
zugestanden haben muss, den Sachverhalt unter allen tatbestandsmässigen Punkten
zu würdigen (BGE 119 Ib 311 E. 3c mit Hinweisen). Dies trifft hier nicht zu, da
der Aufenthalt in der Schweiz seit dem ersten Urteil noch nicht Gegenstand des
ersten Verfahrens bilden konnte und somit von der Sperrwirkung der ersten
Verurteilung nicht erfasst wird. Gegenstand dieses ersten Strafverfahrens
bildete denn auch lediglich der Verweisungsbruch in der Zeit vom 10. Juli 2004
bis zum 29. März 2005 und nicht etwa ein irgendwie gearteter definitiver
Entschluss, das Gebiet der Schweiz nie mehr zu verlassen (BGE 118 IV 269
[generelle Verweigerung des Zivilschutzdienstes]; vgl. auch dBVerfGE 23 191,
204 ff.).

4.
4.1 Der Beschwerdeführer beruft sich für seinen Standpunkt auf ein Urteil des
deutschen Bundesverfassungsgerichts, welches in einem Fall der andauernden
Weigerung eines in Deutschland lebenden algerischen Vaters, seine Tochter von
einem Verwandtenbesuch aus Algerien zu ihrer Mutter zurückkehren zu lassen, zum
Schluss gelangt, eine zweite Verurteilung wegen derselben Kindesentziehung, die
sich allein auf die dogmatische Figur der Zäsurwirkung stütze, lasse sich mit
dem Schuldprinzip nicht vereinbaren (Urteil dBVerfG, 2 BvR 1895/05 vom 27.
Dezember 2006, in: EuGRZ 2007 S. 64; vgl. auch ANDREAS ZÜND, in: Marc Spescha
et al. [Hrsg.], Kommentar Migrationsrecht, Art. 115 N 6 S. 250).

4.2 Die Vorbehalte, welche das deutsche Bundesverfassungsgericht hinsichtlich
des Schuldprinzips gegen die Zäsurwirkung beim Dauerdelikt vorbringt, erlangen
auch im vorliegend zu beurteilenden Kontext Bedeutung. Denn die
Strafverfolgungsbehörden schaffen durch die Eröffnung eines erneuten
Strafverfahrens unter Verweis auf die Zäsurwirkung der vorausgegangenen
Verurteilung jeweils selbst die Voraussetzung für die Verurteilung wegen einer
vermeintlich neuen Tat. In einem solchen Fall bildet letztlich nicht die
individuelle Schuld des Täters Anlass der Bestrafung und Grundlage der
Strafzumessung, sondern die von Zufälligkeiten abhängige Geschwindigkeit der
Strafverfolgung, die zur Konstruktion von Zäsurwirkungen führt (vgl. Urteil
dBVerfG, 2 BvR 1895/05 vom 27. Dezember 2006, E. C.II. b/bb, in: EuGRZ 2007 S.
66). Die Problematik manifestiert sich im Besonderen bei der Konstellation, in
welcher die infolge der Zäsurwirkung in verschiedenen Strafverfahren
ausgesprochenen Strafen die im fraglichen Tatbestand angedrohte Höchststrafe in
ihrer Gesamtheit überschreiten. In diesem Fall wird das Schuldprinzip, auf
welchem das Strafrecht fusst (BGE 123 IV 1 E. 2), unterlaufen und kommt der
erneuten Bestrafung zunehmend eine Beugewirkung zur Erzwingung der
unterlassenen Handlung zu.

Dieser Problematik ist insofern Rechnung zu tragen, als eine neuerliche
Verurteilung wegen eines Dauerdelikts und eine Zumessung der Strafe ohne
Rücksicht auf die bereits in einem früheren Strafurteil erfasste Dauer der
Tatbestandsverwirklichung erfordert, dass der Täter nach dem früheren
Schuldspruch einen vom früheren losgelösten, neuen Tatentschluss fasst. Fehlt
es an einem solchen, beruht die nach dem vorangegangenen Schuldspruch
andauernde Verwirklichung des Dauertatbestandes mithin auf einem fortwirkenden,
schon vor der ersten Verurteilung gefassten einheitlichen Tatentschluss, muss
der Richter im neuen Urteil bei der Zumessung der Strafe für die noch nicht
beurteilte Deliktsdauer mit Blick auf das Schuldprinzip darauf achten, dass die
Summe der wegen des Dauerdelikts ausgesprochenen Strafen dem Gesamtverschulden
angemessen ist (Art. 47 Abs. 1 StGB) und die im fraglichen Tatbestand
angedrohte Höchststrafe nicht überschreitet.

4.3 Im zu beurteilenden Fall verletzt das angefochtene Urteil auch unter diesem
Gesichtpunkt Bundesrecht nicht. Der Beschwerdeführer ist in einem ersten
Verfahren des Verweisungsbruchs im Sinne von Art. 291 StGB wegen Missachtung
der durch das Bezirksgericht Zürich ausgesprochenen Landesverweisung schuldig
erklärt worden. Das Gesetz droht für diesen Tatbestand eine Freiheitsstrafe bis
zu drei Jahren (nach der bis zum 1.1.2007 geltenden Fassung Gefängnis) oder
Geldstrafe an. Im angefochtenen neuen Urteil, in welchem keine Verurteilung
wegen Verweisungsbruchs erfolgte, weil mit Inkrafftreten des neuen Allgemeinen
Teils des Strafgesetzbuches altrechtlich ausgesprochene Landesverweisungen
aufgehoben wurden (Art. 1 Abs. 2 Schlussbestimmungen der Änderung vom 13.
Dezember 2002), lautet der Schuldspruch auf rechtswidriges Verweilen im Land
gemäss Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG. Dieser Tatbestand droht Geldstrafe bis zu 180
Tagessätzen (bzw. nach der bis zum 1.1.2007 geltenden Fassung Gefängnis bis zu
sechs Monaten) an. Die in beiden Urteilen ausgesprochenen Strafen von drei
Monaten Gefängnis und Geldstrafe von 90 Tagessätzen erweisen sich in ihrer
Summe dem Verschulden als angemessen und überschreiten die Höchststrafe nicht.
Eine Verletzung des dem Richter bei der Strafzumessung zustehenden Ermessens
ist nicht ersichtlich.

Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet.

5.
Aus diesen Gründen ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er
stellt indes ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gemäss Art. 64 Abs. 1
BGG. Dieses kann bewilligt werden, da von seiner Bedürftigkeit auszugehen und
diese ausreichend belegt ist (vgl. BGE 125 IV 161 E. 4) und seine Beschwerde
nicht von vornherein aussichtslos war (vgl. BGE 124 I 304 E. 2 mit Hinweisen).
Dem Beschwerdeführer werden deshalb keine Kosten auferlegt. Seinem Vertreter
wird aus der Bundesgerichtskasse eine angemessene Entschädigung ausgerichtet
(Art. 64 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

3.
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse
ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. November 2008

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Boog