Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.282/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
2C_282/2008 / aka

Urteil vom 11. Juli 2008
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Müller, Karlen,
Gerichtsschreiber Küng.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Roger Lerf,

gegen

Amt für Migration des Kantons Luzern, Fruttstrasse 15, 6002 Luzern.

Gegenstand
Art. 10 Abs. 1 lit. a und Art. 11 Abs. 3 ANAG (Ausweisung),

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 7.
März 2008.

Sachverhalt:

A.
Der türkische Staatsangehörige X.________ wurde 1975 in der Schweiz geboren, im
Alter von sieben Monaten aber zu seiner Grossmutter in der Türkei verbracht, wo
er bis zu seinem elften Lebensjahr aufwuchs. Am 22. August 1986 kam er wieder
zu den Eltern in die Schweiz und wurde in deren Niederlassungsbewilligung
einbezogen. Am 21. Dezember 2004 heiratete er die Schweizer Bürgerin
Y.________. Am 30. Januar 2007 wurde diese Ehe jedoch wieder geschieden.

Das Obergericht des Kantons Solothurn verurteilte X.________ am 1. Juni 2005
wegen mehrfacher sexueller Nötigung, unvollendeten Versuchs der Vergewaltigung,
sexueller Handlungen mit einem Kind und Pornografie zu einer Zuchthausstrafe
von drei Jahren. Das Amt für Migration des Kantons Luzern wies X.________ am 5.
Juni 2007 wegen der begangenen Straftaten für unbestimmte Zeit aus der Schweiz
aus. Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wies am 7. März 2008 die gegen
die Ausweisung erhobene Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.

B.
X.________ beantragt dem Bundesgericht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 7.
März 2008 aufzuheben, evtl. die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Das Amt für Migration und das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern sowie das
Bundesamt für Migration ersuchen um Abweisung der Beschwerde.

C.
Der Präsident der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung hat der Beschwerde am
17. April 2008 die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Erwägungen:

1.
Die angefochtene Ausweisungsverfügung erging vor dem 1. Januar 2008 und damit
vor dem Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes. Wie die Vorinstanz
zutreffend darlegt, ist die Rechtmässigkeit der Ausweisung - in analoger
Anwendung von Art. 126 Abs. 1 AuG - nach dem bisherigen Recht zu beurteilen
(Urteil des Bundesgerichts 2C_745/2007 vom 15. Januar 2008, E. 1.1).

2.
2.1 Es ist unbestritten, dass die vom Beschwerdeführer verübten Straftaten
einen Ausweisungsgrund bilden (Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG). Die Vorinstanz
nimmt im angefochtenen Entscheid die bei Ausweisungen erforderliche
Interessenabwägung vor (vgl. Art. 11 Abs. 3 ANAG; BGE 134 II 1 E. 2.2 S. 3) und
gelangt zum Schluss, dass das öffentliche Interesse an der Fernhaltung des
Beschwerdeführers dessen private Interessen am weiteren Verbleib in der Schweiz
überwögen.

2.2 Der Beschwerdeführer rügt in erster Linie, dass die Vorinstanz seine
positive Entwicklung seit der Verübung der Straftaten nicht ausreichend
berücksichtige und stattdessen weitgehend nur auf das Strafurteil abstelle, das
nun aber bereits mehrere Jahre zurückliege. Der Verzicht auf die Abnahme der
Beweismittel, die er im vorinstanzlichen Verfahren beantragt habe, verletze
seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), seine Menschenwürde
(Art. 7 BV) und seine persönliche Freiheit (Art. 10 BV). Bei gebührendem
Einbezug seiner jüngsten Persönlichkeitsentwicklung erscheine die Ausweisung
als unverhältnismässig, da überhaupt keine Rückfallgefahr mehr bestehe.
Ausserdem kritisiert der Beschwerdeführer die vorinstanzliche
Interessenabwägung unter verschiedenen weiteren Gesichtspunkten.

3.
3.1 Bei der nach Art. 11 Abs. 3 ANAG gebotenen Interessenabwägung ist vom
Verschulden des Ausländers, wie es im Strafurteil zum Ausdruck kommt,
auszugehen. Daneben sind sämtliche weiteren Faktoren zu berücksichtigen, die
für das öffentliche Interesse an der Ausweisung bzw. das private Interesse am
Verbleib in der Schweiz von Bedeutung sein können. Bei deren Beurteilung sind
die Migrationsämter jedoch nicht an die Würdigung des Strafrichters gebunden.
Namentlich können sie eine Wegweisung auch verfügen, wenn im Strafurteil von
einer Landesverweisung abgesehen wurde (BGE 129 II 215 E. 3.2 S. 216 f.). Beim
Entscheid über die Ausweisung steht das allgemeine Interesse an der
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Vordergrund und
weniger der bei der strafrechtlichen Beurteilung wichtige
Resozialisierungsgedanke und die Prognose über das künftige Wohlverhalten (BGE
125 II 105 E. 2c S. 109 f.).

3.2 Die Kritik, die der Beschwerdeführer erhebt, verkennt zumindest teilweise
diesen Unterschied und gründet zu sehr auf einer strafrechtlichen
Betrachtungsweise.

Allerdings spielt der Gesichtspunkt der Rückfallgefahr auch bei der Beurteilung
von Ausweisungen eine Rolle; es kommt ihm jedoch ausserhalb des
Geltungsbereichs des Freizügigkeitsabkommens keine vorrangige Bedeutung zu.
Eine günstige Prognose hinsichtlich der Resozialisierungschancen schliesst
deshalb eine Ausweisung noch nicht aus; inbesondere muss bei Gewaltdelikten
auch ein Restrisiko nicht hingenommen werden (BGE 130 II 176 E. 4.2 - 4.4 S.
185 ff.; 125 II 521 E. 4a/bb S. 527 f.).

3.3 Die Vorinstanz stützt sich bei der Beurteilung der Rückfallgefahr auf das
im Strafurteil erwähnte psychiatrische Gutachten und auf einen
Therapieverlaufsbericht vom 8. Mai 2005. Im Letzteren wird zur
Rückfallprävention eine Fortsetzung der angefangenen Therapie auf unbestimmte
Zeit empfohlen. Der Beschwerdeführer, der am 17. November 2007 aus dem
Strafvollzug entlassen wurde, hat sich auch noch nicht während eines längeren
Zeitraums in Freiheit bewährt. Wird weiter berücksichtigt, dass der
Beschwerdeführer die objektiv schwerwiegenden Straftaten bei voller
Zurechnungsfähigkeit begangen hat und sie deshalb auch subjektiv gravierend
erscheinen, durfte die Vorinstanz bereits aufgrund der ihr bekannten Akten
zumindest ein gewisses Risiko des Rückfalls bejahen. Es ist deshalb nicht zu
beanstanden, wenn sie davon ausging, dass die Abnahme der beantragten weiteren
Beweismittel (persönliche Anhörung, Führungs- und Therapieberichte) an dieser
Beurteilung nichts zu ändern vermöchten, selbst wenn sie durchwegs positiv
ausfielen. Der angefochtene Entscheid verletzt somit weder den Gehörsanspruch
des Beschwerdeführers noch die weiteren von ihm angerufenen Grundrechte.

4.
4.1 Nach Auffassung des Beschwerdeführers ist seine Ausweisung auch deshalb
unverhältnismässig, weil er schon seit über zwanzig Jahren in der Schweiz lebe
und als Ersttäter gehandelt habe, der Anspruch auf eine "zweite Chance" habe.
Überdies treffe ihn die Ausweisung besonders schwer, weil er in der Türkei
niemanden mehr kenne und er die türkische Sprache nur noch mangelhaft spreche.

4.2 Die Vorinstanz hat die lange Dauer der Anwesenheit des Beschwerdeführers
und seine grundsätzlich gute Integration in der Schweiz nicht übersehen. Sie
stuft denn auch sein Interesse an einem weiteren Verbleib in der Schweiz als
gross ein. Allerdings gewichtet sie das öffentliche Interesse an der Ausweisung
zu Recht höher. Obwohl nur eine Verurteilung erfolgte, hat der Beschwerdeführer
zwei sehr schwere sexuelle Übergriffe begangen, wobei ein Opfer erst 14½ Jahre
alt war. Die Vorinstanz weist mit Grund auch darauf hin, dass es dem
Beschwerdeführer angesichts seiner Sprachkenntnisse, seiner soliden
Berufsausbildung und seines noch jugendlichen Alters keine besonderen
Schwierigkeiten bereitet, in der Türkei zu leben. Er macht zwar geltend, seine
Türkischkenntnisse seien verkümmert. Es ist jedoch unbestritten, dass Türkisch
seine Muttersprache ist und er sich in dieser Sprache problemlos unterhalten
kann. Er war zudem in der Schweiz mit einer aus der Türkei stammenden
Schweizerin verheiratet. Bei Würdigung aller Umstände, für die im Einzelnen auf
die Erwägungen des angefochtenen Entscheids verwiesen werden kann, erscheint
die Ausweisung nicht unverhältnismässig.

5.
Die Beschwerde erweist sich demnach als unbegründet und ist abzuweisen.

Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung kann nicht
entsprochen werden, da die gestellten Begehren aussichtslos erscheinen (Art. 64
Abs. 1 und 2 BGG). Entsprechend dem Verfahrensausgang sind die
bundesgerichtlichen Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern und
dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. Juli 2008

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Merkli Küng