Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.57/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_57/2008 /daa

Urteil vom 8. Juli 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Schoder.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwältin Gabi Kink,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8510 Frauenfeld.

Gegenstand
Leistungen nach OHG,

Beschwerde gegen das Urteil vom 18. Dezember 2007 des Obergerichts des Kantons
Thurgau.

Sachverhalt:

A.
A.a X.________ erlitt am 30. Juli 1995 einen Schulterdurchschuss. Mit Urteil
vom 24. September 1996 befand das Obergericht des Kantons Thurgau den
Straftäter der versuchten vorsätzlichen Tötung und weiterer Delikte für
schuldig und bestrafte ihn mit vier Jahren Zuchthaus. Zudem verpflichtete es
den Straftäter, X.________ eine Genugtuung von Fr. 8'000.-- sowie Schadenersatz
von Fr. 8'687.10, je nebst Zins zu bezahlen.
A.b Am 28. Juli 1997 stellte X.________ beim Bezirksgericht Frauenfeld das
Begehren, es sei ihm eine opferhilferechtliche Entschädigung von maximal Fr.
100'000.-- sowie eine opferhilferechtliche Genugtuung von Fr. 20'000.-- zu
entrichten. Das Bezirksgericht sistierte das Verfahren bis zur Erledigung der
sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche des Gesuchstellers. Mit Urteil vom 25.
Mai/28. Juni 2007 wies es das Gesuch um Entschädigung mit der Begründung ab,
dem Gesuchsteller sei bei Verwertung seiner Restarbeitsfähigkeit weder ein
Erwerbs- noch ein Haushaltsschaden entstanden. Das Gesuch um Genugtuung wies es
mit Rücksicht auf die ausbezahlte sozialversicherungsrechtliche
Integritätsentschädigung ab.
A.c X.________ erhob gegen das Urteil des Bezirksgerichts Berufung mit dem
Antrag, es sei ihm eine Entschädigung von Fr. 100'000.-- sowie eine Genugtuung
von Fr. 20'000.-- zu entrichten, je zuzüglich 5 % Zins ab dem 1. Januar 2007.
Gleichzeitig stellte er den Antrag, es sei ein polydisziplinäres medizinisches
Gutachten betreffend Beeinträchtigung in Erwerb und Haushalt sowie eine
berufsberaterische Abklärung in Auftrag zu geben und A.________ sowie
B.________ als Zeugen sowie ihn als Berufungskläger persönlich zu befragen. Mit
Urteil vom 18. Dezember 2007 schützte das Obergericht des Kantons Thurgau das
Urteil des Bezirksgerichts und wies das Gesuch des Beschwerdeführers ab.

B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragte X.________
beim Bundesgericht, in teilweiser Aufhebung des Urteils des Obergerichts sei
sein Gesuch um Entrichtung einer Entschädigung von Fr. 100'000.--, zuzüglich 5
% Zins ab dem 1. Januar 2007, gutzuheissen. Eventualiter sei das angefochtene
Urteil aufzuheben und die Angelegenheit zur Neubeurteilung bzw. zur Berechnung
der Entschädigung nach OHG an die erste Instanz, eventuell die Vorinstanz,
zurückzuweisen.

C.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau beantragt, die Beschwerde sei
abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Obergericht beantragt ebenfalls
Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für Justiz als beschwerdeberechtigte
Bundesbehörde verzichtet auf Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Das angefochtene Urteil des Obergerichts betrifft die Abweisung eines Gesuchs
um Leistungen aufgrund des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an
Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5), d.h. eine
öffentlich-rechtliche Angelegenheit im Sinn von Art. 82 lit. a BGG. Die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist damit zulässig.

2.
2.1 Streitig ist vorliegend einzig, ob und in welchem Umfang dem
Beschwerdeführer ein Erwerbs- und Rentenschaden erwachsen ist. Der
Beschwerdeführer behauptet, er könne nicht mehr als zwei Stunden pro Tag
arbeiten und sei deshalb auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar. Er habe
diesbezüglich die Einholung eines polydisziplinären Gutachtens beantragt. Die
Verweigerung der Beweisabnahme verstosse gegen Art. 29 Abs. 2 BV. Aus dem auch
im Opferhilferecht geltenden wirtschaftlichen Schadensbegriff folge, dass eine
bei Teilinvalidität theoretisch verbleibende Erwerbsfähigkeit unberücksichtigt
bleiben müsse, wenn sie wirtschaftlich nicht mehr nutzbar sei. Im Übrigen sei
die Annahme des Obergerichts aktenwidrig, dass er gegenüber dem Aargauischen
Versicherungsgericht eingeräumt habe, bei einer Arbeitsfähigkeit von 50 % ein
jährliches Einkommen von Fr. 16'683.-- erzielen zu können. Er habe angegeben,
ein Jahreseinkommen von Fr. 12'512.-- unter Abzug der
Sozialversicherungsbeiträge erzielen zu können, wobei dies nur bei einem
ausgeglichenen Arbeitsmarkt zutreffe. Der Gesamtschaden (Erwerbs- und
Rentenschaden) belaufe sich auf Fr. 186'588.70. Weiter beanstandet der
Beschwerdeführer Einzelheiten bei der Berechnung des hypothetischen
Erwerbseinkommens.

2.2 Gemäss Art. 105 BGG legt das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Abs. 1). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Abs. 2).

2.3 Der Beschwerdeführer stellte das Gesuch um opferhilferechtliche
Entschädigung am 28. Juli 1997 und damit vor dem Inkrafttreten der Änderung vom
20. Juni 1997 des OHG am 1. Januar 1998. Das Obergericht ging demzufolge
zutreffend davon aus, dass das Gesuch nach der Fassung des OHG vom 4. Oktober
1991 in Verbindung mit den bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Vorschriften des
ELG, welche zur Berechnung der Opferhilfeentschädigung massgeblich sind, zu
beurteilen ist (Art. 12 Abs. 4 der Verordnung über die Hilfe an Opfer von
Straftaten [Opferhilfeverordnung, OHV; Fassung vom 26. November 1997, AS 1997
II 2824]).

2.4 Nach Art. 12 Abs. 1 OHG (Fassung vom 4. Oktober 1991; AS 1992 III 2465) hat
das Opfer Anspruch auf eine Entschädigung für den durch die Straftat erlittenen
Schaden, wenn sein voraussichtliches Einkommen nach der Straftat das Dreifache
des Grenzbetrages nach den Artikeln 2-4 des Bundesgesetzes vom 19. März 1965
über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenversicherung (ELG) nicht übersteigt.

Der ELG-Grenzbetrag richtet sich nach der Verordnung 97 vom 16. September 1996
über die Anpassungen bei den Ergänzungsleistungen zur AHV/IV (AS 1996 II 2766).
Danach beträgt der Grenzbetrag für Alleinstehende höchstens Fr. 17'090.-- und
für Ehepaare höchstens Fr. 25'635.--, wobei diese Beträge für das seit 1997
hängige Opferhilfeverfahren der seither aufgelaufenen Teuerung entsprechend zu
erhöhen sind (BGE 131 II 656 nicht publ. E. 2.3).

Bei der Einkommensberechnung sind nach Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG (Fassung vom 4.
Oktober 1985, AS 1986 I 699) Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet
wurde, als Einkommen anzurechnen. Diese Bestimmung ist praxisgemäss auch auf
die Ermittlung des anrechenbaren Einkommens von Teilinvaliden anwendbar, die
von einer Verwertung der verbleibenden Erwerbsfähigkeit absehen (BGE 131 II 656
E. 5.2 S. 661). Allerdings ist das dem Geschädigten anrechenbare
Erwerbseinkommen infolge der Regelung von Art. 3 Abs. 2 ELG (Fassung vom 4.
Oktober 1985), welche hier ebenfalls zur Anwendung gelangt, bloss zu zwei
Dritteln zu berücksichtigen.
Die Ermittlung des anrechenbaren Einkommens bei Teilinvalidität (Art. 3 Abs. 1
lit. f ELG) wird durch Art. 14a ELV (Fassung vom 7. Dezember 1987; AS 1987 II
1797) näher bestimmt. Danach wird Invaliden als Erwerbseinkommen grundsätzlich
der Betrag angerechnet, den sie im massgebenden Zeitabschnitt tatsächlich
verdient haben (Abs. 1). Nach Abs. 2 ist Invaliden unter 60 Jahren als
Erwerbseinkommen jedoch mindestens anzurechnen der um einen Drittel erhöhte
Betrag der Einkommensgrenze für Alleinstehende bei einem Invaliditätsgrad von
40 bis 49 Prozent (lit. a), der Betrag dieser Einkommensgrenze bei einem
Invaliditätsgrad von 50 bis 59 Prozent (lit. b) und zwei Drittel dieses
Betrages bei einem Invaliditätsgrad von 60 bis 66 2/3 Prozent (lit. c). Art.
14a ELV geht von der Vermutung aus, dass es dem Teilinvaliden möglich und
zumutbar ist, im Rahmen seines von der Invalidenversicherung festgestellten
verbliebenen Leistungsvermögens die in Abs. 2 der genannten Vorschrift
festgelegten Grenzbeträge zu erzielen. Der Betroffene kann die Vermutung
widerlegen, indem er Umstände geltend macht, welche bei der Bemessung der
Invalidität ohne Bedeutung waren, ihm jedoch verunmöglichen, seine theoretische
Restarbeitsfähigkeit wirtschaftlich zu nutzen (BGE 131 II 656 E. 5.2 S. 662).

Bei der Prüfung der Frage, ob dem Teilinvaliden die Ausübung einer Tätigkeit
möglich und zumutbar ist, sind sämtliche Umstände zu berücksichtigen, welche
die Realisierung eines Einkommens verhindern oder erschweren, wie Alter,
mangelnde Ausbildung oder Sprachkenntnisse, aber auch persönliche Umstände, die
es dem Leistungsansprecher verunmöglichen, seine verbliebene Erwerbsfähigkeit
in zumutbarer Weise auszunützen (BGE 131 II 656 E. 5.2 S. 662).

2.5 Wie sich aus dem angefochtenen Urteil ergibt, hat das Obergericht die
dargelegten Grundsätze bei der Ermittlung des opferhilferechtlichen
Entschädigungsanspruchs beachtet. Gemäss den Feststellungen im angefochtenen
Urteil erhält der Beschwerdeführer UVG-, IV- und BVG-Renten von jährlich
insgesamt Fr. 38'345.--. Das Obergericht geht gestützt auf den rechtsgültigen
Entscheid der Eidgenössischen IV-Stelle von einem Invaliditätsgrad von 59 %
aus. Demzufolge rechnet es dem Beschwerdeführer den ELG-Grenzbetrag von Fr.
17'090.-- für Alleinstehende als hypothetisches Resterwerbseinkommen an (Art.
14a lit. b ELV, Fassung vom 7. Dezember 1987), wobei es den Betrag nur zu zwei
Dritteln, d.h. Fr. 11'393.-- berücksichtigt (Art. 3 Abs. 2 ELG, Fassung vom 4.
Oktober 1985).

Die in Art. 14a ELV enthaltene Vermutung, dass der Beschwerdeführer ein
Erwerbseinkommen in der Höhe des ELG-Grenzbetrages von Fr. 17'090.-- erzielen
könnte, vermag dieser nicht zu widerlegen. In Anbetracht dessen, dass der
Beschwerdeführer sich lediglich viermal schriftlich um eine Anstellung bewarb
(vgl. Urteil, S. 7) und im Zeitpunkt der Schussverletzung erst vierundzwanzig
Jahre alt war, kann entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht davon
ausgegangen werden, dass seine Restarbeitsfähigkeit wirtschaftlich nicht
nutzbar gewesen wäre.

Das Obergericht geht folgerichtig von einem Jahreseinkommen von Fr. 49'738.--
(Fr. 38'345.-- plus Fr. 11'393.--) aus. Dieses liegt damit knapp unterhalb des
dreifachen Grenzbetrages von Fr. 17'090.--, d.h. knapp unterhalb Fr. 51'270.--.
Das Obergericht hat damit die Anspruchsberechtigung des Beschwerdeführers auf
eine opferhilferechtliche Entschädigung in bundesrechtskonformer Anwendung von
Art. 12 Abs. 1 OHG (Fassung vom 4. Oktober 1991) bejahen dürfen. In Anbetracht
dessen sind die Vorbringen des Beschwerdeführers, das Obergericht habe die
Teuerungsanpassung des ELG-Grenzbetrages sowie gewisse Einkommensabzüge nicht
berücksichtigt, unerheblich.

2.6 Bei der Schadensberechnung stellt das Obergericht nicht auf das
hypothetische Resterwerbseinkommen nach Art. 14a ELV (Fassung vom 7. Dezember
1987), sondern auf die Feststellungen im Urteil vom 11. August 2004 des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau ab, wonach der Beschwerdeführer
effektiv Fr. 22'044.-- jährlich zu erzielen vermöge. Die Einholung eines
polydisziplinären Gutachtens, wie es der Beschwerdeführer beantragte, erachtet
das Obergericht als überflüssig, da die Restarbeitsfähigkeit in einem
langwierigen Verfahren der SUVA ermittelt worden sei. Unter Zugrundelegung des
mutmasslichen Resterwerbseinkommens von Fr. 22'044.-- zusammen mit den
Rentenleistungen erwachse dem Beschwerdeführer kein Erwerbs- und Rentenschaden,
weshalb der Entschädigungsanspruch entfalle. Dies gelte auch, wenn auf das
Zugeständnis des Beschwerdeführers abgestellt werde, ein jährliches Einkommen
von Fr. 16'683.-- erzielen zu können.

In Anbetracht dessen, dass der Beschwerdeführer die Vermutung, ein
hypothetisches Resterwerbseinkommen in der Höhe des ELG-Grenzwerts von Fr.
17'090.-- erzielen zu können (Art. 14a ELV, Fassung vom 7. Dezember 1987),
nicht umzustossen vermag, ist unerheblich, ob die Feststellung des
Obergerichts, der Beschwerdeführer sei in der Lage, ein Resterwerbseinkommen
von Fr. 22'044.-- resp. von Fr. 16'683.-- zu erzielen, zutrifft oder nicht.
Unter Zugrundelegung eines hypothetischen Resterwerbseinkommens von Fr.
22'044.-- resp. Fr. 16'683.-- erwächst dem Beschwerdeführer nach den
unbestrittenen Feststellungen im angefochtenen Urteil kein Erwerbs- und
Rentenschaden. Dies gilt demzufolge auch für ein mutmassliches Einkommen von
Fr. 17'090.--. Eine Verletzung von Bundesrecht ist dabei nicht ersichtlich. Die
Prüfung der Rüge der Verletzung von Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 BV im
Zusammenhang mit den diesbezüglichen Sachverhaltsfeststellungen des
Obergerichts erübrigt sich.

3.
Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist
demzufolge abzuweisen. Das Verfahren betreffend der opferhilferechtlichen
Entschädigung ist kostenlos (Art. 16 Abs. 1 OHG). Die Kostenlosigkeit betrifft
auch das Rechtsmittelverfahren (BGE 122 II 211 E. 4b S. 219). Die Zusprechung
einer Parteientschädigung fällt ausser Betracht (Art. 68 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Thurgau sowie dem Bundesamt für Justiz schriftlich
mitgeteilt.
Lausanne, 8. Juli 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Féraud Schoder