Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.643/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
2C_643/2008

Urteil vom 29. Januar 2009
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Müller, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Karlen, Zünd, Donzallaz,
Gerichtsschreiber Hugi Yar.

Parteien
Bundesamt für Migration,
Beschwerdeführer,

gegen

X.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Anni Lanz,

Amt für Migration Basel-Landschaft.

Gegenstand
Verlängerung der Durchsetzungshaft,

Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung
Verfassungs- und Verwaltungsrecht, vom 2. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
X.________ (geb. 1966) stammt aus Marokko. Er heiratete am 12. September 2002
eine Schweizer Bürgerin marokkanischer Abstammung. Am 29. April 2004 wurde den
Eheleuten das Getrenntleben gestattet, nachdem sie bereits zuvor den
gemeinsamen Haushalt aufgehoben hatten. Am 30. Juni 2004 kam der gemeinsame
Sohn Y.________ zur Welt, der unter der Obhut der Mutter steht. Das Amt für
Migration des Kantons Basel-Landschaft lehnte es am 24. Februar 2005 ab, die
Aufenthaltsbewilligung von X.________ zu verlängern, was das Bundesgericht auf
Beschwerde hin am 20. Juli 2006 bestätigte (Urteil 2A.240/2006).

B.
Zur Sicherstellung des Wegweisungsvollzugs befand sich X.________ ab dem 8.
November 2006 in Ausschaffungshaft (vgl. das bundesgerichtliche Urteil 2A.750/
2006 vom 15. Dezember 2006). Diese Festhaltung wurde zweimal um je drei Monate
verlängert (vgl. das bundesgerichtliche Urteil 2C_274/2007 vom 21. Juni 2007).
Ab dem 7. August 2007 versetzte das Amt für Migration Basel-Landschaft
X.________ in Durchsetzungshaft (vgl. das bundesgerichtliche Urteil 2C_706/
2007 vom 24. Januar 2008), die es am 30. April 2008 bis zum 6. Juli 2008
verlängerte. Am 2. Juli 2008 lehnte der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen im
Ausländerrecht am Kantonsgericht Basel-Landschaft eine Fortsetzung der Haft um
weitere zwei Monate ab. Zwar - so führte er aus - sei diese "grundsätzlich
rechtmässig", doch erweise sie sich als unverhältnismässig, da "klarerweise"
feststehe, dass X.________ "unter keinen Umständen" bereit sei, in sein
Heimatland zurückzukehren und sich "an dieser Haltung auch in den insgesamt 20
Monaten - während denen er sich in Ausschaffungs- bzw. Durchsetzungshaft
befunden hatte - nichts geändert" habe; X.________ sei deshalb unverzüglich aus
der Haft zu entlassen.

C.
Das Bundesamt für Migration ist hiergegen am 9. September 2008 mit dem Antrag
an das Bundesgericht gelangt, den Entscheid des Einzelrichters für
Zwangsmassnahmen aufzuheben; dieser habe nicht ausschliessen können, dass sich
X.________ doch "noch eines Besseren besinnen" und "der ihm gesetzlich
auferlegten Mitwirkungspflicht aufgrund der administrativen Inhaftierung
nachkommen" werde, weshalb die Durchsetzungshaft hätte verlängert werden
müssen. Das Amt für Migration Basel-Landschaft beantragt, die Beschwerde
gutzuheissen. Das Kantonsgericht Basel-Landschaft hat auf eine Vernehmlassung
verzichtet. X.________ beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Erwägungen:

1.
Das Bundesamt für Migration ist im Bereich der ausländerrechtlichen
Zwangsmassnahmen zur Behördenbeschwerde legitimiert, falls es ihm darum geht,
konkrete Rechtsfragen eines tatsächlich bestehenden Einzelfalls mit
Auswirkungen auf künftig ähnlich gelagerte Sachverhalte zu klären (vgl. Art. 89
Abs. 2 lit. a BGG in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 OV-EJPD [SR 172.213.1]); die
Behördenbeschwerde darf nicht der Behandlung einer vom konkreten Fall
losgelösten abstrakten Frage des objektiven Rechts dienen (vgl. BGE 134 II 201
E. 1.1 S. 203; 129 II 1 E. 1.1 S. 4). Das Bundesgericht hat sich inzwischen
wiederholt zur Verhältnismässigkeit einzelner Durchsetzungshaften geäussert
(vgl. BGE 134 I 92 ff.; 134 II 201 ff.); dabei hatte es jedoch nie einen Fall
wie den vorliegenden zu prüfen, in dem die ausländerrechtlich begründete
Festhaltung insgesamt schon zwanzig Monate gedauert hatte. Auf die frist- und
formgerecht eingereichte Beschwerde, an deren Beurteilung ein hinreichendes
Interesse besteht, ist einzutreten.

2.
2.1 Sowohl das Bundesamt für Migration als auch das Amt für Migration
Basel-Landschaft und der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen gehen davon aus,
dass der Beschwerdegegner an sich die Voraussetzungen für eine weitere
Verlängerung der Durchsetzungshaft erfüllt (vgl. Art. 78 Abs. 1 und 2 AuG [SR
142.21]): Er ist rechtskräftig aus der Schweiz weggewiesen worden, weigert sich
jedoch nach wie vor, das Land zu verlassen, und kann zurzeit nur in seine
Heimat verbracht werden, falls er bereit ist, freiwillig dorthin
zurückzukehren, da (im Moment) keine Sonderflüge nach Marokko durchgeführt
werden können. Umstritten ist, ob der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen davon
ausgehen durfte, dass eine weitere Verlängerung der Festhaltung mit Blick auf
die Umstände unverhältnismässig gewesen wäre. Die Frage ist entgegen den
Ausführungen des Bundesamts zu bejahen, auch wenn in der Regel die Weigerung zu
kooperieren für sich allein die Durchsetzungshaft bzw. deren allfällige
Verlängerung nicht bereits als unverhältnismässig erscheinen lässt, da es sich
dabei um eine Haftvoraussetzung handelt (vgl. BGE 134 I 92 E. 2.3; 134 II 201
E. 2.2.4 S. 205).
2.2
2.2.1 Zweck der Durchsetzungshaft ist es, die ausreisepflichtige Person in
jenen Fällen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, in denen nach Ablauf der
Ausreisefrist der Vollzug der rechtskräftig gegen sie angeordneten Weg- oder
Ausweisung - trotz entsprechender behördlicher Bemühungen - ohne ihre
Kooperation nicht (mehr) möglich erscheint (vgl. Art. 78 AuG). Der damit
verbundene Freiheitsentzug stützt sich auf Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK (Haft zur
Sicherung eines schwebenden Ausweisungsverfahrens) und dient in diesem Rahmen
zur Erzwingung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung des
Betroffenen (Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK; vgl. BGE 134 I 92 E. 2.3.1). Die
Durchsetzungshaft bildet das letzte Mittel, wenn und soweit keine andere
Massnahme (mehr) zum Ziel führt, den illegal anwesenden Ausländer auch gegen
seinen Willen in seine Heimat verbringen zu können. Sie darf nach dem Willen
des Gesetzgebers maximal 18 Monate dauern (BGE 134 I 92 E. 2.1 und 2.3.1; 133
II 97 E. 2.2 S. 99 f. [zu Art. 13g ANAG]), muss aber in jedem Fall
verhältnismässig sein. Die Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft
dürfen zusammen eine Höchstdauer von 24 Monaten nicht überschreiten (Art. 79
AuG). Es ist jeweils aufgrund der Umstände im Einzelfall zu prüfen, ob die
ausländerrechtliche Festhaltung insgesamt (noch) geeignet bzw. erforderlich
erscheint und nicht gegen das Übermassverbot verstösst (BGE 134 I 92 E. 2.3.2;
133 II 97 E. 2.2 S. 100 [zu Art. 13g ANAG]; AB 2005 N 1209 f.).
2.2.2 Bei dieser Beurteilung ist dem Verhalten des Betroffenen, den die
Papierbeschaffung allenfalls erschwerenden objektiven Umständen (ehemalige
Bürgerkriegsregion usw.) sowie dem Umfang der von den Behörden bereits
getroffenen Abklärungen Rechnung zu tragen und zu berücksichtigen, wieweit der
Ausländer es tatsächlich in der Hand hat, die Festhaltung zu beenden, indem er
seiner Mitwirkungs- bzw. Ausreisepflicht nachkommt (BGE 134 I 92 E. 2.3.2 S.
97). Von Bedeutung können zudem seine familiären Verhältnisse sein sowie der
Umstand, dass er allenfalls wegen seines Alters, Geschlechts oder
Gesundheitszustands als "besonders schutzbedürftig" gelten muss (vgl. BGE 134
II 201 E. 2.2.3 S. 205). Das mutmassliche künftige Verhalten des Betroffenen
ist jeweils aufgrund sämtlicher Umstände abzuschätzen; dabei kommt dem
Haftrichter wegen der Unmittelbarkeit seiner Kontakte mit dem Betroffenen ein
gewisser Beurteilungsspielraum zu. Ein erklärtes konsequent unkooperatives
Verhalten bildet in diesem Rahmen nur einen - allenfalls aber gewichtigen -
Gesichtspunkt unter mehreren (BGE 134 II 201 E. 2.2.4; 134 I 92 E. 2.3.2 S.
97). Je länger die ausländerrechtlich motivierte Festhaltung dauert und je
weniger die Ausschaffung absehbar erscheint, desto strengere Anforderungen sind
an die fortbestehende Hängigkeit des Ausweisungsverfahrens im Sinne von Art. 5
Ziff. 1 lit. f EMRK zu stellen und desto kritischer ist die jeweilige
Haftverlängerung zu hinterfragen (BGE 134 II 201 E. 2.2.5 S. 206).
2.3
2.3.1 Der Beschwerdeführer hat sich - seit seiner Inhaftierung im November 2006
- konsequent geweigert, in irgendeiner Form mit den Behörden zusammenzuarbeiten
und das Land freiwillig zu verlassen. Seine Identität ist erstellt, doch kann
er nicht gegen seinen Willen zwangsweise nach Marokko verbracht werden; die
Behörden können ihrerseits nichts mehr vorkehren, um seine Ausschaffung weiter
voranzutreiben und dem konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebot von Art. 5
Ziff. 1 lit. f EMRK nachzukommen (vgl. BGE 134 II 201 E. 2.2.5; 134 I 92 E.
2.3.1 S. 96; Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S. Singh
gegen Tschechien vom 25. Januar 2005 [No 60538/00], § 61 ff.). Der
Beschwerdegegner hat in der Schweiz einen Sohn, gegenüber dem er ein
Besuchsrecht besitzt, das er offenbar seit seiner Haftentlassung wahrnimmt
(vgl. das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S. Mehmet
gegen Niederlande vom 11. Juli 2000, Recueil CourEDH 2000-VIII S. 291 ff.). Ein
Wiedererwägungsverfahren hinsichtlich der Bewilligungsfrage ist zurzeit hängig.
Wenn der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht mit Blick auf die
bereits ausgestandene Festhaltung von zwanzig Monaten und auf das glaubwürdig
geltend gemachte Interesse am Kontakt zum Sohn davon ausgegangen ist, es sei
unverhältnismässig, die Durchsetzungshaft weiter aufrechtzuerhalten, hielt er
sich im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens.
2.3.2 Der vorliegende Fall kann nicht mit dem in BGE 134 II 201 ff. beurteilten
Sachverhalt verglichen werden: Dort befand sich der Betroffene "erst" seit
dreizehn Monaten ausländerrechtlich in Haft; zudem hatte er keinerlei
Beziehungen zur Schweiz und war er hier straffällig geworden. Unmittelbar vor
seiner Festhaltung musste er an dem ihm zugewiesenen Aufenthaltsort wegen einer
Tätlichkeit angehalten werden. Gestützt hierauf konnte nicht mit einer
hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass er sich während
der verbleibenden möglichen Maximalzeit doch noch eines Bessern besinnen und
sich bereit erklären würde, das Land zu verlassen. Der Beschwerdegegner hat in
der Schweiz einen Bruder, bei dem er wohnen und der ihn unterstützen kann;
offenbar ist er inzwischen auch am 21. Januar 2008 vom Vorwurf der versuchten
Nötigung und Beschimpfung freigesprochen worden. Seit der Haftentlassung nimmt
er das ihm eingeräumte Besuchsrecht zu seinem Sohn regelmässig wahr. Sollte das
gestützt hierauf von ihm eingeleitete bewilligungsrechtliche
Wiedererwägungsverfahren ohne Erfolg bleiben, wird er für die restlichen vier
Monate ausländerrechtlicher Haft erneut festgehalten werden können, falls sich
die Verhältnisse derart verändern sollten, dass seine Ausschaffung nach Marokko
vernünftigerweise wieder absehbar erscheint. In der Zwischenzeit wäre seine
Anwesenheit illegal und könnte zu strafrechtlichen Sanktionen führen (vgl. Art.
115 AuG; BGE 6B.114/2008 vom 4. November 2008); ausländerrechtlich bleibt
gegebenenfalls seine Aus- oder Eingrenzung zulässig (vgl. Art. 74 Abs. 1 lit. b
AuG).
2.3.3 Zwar mag es stossend erscheinen, dass der Beschwerdegegner letztlich
wegen seines renitenten Verhaltens vor Ablauf der in Art. 79 AuG vorgesehenen
Festhaltungsdauer wieder auf freien Fuss gesetzt werden muss; bei den dort
genannten 24 Monaten handelt es sich jedoch um eine Maximalfrist, die nur im
Rahmen des konventions- und verfassungsmässig Zulässigen ausgeschöpft werden
darf. Dies setzt unter anderem voraus, dass die Festhaltung im konkreten Fall
mit einer minimalen Wahrscheinlichkeit nach wie vor geeignet erscheint, ihren
Zweck zu erfüllen, und nicht gegen das Übermassverbot verstösst. Dessen war
sich der Gesetzgeber bewusst, wurde doch in den Beratungen - auch von den
Befürwortern der Verschärfung der Zwangsmassnahmen - zugestanden, "dass nicht
in jedem Fall eine Haft über die ganze Dauer ausgesprochen werden kann und
wird". Wer "sich weigert, ein Formular auszufüllen", könne nicht monatelang in
Haft genommen werden; das sei "klar". Die Haftdauer müsse nach der "Schwere der
Mitwirkungsverweigerung" bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit durch den
Richter berücksichtigt werden (vgl. AB 2005 N 1209 f. [Votum von
Kommissionssprecher Müller]). Ergänzend kann darauf hingewiesen werden, dass
die EU-Rückführungsrichtlinie, welche Teil des Schengen-Besitzstands bildet und
von der Schweiz innert einer Übergangsfrist von 24 Monaten umzusetzen sein
wird, eine Abschiebehaft von bloss sechs Monaten vorsieht, die maximal bis zu
18 Monaten verlängert werden kann, falls der Betroffene nicht kooperiert oder
es zu Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch
Drittstaaten kommt (vgl. Art. 15 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und
Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger
Drittstaatsangehöriger, ABl. 2008 L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98 ff.).

3.
Die Beschwerde ist unbegründet und deshalb abzuweisen. Das unterliegende
Bundesamt hat für das vorliegende Verfahren keine Kosten zu tragen (vgl. Art.
66 Abs. 4 BGG). Der Beschwerdegegner ist nicht anwaltlich vertreten; zudem
entstand ihm kein abzugeltender Aufwand. Es ist ihm demzufolge keine
Parteientschädigung zuzusprechen (vgl. Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. Januar 2009

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Müller Hugi Yar