Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.396/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_396/2008

Urteil vom 24. Februar 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Raselli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Kessler Coendet.

Parteien
Eheleute X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bernard
Rosat,

gegen

Y.________ AG, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwältin Barbara
Boner,
Einwohnergemeinde Bern, vertreten durch das Bauinspektorat, Bundesgasse 38,
Postfach, 3001 Bern,
Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion des Kantons Bern, Rechtsamt, Reiterstrasse
11, 3011 Bern.

Gegenstand
Baubewilligung,

Beschwerde gegen das Urteil vom 9. Juli 2008
des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung.
Sachverhalt:

A.
Der Regierungsstatthalter von Bern erteilte der Y.________ AG am 15. November
2006 die Gesamtbaubewilligung für den Umbau des Warenhauses Ryfflihof in der
Berner Altstadt. Das Bauprojekt umfasst unter anderem einen hofseitigen
Erweiterungsbau auf Parzelle Nr. 949. Dieser soll aus einem verglasten und
beheizten Wintergarten und einer gedeckten Terrasse auf der Höhe des 3.
Obergeschosses bestehen.

B.
Die Ehegatten X.________, Eigentümer der Nachbarliegenschaft Nr. 946, wehrten
sich gegen die Baubewilligung. Sie hatten bereits gegen das Baugesuch
Einsprache erhoben. Ihre Beschwerden wurden von der Bau-, Verkehrs- und
Energiedirektion (BVE) des Kantons Bern (Entscheid vom 14. Juni 2007) und vom
Verwaltungsgericht des Kantons Bern (Urteil vom 1. November 2007) abgewiesen,
soweit darauf eingetreten wurde.

C.
Das verwaltungsgerichtliche Urteil zogen die Ehegatten X.________ an das
Bundesgericht weiter. Dieses hiess ihre Beschwerde mit Urteil 1C_430/2007 vom
21. April 2008 teilweise gut, soweit es um die Frage der Beeinträchtigung von
Lichtzutritt und Aussicht auf ihrer Liegenschaft geht, und hob das
verwaltungsgerichtliche Urteil auf. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab,
soweit es darauf eintrat. In Bezug auf die genannten Fragen erwog das
Bundesgericht, die Liegenschaft der Beschwerdeführer erleide bezüglich
Lichtzutritt und Aussicht entgegen der Feststellung des Verwaltungsgerichts
mehr als nur eine minimale Beeinträchtigung. Dieses habe deshalb die Frage
nicht offen lassen dürfen, ob Art. 79 Abs. 2 der Bauordnung der Stadt Bern (BO
06) Beeinträchtigungen dieser Art erfasse. Daraufhin nahm das
Verwaltungsgericht das Verfahren wieder auf und fällte am 9. Juli 2008 ein
neues Urteil; damit verneinte es diese Frage und wies die Beschwerde ein
zweites Mal ab, soweit es darauf eintrat.

D.
Mit Eingabe vom 10. September 2008 führen die Ehegatten X.________ beim
Bundesgericht wiederum Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten.
Sie ersuchen erneut um Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Erteilung des
Bauabschlags. Eventualiter sei das Verfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Y.________ AG stellt den Antrag, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf
einzutreten sei. Die Einwohnergemeinde Bern und das Verwaltungsgericht
beantragen die Abweisung der Beschwerde. Die BVE hat Verzicht auf eine
Vernehmlassung erklärt. In der Replik halten die Beschwerdeführer an ihren
Begehren fest.

E.
Der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung hat das Gesuch der
Beschwerdeführer um Gewährung der aufschiebenden Wirkung mit Verfügung vom 17.
Oktober 2008 abgewiesen.

Erwägungen:

1.
Die Eintretensvoraussetzungen sind an sich erfüllt. Unter dem Vorbehalt
rechtsgenüglich begründeter Rügen (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl.
dazu BGE 134 II 244 E. 2.2 S. 246 mit Hinweisen) ist auf die Beschwerde
einzutreten.

2.
Nach dem hier anwendbaren Art. 79 Abs. 2 BO 06 kann das Nutzungsmass für
einzelne Grundstücke in der Zone "Obere Altstadt" maximal bis zum mittleren
vorhandenen Nutzungsmass der angrenzenden Liegenschaften erhöht werden, sofern
dies dem Planungszweck gemäss Art. 77 dient und die umliegenden Gebäude nicht
beeinträchtigt werden. Gemäss Art. 77 Abs. 2 BO 06 ist Planungszweck der Zone
a) der Schutz der Oberen Altstadt und des Gewerbegebiets Matte in ihrer
historischen Bebauungsstruktur, insbesondere aber der altstadtprägenden
Gebäudevolumen, Geschosszahlen und -höhen, Gebäudefluchten, Dachformen und
-gestaltungen, Fassaden, Lauben und Brandmauern sowie die Aussenräume; b) die
Förderung der städtebaulichen Qualitäten als Citygebiet.

2.1 Wie in E. 3.3 des Urteils 1C_430/2007 vom 21. April 2008 ausgeführt wurde,
umschreibt Art. 79 Abs. 2 BO 06 die Zulässigkeit einer Erhöhung des
Nutzungsmasses an sich mittels dreier Voraussetzungen: Erstens ist ein
Nutzungsmass-Vergleich mit den angrenzenden Liegenschaften anzustellen.
Zweitens muss der Planungszweck gemäss Art. 77 BO 06 eingehalten sein. Drittens
darf die bauliche Erweiterung die umliegenden Gebäude nicht beeinträchtigen.
Die kantonalen Behörden haben sich im hier betroffenen Anwendungsfall damit
begnügt, den Regelungsgehalt der ersten Anforderung im Rahmen der zweiten
Anforderung zu berücksichtigen. Dieses Vorgehen hat das Bundesgericht nicht
beanstandet. Demgemäss braucht insoweit nur geprüft zu werden, ob ein
vernünftiges Verhältnis unter den bestehenden Nachbargebäuden gewahrt und die
altstadtprägenden Strukturen nicht gestört werden. Die Beurteilung, dass das
konkrete Bauprojekt dies einhält, hat das Bundesgericht geschützt (a.a.O., E.
4).

2.2 Der Streitgegenstand der vorliegenden Auseinandersetzung ist beschränkt auf
die rechtliche Tragweite der dritten Voraussetzung, die in Art. 79 Abs. 2 BO 06
aufgeführt ist. Es handelt sich um das Verbot, umliegende Gebäude zu
beeinträchtigen. In dem hier angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht
den Wortlaut der fraglichen Gesetzeswendung als unklar bezeichnet und deren
Sinn durch Auslegung ermittelt. Seiner Ansicht nach sind gestützt auf diese
dritte Vorgabe nicht jegliche, sondern einzig gestalterische Beeinträchtigungen
von Nachbarliegenschaften untersagt. Mit anderen Worten bewirke diese Vorgabe
keinen Schutz vor anderen Immissionen. Für diese Schlussfolgerungen hat das
Verwaltungsgericht verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigt. Erhebliches
Gewicht misst es dem Umstand zu, dass die Gemeinde die Bestimmung als rein
gestalterische Vorschrift verstanden haben will.

2.3 Eine derartige Handhabung der Norm halten die Beschwerdeführer für sachlich
unhaltbar; sie rufen das Willkürverbot (Art. 9 BV) an. Nach ihrer Meinung muss
der betreffenden Anforderung zwingend eine Schutzwirkung gegen wesentliche
Beeinträchtigungen von Lichtzutritt und Aussicht auf Nachbarliegenschaften
beigelegt werden. Weiter machen sie geltend, die willkürliche Rechtsanwendung
verletze zugleich das Gesetzmässigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV) und das
Gleichbehandlungsgebot (Art. 8 Abs. 1 BV). Hinsichtlich der allgemeinen
Tragweite der genannten Verfassungsnormen kann auf Urteil 1C_430/2007 vom 21.
April 2008 E. 4.3 verwiesen werden.

2.4 Die Beschwerdeführer tun nicht dar, dass der Wortlaut der betreffenden
Gesetzeswendung klar für ihre Auslegungsvariante spricht. Was die vom
Verwaltungsgericht vorgenommene Normdeutung angeht, gilt Folgendes: Im
Vergleich zur zweiten Vorgabe, die sich auf den Planungszweck gemäss Art. 77 BO
06 bezieht, billigt das Verwaltungsgericht der hier zur Diskussion stehenden,
dritten Voraussetzung letztlich nicht mehr als eine untergeordnete Tragweite
mit gleicher Zielrichtung zu. Dies ist im Lichte der vorgetragenen
Verfassungsrügen nicht zu beanstanden. An diesem Ergebnis ändert selbst dann
nichts, wenn bei der gegebenen Sachlage sowohl die dritte als auch die erste
Anforderung von Art. 79 Abs. 2 BO 06 im Rahmen der Rechtsanwendung weitgehend
in der zweiten Vorgabe aufgehen.

2.5 Von den Beschwerdeführern wird eingewendet, ohne den von ihnen verfochtenen
Normgehalt seien sie gegen andere als ästhetisch schädigende Auswirkungen einer
Nutzungserweiterung überhaupt nicht geschützt. Bei diesen Vorbringen fehlt es
an einer rechtsgenüglichen Begründung. Die Beschwerdeführer zeigen nicht
detailliert auf, inwiefern die übrigen - namentlich kommunalen -
Bauvorschriften sie bezüglich Lichtzutritt und Aussicht ungenügend schützen
würden. Insofern ist dem Bundesgericht eine Überprüfung verwehrt.

2.6 Im Übrigen hat das Bundesgericht, entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführer, in E. 6.3 des Urteils 1C_430/2007 vom 21. April 2008 nicht
bereits indirekt anerkannt, dass der fragliche Gesetzespassus in ihrem Sinne
auszulegen wäre. Im damaligen Verfahren beschränkte sich das Bundesgericht
darauf, das Verwaltungsgericht zu einer Klärung des fraglichen Normgehalts zu
verpflichten. Eine inhaltliche Vorgabe war damit nicht verbunden. Nichts
anderes folgt aus der von den Beschwerdeführern zitierten Urteilserwägung. Das
Verwaltungsgericht hat die verlangte Klärung, wie vorstehend aufgezeigt, in
verfassungsrechtlich haltbarer Weise vorgenommen. Folglich haben es die
Beschwerdeführer hinzunehmen, dass es hier nicht mehr darauf ankommt, ob das
Bauprojekt ihre Liegenschaft bezüglich Lichtzutritt und Aussicht
beeinträchtigt.

3.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Ausgangsgemäss haben die Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 und 5 BGG). Sie haben die Beschwerdegegnerin angemessen zu entschädigen
(Art. 68 Abs. 2 und 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden den Beschwerdeführern auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführer haben die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren, unter solidarischer Haftbarkeit, mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Einwohnergemeinde Bern, der Bau-,
Verkehrs- und Energiedirektion und dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Verwaltungsrechtliche Abteilung, sowie dem Regierungsstatthalteramt Bern
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. Februar 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:

Aemisegger Kessler Coendet