Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.252/2008
Zurück zum Index II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
2C_252/2008/ble

Urteil vom 10. Juni 2008
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Müller, Karlen,
Gerichtsschreiber Uebersax.

Parteien
Bundesamt für Migration,
Beschwerdeführer,

gegen

X.________, unbekannten Aufenthalts,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marco Ettisberger,

Amt für Polizeiwesen und Zivilrecht Graubünden.

Gegenstand
Verlängerung der Ausschaffungshaft,

Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen den Entscheid des
Bezirksgerichtspräsidiums Plessur vom 28. Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
X.________, geb. 1986, stammt aus der Demokratischen Republik Kongo. Er reiste
nach eigenen Angaben am 17. Februar 2004 illegal in die Schweiz ein und stellte
hier ein Asylgesuch. Dieses wurde mit Urteil der Schweizerischen
Asylrekurskommission vom 28. April 2005 rechtskräftig abgewiesen. X.________
erhielt eine Frist zur Ausreise aus der Schweiz bis zum 29. Juni 2005. Er blieb
aber hier, teilte den Migrationsbehörden wiederholt mit, nicht in seine Heimat
zurückzukehren, und weigerte sich, an Ausreisevorbereitungen mitzuwirken oder
ein Ausweispapier vorzulegen. Am 20. Februar 2007 belegte ihn das Amt für
Polizeiwesen und Zivilrecht Graubünden mit einer Eingrenzung. Vom 23. April
2007 an galt er als verschwunden. Vom 23. Juni bis zum 19. Oktober 2007 befand
er sich im Kanton Zürich wegen Verstosses gegen ausländerrechtliche
Bestimmungen im Strafvollzug. Den Behörden gegenüber äusserte er neu die
Absicht, in der Schweiz heiraten zu wollen, wozu er nunmehr einen
kongolesischen Pass vorzulegen vermochte. Mit Verfügung vom 20. Oktober 2007
ordnete das Amt für Polizeiwesen und Zivilrecht Graubünden die
Ausschaffungshaft bis zum 19. Januar 2008 an. Ein Ausschaffungsversuch
scheiterte am 22. Oktober 2007, da sich X.________ weigerte, das Flugzeug zu
besteigen. Mit Urteil vom 23. Oktober 2007 prüfte und bestätigte das
Bezirksgerichtspräsidium Plessur die angeordnete Ausschaffungshaft.

B.
Am 18. Januar 2008 verlängerte das Bezirksgerichtspräsidium Plessur die Haft
bis zum 2. März 2008. Am 4. Februar 2008 scheiterte ein weiterer
Ausschaffungsversuch daran, dass die zuständige kongolesische
Zivilluftfahrtbehörde einem entsprechenden Sonderflug die Landebewilligung
verweigerte. Mit Entscheid vom 28. Februar 2008 wies das
Bezirksgerichtspräsidium Plessur ein erneutes Gesuch um Fortsetzung der
Ausschaffungshaft ab und ordnete an, X.________ sei unverzüglich aus der Haft
zu entlassen.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 27. März 2008 an
das Bundesgericht beantragt das Bundesamt für Migration, den Entscheid des
Bezirksgerichtspräsidiums Plessur vom 28. Februar 2008 aufzuheben.
Das Amt für Polizeiwesen und Zivilrecht Graubünden schliesst auf Gutheissung
der Beschwerde. Das Bezirksgericht Plessur hat auf eine Vernehmlassung
verzichtet. X.________ hat innert Frist zur Beschwerde nicht Stellung genommen.

D.
Nach seiner Haftentlassung ist X.________ verschwunden; jedenfalls wissen die
Behörden nicht, wo er sich zurzeit aufhält.

Erwägungen:

1.
1.1 Nach Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 der
Organisationsverordnung vom 17. November 1999 für das Eidgenössische Justiz-
und Polizeidepartement (OV-EJPD; SR 172.213.1) ist das Bundesamt für Migration
in den Bereichen des Ausländer- und Bürgerrechts ermächtigt, beim Bundesgericht
Beschwerde gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide zu führen. Die
Legitimation des Bundesamtes zur Beschwerde hat zum Zweck, die richtige und
einheitliche Anwendung des Bundesrechts zu sichern. Es hat daher nicht
darzulegen, dass es ein spezifisches schutzwürdiges (öffentliches) Interesse im
Sinne von Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG an der Aufhebung des angefochtenen
Entscheids hat. Erforderlich ist nur, dass es ihm nicht um die Behandlung
abstrakter Fragen des objektiven Rechts, sondern um konkrete Rechtsfragen eines
tatsächlich bestehenden Einzelfalles geht (vgl. BGE 129 II 1 E. 1.1 S. 4; 128
II 193 E. 1 S. 195 f., je mit Hinweisen).

1.2 Im vorliegenden Fall ist die Absehbarkeit des Vollzugs der ausgesprochenen
Wegweisung fraglich. Das Bundesamt verfolgt mit seiner Beschwerde die Klärung
dieser Rechtsfrage im konkreten Fall des Beschwerdegegners. Diese Klärung soll
unter anderem dazu dienen, dass die Bemühungen der beteiligten Behörden und
insbesondere des Bundesamts selbst im Rahmen der Vollzugshilfe nicht ins Leere
laufen, indem wie hier ausländische Personen aus der Haft entlassen werden und
dann verschwinden. Die Beschwerde zeitigt insofern im Hinblick auf allfällige
künftige, ähnlich gelagerte Fälle auch Wirkung über den Einzelfall hinaus.

2.
2.1 Strittig ist die Fortsetzung einer Ausschaffungshaft gemäss Art. 76 AuG.
Nach Art. 80 Abs. 6 lit. a AuG wird die Haft unter anderem dann beendet, wenn
sich erweist, dass der Vollzug der Weg- oder Ausweisung aus rechtlichen oder
tatsächlichen Gründen undurchführbar ist.

2.2 Wie es sich mit der Durchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs im Einzelnen
verhält, bildet Gegenstand einer nach pflichtgemässem Ermessen vorzunehmenden
Prognose. Massgebend ist, ob die Ausschaffung mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit innert absehbarer Zeit möglich sein wird oder nicht. Die
Haft ist dann unverhältnismässig und damit auch unzulässig, wenn triftige
Gründe für die Undurchführbarkeit des Vollzugs sprechen oder praktisch
feststeht, dass er sich innert vernünftiger Frist kaum wird realisieren lassen.
Dies ist in der Regel bloss der Fall, wenn die Ausschaffung auch bei
gesicherter Kenntnis der Identität oder der Nationalität des Betroffenen bzw.
trotz seines Mitwirkens bei der Papierbeschaffung mit grosser
Wahrscheinlichkeit als ausgeschlossen erscheint. Zu denken ist etwa an eine
länger dauernde Transportunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen oder an eine
ausdrückliche oder zumindest klar erkennbare und konsequent gehandhabte
Weigerung eines Staates, gewisse Staatsangehörige zurückzunehmen. Nur falls
keine oder bloss eine höchst unwahrscheinliche, rein theoretische Möglichkeit
besteht, die Wegweisung zu vollziehen, ist die Haft aufzuheben, nicht indessen
bei einer ernsthaften, wenn auch allenfalls (noch) geringen Aussicht hierauf.
Eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung durch den Betroffenen
vorbehalten, welche die Verhältnismässigkeit der Aufrechterhaltung der Haft
wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses in einem anderen Licht
erscheinen lassen kann, ist dabei nicht notwendigerweise auf die maximale
Haftdauer, sondern vielmehr auf einen den gesamten Umständen des konkreten
Falles angemessenen Zeitraum abzustellen (vgl. BGE 130 II 56 E. 4.1.3 S. 61,
127 II 168 E. 2c S. 172; 125 II 217 E. 2; 122 II 148 E. 3 S. 152 f.).
Namentlich macht der Umstand allein, dass die Ausreise nur schwer organisiert
werden kann und im Rahmen der entsprechenden Bemühungen mit ausländischen
Behörden erst noch verhandelt werden muss, was erfahrungsgemäss eine gewisse
Zeit in Anspruch nimmt, die Ausschaffung nicht bereits undurchführbar (vgl. BGE
125 II 217 E. 2 S. 220).

2.3 Im vorliegenden Fall besteht weder ein rechtliches Hindernis des
Wegweisungsvollzugs noch weigert sich der Heimatstaat des Beschwerdegegners
grundsätzlich, diesen zurückzunehmen. Die Ausschaffung des Beschwerdegegners
scheiterte lange Zeit daran, dass dieser bei der Organisation der Ausreise
nicht mitwirkte und die Existenz seiner Ausweispapiere verheimlichte. Erst
nachdem er diese im Zusammenhang mit der geplanten Heirat vorlegte, konnte eine
Ausreise vorbereitet werden. Zusammen mit den zuständigen Behörden der
Demokratischen Republik Kongo wurde die Möglichkeit der zwangsweisen
Rückführung von Staatsangehörigen dieses Landes ausgehandelt. Sowohl das Innen-
als auch das Aussenministerium erteilten in der Folge die Bewilligung für die
Durchführung eines Sonderfluges am 4./5. Februar 2008, mit dem auch der
Beschwerdegegner ausgeschafft werden sollte. Am 4. Februar 2008 weigerte sich
die für Zivilluftfahrt zuständige kongolesische Behörde, offenbar aufgrund
innerkongolesischer Uneinigkeiten, ohne weitere Begründung, die
Landebewilligung zu erteilen, wodurch die Ausschaffung des Beschwerdegegners
scheiterte. Am 14. Februar 2008 teilte das Bundesamt der kantonalen
Migrationsbehörde mit, dass sich nicht bestimmen lasse, wann die nächste
Ausschaffung in die Demokratische Republik Kongo organisiert werden könne; ein
neuer Sonderflug fände mit Sicherheit nicht vor einem Monat statt und liesse
sich diesfalls wohl nur in Verbindung mit einer anderen Zieldestination
durchführen.

2.4 Zurzeit kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Heimatstaat des
Beschwerdegegners klar erkennbar und konsequent generell weigert, seine
Staatsangehörigen zurückzunehmen. Zwar scheinen zwischen den kongolesischen
Behörden Widersprüche zu bestehen, die bereinigt werden müssen, worauf die
Schweiz wenig bis keinen Einfluss hat. Dennoch haben sich verschiedene
kongolesische Stellen zur Rücknahme von ausgeschafften Landsleuten positiv
geäussert und eine solche auch in Aussicht gestellt. Damit kann nicht
geschlossen werden, die Demokratische Republik Kongo sei offensichtlich nicht
bereit, ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen. Es handelt sich vielmehr um ein
Problem, das unter Umständen innert absehbarer Zeit gelöst werden kann, was die
Ausschaffung des Beschwerdegegners derzeit nicht als tatsächlich unmöglich
erscheinen lässt. Im Übrigen hätte es dieser in der Hand, mit seinen gültigen
heimatlichen Papieren jederzeit selbständig und freiwillig aus der Schweiz
auszureisen und damit der seit dem 29. Juni 2005 ergangenen behördlichen
Anweisung zur Ausreise aus der Schweiz Folge zu leisten und die
Ausschaffungshaft zu beenden.

2.5 Schliesslich hätte der Haftrichter selbst dann, wenn seine Auffassung
zutreffen würde, ergänzend prüfen müssen, ob gegebenenfalls anstelle der
Ausschaffungshaft die Durchsetzungshaft nach Art. 78 AuG anzuordnen bzw. die
bestehende Ausschaffungs- in Durchsetzungshaft umzuwandeln gewesen wäre. Wie es
sich damit verhält, kann jedoch offen bleiben, da jedenfalls entgegen dem
angefochtenen Entscheid bereits die Ausschaffungshaft zu bestätigen ist.

2.6 Der angefochtene Entscheid verstösst somit gegen Bundesrecht.

3.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erweist sich als
begründet und ist gutzuheissen. Gleichzeitig ist der angefochtene Entscheid
aufzuheben.
Angesichts der Umstände des Falles rechtfertigt es sich, von der Erhebung von
Kosten abzusehen (vgl. Art. 66 Abs. 1 zweiter Satz BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, und das Urteil des Bezirksgerichtspräsidiums
Plessur vom 28. Februar 2008 wird aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bezirksgerichtspräsidium Plessur
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. Juni 2008
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Merkli Uebersax