Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.651/2008
Zurück zum Index II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
2C_651/2008

Urteil vom 20. April 2009
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Müller, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Zünd,
Gerichtsschreiber Klopfenstein.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Georg Simmen,

gegen

Amt für Arbeit und Migration des Kantons Uri.

Gegenstand
Aufenthaltsbewilligung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri,
Verwaltungsrechtliche Abteilung,
vom 11. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
Der aus dem Kosovo stammende X.________ (geb. 1975) reiste am 21. August 1994
illegal in die Schweiz ein und ersuchte hier erfolglos um Asyl. Im Juni 1997
heiratete er die Schweizer Bürgerin Y.________ (geb. 1978) und erhielt
daraufhin eine Aufenthaltsbewilligung. Im Mai 2001 wurde die Ehe geschieden;
worauf X.________ die in der Schweiz niederlassungsberechtigte Landsfrau
Z.________ (geb. 1982) heiratete und gestützt auf diese Ehe eine neue
Aufenthaltsbewilligung erhielt. Das Ehepaar hat zwei Söhne (A.________, geb.
2001, und B.________, geb. 2005). Am 9. November 2005 wurde X.________ von der
Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Uri (Amt für Arbeit und Migration)
fremdenpolizeilich verwarnt, weil er zu verschiedenen Klagen Anlass gegeben
habe (u.a. diverse Bussen, 45 Betreibungen und 12 Verlustscheine,
Polizeirapporte wegen Hausfriedensbruchs und häuslicher Gewalt).

B.
Am 18. Januar 2008 wies das Amt für Arbeit und Migration das Gesuch von
X.________ vom 6. August 2007 um eine weitere Verlängerung der
Aufenthaltsbewilligung ab, im Wesentlichen mit der Begründung, gegen ihn hätten
weitere Betreibungen eingeleitet werden müssen und er habe zu polizeilichen
Interventionen (Anzeigen wegen häuslicher Gewalt) Anlass gegeben. Die Anzeigen
habe die Ehefrau zwar wieder zurückgezogen, doch sei dies gemäss den Akten
wegen des massiven Drucks des Ehemannes auf die Ehefrau geschehen. Für diese
Begründung stützte sich das Amt auf einen Bericht des Sozialamts G.________ vom
29. November 2007. Darin hielt der zuständige Sozialarbeiter zusammenfassend
fest, aus seiner Sicht belasteten die Drohungen des Ehemannes gegenüber seiner
Frau sowie die persönliche und finanzielle Vernachlässigung seiner Pflichten
das gesamte Familiensystem massiv. X.________ scheine es gut zu verstehen,
psychischen Druck auf seine Frau auszuüben, um sie letztlich nach seinem Willen
kontrollieren zu können.
Eine gegen die Verfügung vom 18. Januar 2008 erhobene Einsprache wies das Amt
für Arbeit und Migration am 14. März 2008 ab.

C.
Hiegegen gelangte X.________ an das Obergericht des Kantons Uri und verlangte,
ihm sei der Aufenthalt im Kanton Uri weiterhin zu bewilligen. Er trug vor,
seine Ehe sei (wieder) intakt und machte geltend, die finanzielle Situation der
Familie habe sich weiter verbessert. Er legte eine aktuelle Lohnabrechnung und
einen aktuellen Betreibungsregisterauszug ins Recht, ausserdem einen neuen
Arbeitsvertrag zwischen der S.________ AG und seiner Ehefrau. Sodann beantragte
er ausdrücklich, seine Frau - welche ihrerseits ein persönliches
handschriftliches Schreiben zu den Akten gab - sei als Zeugin zu befragen,
zumal sich das Amt für Arbeit und Migration bei der Beurteilung der ehelichen
Situation lediglich auf den fraglichen, nicht den Tatsachen entsprechenden
"Wahrnehmungsbericht" des Sozialamtes gestützt habe.

Mit Entscheid vom 11. Juli 2008 wies das Obergericht des Kantons Uri die
Beschwerde ab. Die vom Beschwerdeführer im obergerichtlichen Verfahren neu
eingereichten Beweismittel liess es unberücksichtigt, und auf die persönliche
Anhörung der Ehefrau hatte es verzichtet, weil diese Beweismassnahme
"untauglich" sei und im Übrigen davon ausgegangen werden könne, dass die
Überzeugung des Gerichts dadurch nicht geändert würde. Den begründeten
Entscheid versandte das Obergericht am 4. August 2008.

D.
Mit Eingabe vom 11. September 2008 führt X.________ Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht mit den Anträgen, das
Urteil des Obergerichts vom 11. Juli 2008 aufzuheben und ihm - dem
Beschwerdeführer - den weiteren Aufenthalt im Kanton Uri zu bewilligen;
eventuell sei er (letztmals) fremdenpolizeilich zu verwarnen.
Mit Eingabe vom 4. Oktober 2008 ersucht X.________ ausserdem um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung.
Das Amt für Arbeit und Migration verzichtet auf eine Stellungnahme, ebenso das
Obergericht. Das Bundesamt für Migration beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Erwägungen:

1.
1.1 Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG schliesst die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen Entscheide über
ausländerrechtliche Bewilligungen aus, auf deren Erteilung weder nach dem
Bundes- noch dem Völkerrecht ein Rechtsanspruch besteht.

1.2 Das streitige Gesuch um Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung wurde vor
Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen
und Ausländer (AuG; SR 142.20) am 1. Januar 2008 eingereicht und beurteilt sich
daher noch nach dem inzwischen aufgehobenen Bundesgesetz vom 26. Mai 1931 über
Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) und seinen
Ausführungserlassen (Art. 126 Abs. 1 AuG).

1.3 Gemäss Art. 17 Abs. 2 Satz 1 ANAG (in der Fassung vom 23. März 1990) hat
der ausländische Ehegatte eines niedergelassenen Ausländers Anspruch auf
Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, solange die Ehegatten
zusammen wohnen.
Der Beschwerdeführer ist mit einer in der Schweiz niederlassungsberechtigten
Landsfrau verheiratet und lebt mit ihr zusammen. Damit steht ihm gestützt auf
die erwähnte Bestimmung im Grundsatz ein Anspruch auf eine
Aufenthaltsbewilligung zu. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten erweist sich damit als zulässig (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG).

1.4 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten
Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhalts
kann nur gerügt bzw. vom Bundesgericht von Amtes wegen berichtigt oder ergänzt
werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 BGG bzw. Art. 105 Abs. 2 BGG).
Eine entsprechende Rüge, welche rechtsgenüglich substantiiert vorzubringen ist
(Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 133 II 249 E. 1.4.3 S. 254
f.), setzt zudem voraus, dass die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.
Ein gemäss Art. 17 Abs. 2 ANAG bestehender Anspruch auf Erteilung und
Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung erlischt, wenn der Anspruchsberechtigte
gegen die öffentliche Ordnung verstossen hat (Satz 4). Die betreffenden
Voraussetzungen sind weniger streng als im Fall des ausländischen Ehegatten
eines Schweizer Bürgers, in welchem ein Ausweisungsgrund im Sinne von Art. 10
ANAG vorliegen müsste. Die Verweigerung der Bewilligung muss jedoch
verhältnismässig sein (vgl. BGE 120 Ib 129 E. 4 S. 130 f.; 122 II 385 E. 3a S.
390).

3.
3.1 Der Beschwerdeführer rügt vorab eine Verletzung seines Anspruchs auf
rechtliches Gehör, weil das Obergericht entgegen dem ausdrücklich gestellten
Antrag darauf verzichtet habe, seine Ehefrau persönlich zur Ehe und zum
Familienleben zu befragen. Die Vorinstanz wäre, zumal sie aufgrund des
Novenverbots im kantonalen Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren auch die
schriftliche Eingabe der Ehefrau nicht beachtet habe, verpflichtet gewesen,
sich einen eigenen Eindruck von der Sachlage zu verschaffen.

3.2 Das rechtliche Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV dient einerseits der
Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes
Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die
Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des
Betroffenen, sich vor Erlass eines solchen Entscheides zur Sache zu äussern,
erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit
erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher
Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern,
wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen. Der Anspruch auf
rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer
Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam
zur Geltung bringen kann (BGE 132 II 485 E. 3.2 S. 494; 127 I 54 E. 2b S. 56;
117 Ia 262 E. 4b S. 268, mit Hinweisen).
Nach der Rechtsprechung kann das Gericht das Beweisverfahren schliessen, wenn
die Beweisanträge eine nicht erhebliche Tatsache betreffen oder offensichtlich
untauglich sind oder wenn es aufgrund bereits abgenommener Beweise seine
Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in vorweggenommener Beweiswürdigung
annehmen kann, dass seine Überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht
geändert würde (BGE 130 II 425 E. 2.1 S. 428; 124 I 208 E. 4a S. 211).
Art. 29 Abs. 2 BV vermittelt auch nicht zwingend das Recht, mündlich angehört
zu werden. Eine mündliche Äusserungsmöglichkeit kann aber geboten sein wegen
persönlicher Umstände, die sich nur aufgrund einer mündlichen Anhörung klären
lassen (vgl. Gerold Steinmann, in: Kommentar BV, 2. Auflage 2008, Rz. 25 zu
Art. 29 Abs. 2 BV) bzw. wenn sich eine solche Anhörung für den zu fällenden
Entscheid als unerlässlich erweist (BGE 122 II 464 E. 4 S. 469 f.).

3.3 Das Obergericht legt dem Beschwerdeführer als Verstoss gegen die
öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Satz 4 ANAG in erster Linie zur
Last, dass er nach der erfolgten fremdenpolizeilichen Verwarnung weiterhin
Schulden gemacht und zu Klagen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt Anlass
gegeben habe (S. 11 des angefochtenen Entscheides). In tatsächlicher Hinsicht
stellte es fest, dass dem Beschwerdeführer seit dem Jahre 2004 der Lohn bis auf
das Existenzminimum gepfändet werde, wodurch es ihm gelungen sei, über die
Hälfte seiner Schulden abzubauen (S. 9 des angefochtenen Entscheides). Weiter
stellte das Gericht in tatsächlicher Hinsicht fest, dass die Anzeigen der
Ehefrau wegen häuslicher Gewalt zurückgezogen wurden bzw. ein Strafverfahren
wegen Drohung eingestellt worden ist (angefochtener Entscheid, ebenda).
Damit sind die gegenüber dem Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe nicht so
gravierend, dass sie ungeachtet der Interessenlage der Familie und der Frage,
wie eng die eheliche Beziehung ist, zur Verweigerung der anbegehrten
Bewilligung führen können.
Vorliegend beruht die Auffassung der kantonalen Richter über die eheliche
Situation des Beschwerdeführers einzig auf einem Bericht des Sozialamts (vgl.
vorne lit. B). Es erscheint unter diesen Umständen willkürlich und mit einem
fairen Verfahren (Art. 29 BV) unvereinbar, das Urteil auf ein indirektes
Beweismittel abzustützen, ohne das verfügbare direkte Beweismittel (Befragung
der Ehefrau) abzunehmen und so dem Beschwerdeführer zu ermöglichen, den Bericht
des Sozialamtes in Frage zu stellen.
Die Gehörsrüge erweist sich nach dem Gesagten als begründet, was zur
Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt.

4.
4.1 Heisst das Bundesgericht die Beschwerde gut, so entscheidet es in der Sache
selbst oder weist diese zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurück. Es kann
die Sache auch an die Behörde zurückweisen, die als erste Instanz entschieden
hat (Art. 107 Abs. 2 BGG).
Vorliegend erscheint es angezeigt, die Sache an das Obergericht des Kantons Uri
zurückzuweisen, damit dieses den Sachverhalt unter Einhaltung der wesentlichen
Verfahrensbestimmungen feststellt. Von Bundesrechts wegen wird in diesem
Zusammenhang auch Folgendes zu berücksichtigen sein:

4.2 Das Bundesgerichtsgesetz schreibt den Kantonen vor, dass die richterliche
Vorinstanz des Bundesgerichts oder ein vorgängig zuständiges Gericht den
Sachverhalt frei prüft und das Recht von Amtes wegen anwendet (Art. 110 BGG).
Daraus folgt, dass der Sachverhalt im gerichtlichen Verfahren zu erstellen ist,
weshalb diesem auch neue Tatsachen und Beweismittel unterbreitet werden können
(Alfred Kölz/ Jürg Bosshart/Martin Röhl, Kommentar zum
Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Aufl., Zürich 1999, N 11
zu § 52; Ruth Herzog, Art. 6 EMRK und kantonale Verwaltungsrechtspflege, S.
372; Heiner Wohlfart, Anforderungen der Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 98a OG an
die kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetze, in: AJP 1995 S. 1431). Damit
wird die Rechtsweggarantie von Art. 29a BV bzw. Art. 6 EMRK umgesetzt, welche
eine uneingeschränkte Sachverhalts- und Rechtskontrolle durch (wenigstens) ein
Gericht verlangt.
Die Erwägungen des Obergerichts, wonach für seinen Rechtsmittelentscheid die
Sachlage zur Zeit des Erlasses der erstinstanzlichen Verfügung massgebend sei
und nachträgliche Veränderungen wegen des kantonalen prozessrechtlichen
Novenverbots nicht berücksichtigt werden könnten (S. 5/6 des angefochtenen
Entscheides), halten damit heutiger bundesgerichtlicher Überprüfung nicht
(mehr) stand (vgl. dazu auch das zur Publikation vorgesehene Urteil 2C_607/2008
vom 24. März 2009, E. 3.3). Die Beschwerde ist auch aus diesem Grund
gutzuheissen.

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66
Abs. 4 BGG). Hingegen hat der Kanton Uri den Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 BGG). Damit
wird das gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Uri (Verwaltungsrechtliche Abteilung) vom 11. Juli 2008 aufgehoben.

2.
Die Sache wird zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Der Kanton Uri hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

5.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung
wird als gegenstandslos abgeschrieben.

6.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Amt für Arbeit und Migration und
dem Obergericht des Kantons Uri (Verwaltungsrechtliche Abteilung) sowie dem
Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. April 2009
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts:
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Müller Klopfenstein