Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.518/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_518/2008

Urteil vom 22. Dezember 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb,
Gerichtsschreiber Härri.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Benno Lindegger,

gegen

Bundesamt für Justiz, Fachbereich Auslieferung, Bundesrain 20, 3003 Bern.

Gegenstand
Auslieferungshaft; Vollzug in einer Klinik,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 29. Oktober 2008 des Bundesstrafgerichts,
II. Beschwerdekammer.
Sachverhalt:

A.
Die Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika führen ein Strafverfahren
gegen den polnischen Staatsangehörigen X.________. Sie werfen ihm vor, im
August 2004 zusammen mit Mittätern 40'000 Ecstasy-Pillen in die USA eingeführt
zu haben. Sie ersuchten die Schweiz um seine Verhaftung im Hinblick auf die
Auslieferung an die USA.

Am 12. September 2008 wurde X.________ in Au (SG) festgenommen und in
vorläufige Auslieferungshaft versetzt. Nachdem er eine vereinfachte
Auslieferung an die USA abgelehnt hatte, erliess das Bundesamt für Justiz am
17. September 2008 einen Auslieferungshaftbefehl.

Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesstrafgericht (II.
Beschwerdekammer) am 29. Oktober 2008 ab.

B.
X.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, das Urteil des Bundesstrafgerichts sei aufzuheben; er sei im Sinne
einer anderen Massnahme nach Art. 47 Abs. 2 IRSG (SR 351.1) in eine geeignete
medizinische Klinik zu verlegen, damit die erforderliche ärztliche Behandlung,
insbesondere die Revisionsoparationen am Rücken und am linken Ellbogen,
durchgeführt werden könne; eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung
und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

C.
Das Bundesstrafgericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Das Bundesamt für Justiz hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die
Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.

D.
X.________ hat eine Stellungnahme zur Vernehmlassung des Bundesamtes
eingereicht.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 84 BGG ist gegen einen Entscheid auf dem Gebiet der
internationalen Rechtshilfe in Strafsachen die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nur zulässig, wenn er eine Auslieferung,
eine Beschlagnahme, eine Herausgabe von Gegenständen oder Vermögenswerten oder
eine Übermittlung von Informationen aus dem Geheimbereich betrifft und es sich
um einen besonders bedeutenden Fall handelt (Abs. 1). Ein besonders bedeutender
Fall liegt insbesondere vor, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass
elementare Verfahrensgrundsätze verletzt worden sind oder das Verfahren im
Ausland schwere Mängel aufweist (Abs. 2).

Art. 84 BGG bezweckt die wirksame Begrenzung des Zugangs zum Bundesgericht im
Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (BGE 134 IV 156 E. 1.3.1
S. 160, mit Hinweisen).

Damit die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten in Betracht
kommt, muss zunächst aber ein anfechtbarer Entscheid vorliegen. Welche
Entscheide anfechtbar sind, sagt Art. 90 ff. BGG. Art. 93 BGG umschreibt die
Anfechtbarkeit von "anderen Vor- und Zwischenentscheiden", d.h. solchen, die
weder die Zuständigkeit noch den Ausstand betreffen. Danach ist gegen andere
selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide die Beschwerde zulässig: a)
wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können; oder b)
wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und
damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (Abs. 1). Auf dem Gebiet der internationalen
Rechtshilfe in Strafsachen sind Vor- und Zwischenentscheide nicht anfechtbar.
Vorbehalten bleiben Beschwerden gegen Entscheide über die Auslieferungshaft
sowie über die Beschlagnahme von Vermögenswerten und Wertgegenständen, sofern
die Voraussetzungen von Absatz 1 erfüllt sind (Abs. 2).

Die Voraussetzung des besonders bedeutenden Falls muss auch gegeben sein,
soweit es um einen Zwischenentscheid geht (BGE 133 IV 215 E. 1.2 S. 217, mit
Hinweis).

1.2 Das Bundesamt hält (Vernehmlassung S. 3) dafür, die Voraussetzungen zur
Erhebung der Beschwerde gemäss Art. 93 Abs. 2 i.V.m. Art. 84 BGG seien nicht
erfüllt, da der Beschwerdeführer nicht die Aufhebung der Auslieferungshaft
beantrage. In der Tat legt der Beschwerdeführer (Beschwerde S. 4 Ziff. 6) dar,
er fechte den vorinstanzlichen Entscheid in Bezug auf die Ablehnung von anderen
sichernden Massnahmen an. Im Übrigen, d.h. in Bezug auf die Aufrechterhaltung
des Auslieferungshaftbefehls, nimmt er den angefochtenen Entscheid ausdrücklich
hin. Er macht geltend, er habe sich im Jahr 2004 bei einem Verkehrsunfall
erhebliche Verletzungen zugezogen, die damals stationär hätten behandelt werden
müssen. Nunmehr seien Folgeoperationen am Ellbogen und Rücken erforderlich. Dem
Beschwerdeführer geht es also offenbar darum, zum weiteren Vollzug der
Auslieferungshaft in eine besondere Abteilung einer Klinik oder eines Spitals
verlegt zu werden, wo die Sicherungsbedürfnisse der Haft gewährleistet werden
können (vgl. dazu Urteil 1P.547/1994 vom 9. Dezember 1994 betreffend die
Bewachungsstation des Inselspitals Bern). Der - zumindest vorübergehende -
Vollzug der Auslieferungshaft in einer solchen Abteilung zur operativen
Behandlung des Beschwerdeführers kommt grundsätzlich in Betracht (vgl. NIKLAUS
OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2005, S. 490 N. 116).

Das Bundesamt scheint der Auffassung zu sein, es liege kein nach Art. 93 Abs. 2
BGG zulässiges Anfechtungsobjekt vor. Danach sind - wie dargelegt - auf dem
Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Vor- und
Zwischenentscheide grundsätzlich nicht anfechtbar (Satz 1). Das Gesetz sieht
zwei Ausnahmen vor (Satz 2) Eine davon betrifft die Auslieferungshaft. Man kann
sich fragen, ob ein anfechtbarer Entscheid über die Auslieferungshaft nach Art.
93 Abs. 2 Satz 2 BGG nur dann vorliegt, wenn es um die Haft als solche geht,
also darum, ob der Verfolgte zu inhaftieren oder in die Freiheit zu entlassen
sei; nicht aber dann, wenn es lediglich um die Modalitäten des Haftvollzugs
geht. Gegen eine solche restriktive Auslegung spricht, dass es nicht nur beim
Freiheitsentzug als solchem um einen rechtsstaatlich sensiblen Bereich geht,
sondern auch bei den Bedingungen des Haftvollzugs. Das zeigt gerade der
vorliegende Fall, in dem sich der Beschwerdeführer über eine mangelhafte
ärztliche Betreuung beklagt. Eine restriktive Auslegung von Art. 93 Abs. 2 Satz
2 BGG ist deshalb jedenfalls in Bezug auf die Auslieferungshaft abzulehnen und
ein zulässiges Anfechtungsobjekt auch dann anzunehmen, wenn es um die
Vollzugsmodalitäten der Haft geht. Zu beachten ist, dass damit die Beschwerde
nicht ohne Weiteres zulässig ist. Wie gesagt, müssen nach Art. 93 Abs. 2 Satz 2
BGG zusätzlich die Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG erfüllt sein.
Überdies muss nach Art. 84 BGG ein besonders bedeutender Fall gegeben sein. Das
Bundesgericht wird sich also, auch soweit es um die Vollzugsbedingungen der
Auslieferungshaft geht, nie mit Belanglosigkeiten beschäftigen müssen.

1.3 Der Beschwerdeführer beruft sich auf den Bericht vom 22. September 2008 des
polnischen Arztes Dr. Y.________. Danach hätte die Operation am Ellbogen im
November 2008 erfolgen sollen. Eine Operation käme also heute möglicherweise
schon zu spät. Mit Blick darauf ist davon auszugehen, dass der angefochtene
Entscheid, der auch die Verlegung des Beschwerdeführers in eine Klinik ablehnt,
diesem einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil nach Art. 93 Abs. 1 lit. a
BGG bewirken kann.

1.4 Wie der Beschwerdeführer zutreffend rügt und sich aus den folgenden
Erwägungen ergibt, hat die Vorinstanz seinen Anspruch auf rechtliches Gehör
(Art. 29 Abs. 2 BV) und das Willkürverbot (Art. 9 BV) verletzt. Diese
Verfassungsverletzung ist offensichtlich. Damit ist die in Art. 84 Abs. 1 BGG
genannte Eintretensvoraussetzung des besonders bedeutenden Falls erfühlt.

2.
2.1 Das rechtliche Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV dient einerseits der
Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes
Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die
Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des
Betroffenen, sich vor Erlass eines solchen Entscheides zur Sache zu äussern,
erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit
erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher
Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern,
wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen. Der Anspruch auf
rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer
Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam
zur Geltung bringen kann (BGE 133 I 270 E. 3.1 S. 277; 127 I 54 E. 2b S. 56;
117 Ia 262 E. 4b S. 268, mit Hinweisen).

2.2 Die Vorinstanz stützt ihren die Verlegung des Beschwerdeführers in eine
Klinik ablehnenden Entscheid auf den Bericht vom 3. Oktober 2008 des Amtsarztes
Dr. Z.________, der den Beschwerdeführer im Gefängnis Altstätten untersucht hat
(act. 9.1). Dr. Z.________ kommt darin zu folgender abschliessenden
Beurteilung:
"Die Gründe für die Dringlichkeit der Operationen, die in dem Bericht von Dr.
Y.________ (...) erwähnt werden, gehen aus den Berichten nicht hervor und
müssten gegebenenfalls durch den behandelnden Arzt dargestellt werden. Von
medizinischer Seite ist Herr X.________ hafterstehungsfähig."
Der Beschwerdeführer wendet ein, er habe zum Bericht von Dr. Z.________ keine
Stellung nehmen können.
Wie sich aus den Akten (act. 9) ergibt, hat die Vorinstanz vom Bericht von Dr.
Z.________ am 29. Oktober 2008 Kenntnis genommen und gleichentags das
angefochtene Urteil gefällt. Sie hat dem Beschwerdeführer vorher keine
Gelegenheit gegeben, zum Bericht von Dr. Z.________ Stellung zu nehmen. Dadurch
hat sie den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt. Wie
sich aus dem Bericht von Dr. Z.________ ergibt, spricht der Beschwerdeführer
nur Polnisch, kein Deutsch und sehr wenig Englisch. Bei der amtsärztlichen
Untersuchung war ein polnischer Dolmetscher anwesend. Der Beschwerdeführer
hätte somit, wenn ihm der Bericht von Dr. Z.________ vorgelegt worden wäre,
insbesondere Gelegenheit gehabt, auf allfällige Missverständnisse oder
fehlerhafte bzw. ungenaue Übersetzungen hinzuweisen. Der Beschwerdeführer
bringt dies zutreffend vor. Die Beschwerde ist insoweit begründet.

2.3 Dr. Z.________ legt - wie gesagt - in seinem Bericht dar, die Gründe für
die Dringlichkeit der Operationen müssten gegebenenfalls durch den behandelnden
Arzt (gemeint: Dr. Y.________) dargelegt werden. Dr. Z.________ hält es damit
für möglich, dass es solche Gründe gibt.

Wie der Beschwerdeführer zutreffend vorbringt, hätte ihm die Vorinstanz mit
Blick darauf zumindest Gelegenheit geben müssen, bei Dr. Y.________ eine
ergänzende Stellungnahme zur Dringlichkeit der Operationen zu verlangen und
einzureichen. Indem die Vorinstanz davon abgesehen und es dem Beschwerdeführer
damit verunmöglicht hat, die von Dr. Z.________ nicht ausgeschlossenen Gründe
für die Dringlichkeit der Operationen näher darzulegen, hat sie erneut den
Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt. Die Beschwerde
ist auch in diesem Punkt begründet.

3.
3.1 Gemäss Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen
Organen ohne Willkür behandelt zu werden. Willkürlich ist ein Entscheid, wenn
er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass
verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE
134 I 140 E. 5.4 S. 148; 133 I 149 E. 3.1 S. 153, mit Hinweisen).

3.2 Die Vorinstanz verweist (E. 7.2) auf die oben angeführte Beurteilung von
Dr. Z.________. Dabei lässt sie einen wesentlichen Passus weg. Sie übergeht die
Bemerkung von Dr. Z.________, die Gründe für die Dringlichkeit der Operationen
müssten gegebenenfalls durch den behandelnden Arzt dargestellt werden. Diese
Bemerkungen von Dr. Z.________ ist deshalb von Bedeutung, weil er damit zum
Ausdruck bringt, dass er die Dringlichkeit der Operationen nicht abschliessend
verneinen kann. Indem die Vorinstanz den angeführten wesentlichen Passus in der
Beurteilung von Dr. Z.________ ausgeblendet hat, hat sie dessen Bericht
offensichtlich unvollständig und damit in unhaltbarer Weise gewürdigt.

Die Beschwerde ist auch insoweit begründet.

4.
4.1 Der angefochtene Entscheid verletzt danach Bundesrecht. Er ist in
Gutheissung der Beschwerde aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Sie wird
deshalb in Anwendung von Art. 107 Abs. 2 Satz 1 BGG an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

4.2 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66
Abs. 4 BGG). Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine Parteientschädigung
(Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Bundesstrafgerichts (II.
Beschwerdekammer) vom 29. Oktober 2008 aufgehoben und die Sache zur
Neubeurteilung an dieses zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Die Eidgenossenschaft (Bundesamt für Justiz) hat dem Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bundesamt für Justiz und dem
Bundesstrafgericht, II. Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Dezember 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Härri