Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.291/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 1/2}
1C_291/2008

Urteil vom 17. Dezember 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Aeschlimann,
Reeb, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Kessler Coendet.

1. Parteien
Jörg Frei,
2. Peter Kohler,
3. Denise Camele,
4. Sabine Eschmann,
5. Rahel Wespe,
Beschwerdeführer, alle p.A. Jörg Frei, Rechtsanwalt,

gegen

Barbara Keller-Inhelder, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Gültigkeit der Kantonsratswahlen für die
Amtsdauer 2008/2012,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 2. Juni 2008
des Kantonsrats des Kantons St. Gallen.
Sachverhalt:

A.
Am 16. März 2008 fand die Erneuerungswahl des St. Galler Kantonsrats
(Kantonsparlament) für die Amtsdauer 2008/2012 statt. Die Wahl des Kantonsrats
erfolgt nach dem System der Proporzwahl. Der Kantonsrat besteht aus 120
Mitgliedern. Im Wahlkreis See-Gaster waren 15 Sitze zu vergeben. In diesem
Wahlkreis errangen die miteinander verbundenen Listen Nrn. 6 und 7 der
Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) insgesamt 5 Sitze und die Liste Nr.
1 der Schweizerischen Volkspartei (SVP) 6 Sitze. Auf der Liste Nr. 6
kandidierte unter anderem die bisherige Kantonsrätin Barbara Keller-Inhelder.
Sie erzielte auf ihrer Liste die beste Stimmenzahl und wurde gemäss
Wahlprotokoll als gewählt erklärt. Die Wahlergebnisse wurden im kantonalen
Amtsblatt vom 31. März 2008 veröffentlicht. Es gingen keine Beschwerden gegen
die Durchführung der Wahl und deren Ergebnisse ein. Mit Botschaft vom 22. April
2008 beantragte die Regierung des Kantons St. Gallen dem Kantonsrat, die
Gültigkeit der Kantonsratswahl festzustellen.

B.
Am 27. Mai 2008 orientierte die Kantonsregierung das Kantonsratspräsidium
schriftlich, dass Barbara Keller-Inhelder Medienberichten zufolge kurz nach dem
Wahltermin einen Parteiwechsel von der CVP zur SVP vollzogen habe. Die
Kantonsregierung ersuchte den Kantonsrat, er möge darüber befinden, ob Barbara
Keller-Inhelder ihr Amt vor diesem Hintergrund ausüben könne.
Der neugewählte Kantonsrat trat erstmals am 2. Juni 2008 zusammen. An diesem
Datum behandelte er unter anderem die sog. Validierung der Kantonsratswahl. Bei
diesem Geschäft stimmte er zunächst über die Gültigkeit der Wahl von Barbara
Keller-Inhelder ab, hiernach gesamthaft über diejenige der anderen 119
Mitglieder. Die vorberatende kantonsrätliche Kommission hatte den Antrag
gestellt, die Wahl von Barbara Keller-Inhelder wegen ihres Parteiwechsels für
ungültig zu erklären. Diesen Antrag lehnte der Kantonsrat mit 58 zu 54 Stimmen
bei 6 Enthaltungen und 2 Abwesenheiten ab; Barbara Keller-Inhelder befand sich
im Ausstand. Anschliessend stellte der Kantonsrat fest, die Wahl der anderen
119 Mitglieder sei ebenfalls gültig.

C.
Gegen den kantonsrätlichen Entscheid über die Validierung der Wahl von Barbara
Keller-Inhelder legen Jörg Frei, Peter Kohler, Denise Camele, Sabine Eschmann
und Rahel Wespe mit gemeinsamer Eingabe vom 30. Juni 2008 beim Bundesgericht
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ein. Sie beantragen die
Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Feststellung der Ungültigkeit
der umstrittenen Wahl. Eventuell sei die Angelegenheit zur Vornahme der
verlangten Feststellung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Barbara Keller-Inhelder hat sich zur Beschwerde nicht vernehmen lassen. Die
Kantonsregierung ersucht namens des Kantonsrats um Abweisung der Beschwerde,
soweit darauf einzutreten sei. In der Replik halten die Beschwerdeführer an
ihren Begehren fest.

D.
Der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung hat das Gesuch der
Beschwerdeführer um Gewährung der aufschiebenden Wirkung mit Verfügung vom 8.
Oktober 2008 abgewiesen.

E.
Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat die Angelegenheit
am 17. Dezember 2008 an einer öffentlichen Sitzung beraten.

Erwägungen:

1.
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die Zulässigkeit der Beschwerde
von Amtes wegen (vgl. Art. 29 Abs. 1 BGG).

1.1 Mit der Beschwerde nach Art. 82 lit. c BGG kann die Verletzung von
politischen Rechten beim Bundesgericht geltend gemacht werden. Von der
Beschwerde erfasst werden unter anderem kantonale Volkswahlen (vgl. auch Art.
88 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführer behaupten unter anderem, durch den
angefochtenen Entscheid werde das Ergebnis der Willensäusserung der Wähler
verfälscht. Sie berufen sich dabei auf den Anspruch, der in Art. 34 Abs. 2 BV
und Art. 2 lit. x der St. Galler Kantonsverfassung vom 10. Juni 2001 (KV/SG; SR
131.225) garantiert ist. Ein hinreichender Zusammenhang zum Stimm- und
Wahlrecht ist zu bejahen.

1.2 Zu Recht haben die Beschwerdeführer Beschlüsse des Kantonsrats über die
Kommissionsbestellungen bzw. über die Festlegung des Schlüssels für die
Zuteilung der Kommissionssitze an die einzelnen Fraktionen nicht
mitangefochten; derartige Beschlüsse ergingen im Anschluss an den angefochtenen
Entscheid. Die Beschwerde wegen Verletzung politischer Rechte kommt im Fall von
sog. indirekten Wahlen durch das Parlament nicht in Frage (vgl. BGE 131 I 366
E. 2.1 S. 367; Urteil des Bundesgerichts 1P.36/1997 vom 18. November 1997 E. 1b
in: ZBl 100/1999 S. 483). Es erübrigt sich daher, auf die Vorbringen in der
Beschwerdeschrift weiter einzugehen, die sich auf derartige parlamentsinterne
Wahlgeschäfte beziehen. Es ist einzig zu prüfen, ob die angefochtene
Validierung der Wahl von Barbara Keller-Inhelder vor der Verfassung standhält.

1.3 Die Beschwerdeführer sind im Wahlkreis See-Gaster stimmberechtigt und zur
Beschwerde legitimiert (Art. 89 Abs. 3 BGG). Diese richtet sich gegen einen
kantonal letztinstanzlichen Entscheid (Art. 88 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 BGG).
Unter dem Vorbehalt der Zulässigkeit der einzelnen Rügen ist auf die Beschwerde
einzutreten.

2.
2.1 Zur Hauptsache rufen die Beschwerdeführer Art. 34 Abs. 2 BV und Art. 2 lit.
x KV/SG an.
Art. 34 Abs. 2 BV schützt die freie Willensbildung und unverfälschte
Stimmabgabe. Die Garantie bedeutet, dass kein Abstimmungs- oder Wahlergebnis
anerkannt werden darf, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig
und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Der Wählerwille soll sich möglichst
unverfälscht in der Zusammensetzung des Parlaments widerspiegeln (vgl. BGE 131
I 442 E. 3.1 S. 447; 123 I 97 E. 4a S. 105).
Art. 2 KV/SG gewährleistet die Grundrechte nach Massgabe der Bundesverfassung
in allgemeiner Weise und schliesst namentlich auch die freie Willensbildung und
unverfälschte Stimmabgabe in Ausübung der politischen Rechte ein (lit. x).
Diese kantonalen Garantien reichen nicht über jene von Art. 34 Abs. 2 BV hinaus
(Urteil des Bundesgerichts 1C_412/2007 vom 18. Juli 2008 E. 3).

2.2 In der Replik bringen die Beschwerdeführer Rügen vor, die sie in der
Beschwerdeschrift nicht geltend gemacht haben. Es gilt vorweg zu prüfen, ob
dies zulässig sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine
Beschwerdeergänzung auf dem Weg der Replik nur insoweit statthaft, als die
Ausführungen in der Vernehmlassung eines anderen Verfahrensbeteiligten dazu
Anlass geben. Ausgeschlossen sind hingegen in diesem Rahmen Anträge und Rügen,
die der Beschwerdeführer bereits vor Ablauf der Beschwerdefrist hätte erheben
können (vgl. BGE 134 IV 156 E. 1.7 S. 162; 132 I 42 E. 3.3.4 S. 47 mit weiteren
Hinweisen).
2.2.1 Zum einen führen die Beschwerdeführer in diesem Rahmen aus, der
angefochtene Entscheid verstosse gegen Art. 62 Abs. 3 des Geschäftsreglements
des Kantonsrats vom 24. Oktober 1979 (sGS 131.11) und sei auch deswegen
aufzuheben. Mit dieser Bestimmung wird vorgeschrieben, dass gewisse
vorberatende Kommissionen des Kantonsrats in der Regel dem Kantonsrat
schriftlich Bericht zu erstatten haben. Die Beschwerdeführer beanstanden, es
sei vorliegend nur eine kurze mündliche und damit unzulängliche
Berichterstattung erfolgt. Dass diese neu erhobene Rüge wegen Äusserungen in
der Vernehmlassung der Kantonsregierung notwendig geworden sei, ist weder
behauptet noch ersichtlich. Bereits aus dem Protokollauszug, den die
Beschwerdeführer als Anfechtungsobjekt eingereicht haben, geht hervor, wie die
kritisierte Berichterstattung im Rat vor sich ging. Auf die diesbezüglichen
Vorbringen kann demzufolge nicht eingetreten werden.
2.2.2 Zum andern dreht sich die Beschwerdeergänzung um die
Tatsachenfeststellung des Kantonsrats zum Zeitpunkt, in dem Barbara
Keller-Inhelder den Parteiwechsel vollzogen hat. In der Beschwerdeschrift wird
entsprechend dem angefochtenen Entscheid - und ohne Infragestellung -
vorgebracht, Barbara Keller-Inhelder sei im Nachgang zur Wahl aus der CVP
ausgetreten und in die SVP übergetreten. Nichts anderes hat die
Kantonsregierung in der Vernehmlassung an das Bundesgericht vorgetragen.
In der Replik bringen die Beschwerdeführer nun die Präzisierung an, der
Parteiwechsel habe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch vor dem
Wahltermin stattgefunden. Auch insofern sind die Beschwerdeführer nicht zu
einer Beschwerdeergänzung berechtigt. Sie machen nicht geltend, die
nachträglich behaupteten Tatsachen und neu eingereichten Belege seien ihnen vor
Ablauf der Beschwerdefrist nicht zugänglich gewesen. Aus diesem Grund kann auf
die diesbezüglichen Ausführungen nicht eingegangen werden.
Im Übrigen bekräftigen die Beschwerdeführer in der Replik, die Gegenseite habe
mit der Kommunikation des Parteiwechsels gezielt bis nach den Wahlen
zugewartet. Die Beschwerdeführer zeigen nicht auf, inwiefern ihre neue
Sachdarstellung für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein soll. Nur
unter dieser Voraussetzung wäre eine Sachverhaltsrüge gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG
überhaupt zulässig. Auch im Hinblick darauf sind die neuen Vorbringen zum
Sachverhalt unbeachtlich.

2.3 Im Ergebnis ist der Streitgegenstand auf die Frage beschränkt, ob es das
Stimm- und Wahlrecht verletzt, Barbara Keller-Inhelder trotz des nach den
Wahlen vollzogenen Parteiwechsels zur Amtsausübung zuzulassen. Es ist
unbestritten, dass die übrigen rechtlichen Voraussetzungen für den Amtsantritt
erfüllt sind. Die Beschwerdeführer legen Barbara Keller-Inhelder zur Last, sich
gegenüber der Wählerschaft treuwidrig verhalten zu haben. An ihrer Stelle sei
dem in Frage kommenden Ersatzmitglied der Wahlliste das Nachrücken zu
gestatten. Der Kantonsrat habe verkannt, dass er zum Schutz von Sinn und Zweck
des Proporzwahlrechts zu einer solchen Anordnung verpflichtet sei. Die
Beschwerdeführer verlangen von den Parlamentariern keine rechtliche Bindung
während der ganzen Amtsdauer an die angestammte Partei. Ein Übertritt noch vor
der Konstituierung des neugewählten Parlaments ist aber ihrer Meinung nach
besonders stossend. Werde in einem solchen Fall der Amtsantritt geschützt, dann
entspreche die Zusammensetzung des Parlaments von Beginn weg nicht dem
Wählerwillen.

3.
3.1 An sich ist es richtig, dass aus Sicht der Stimmberechtigten die
Zusammensetzung des Parlaments nicht nur am Wahltag selbst, sondern auch danach
dem Wahlergebnis entsprechen soll. Wie es sich insofern verhält, wenn ein
gewählter Kandidat bzw. ein Parlamentarier aus der Partei ausscheidet oder in
eine andere Partei übertritt, muss vorliegend untersucht werden.

3.2 Dabei ist einzubeziehen, dass für die im Amte stehenden
Parlamentsmitglieder das Prinzip der auftragsfreien Repräsentation gilt (sog.
freies Mandat). Für die Mitglieder der Bundesversammlung wird dieser Grundsatz
heute aus Art. 161 Abs. 1 BV abgeleitet; die Bestimmung wurde inhaltlich
unverändert aus Art. 91 aBV übernommen (vgl. dazu ULRICH HÄFELIN/WALTER HALLER/
HELEN KELLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl., Zürich 2008, N.
1607; Moritz von Wyss, in: St. Galler BV-Kommentar, 2. Aufl., 2008, N. 3 ff. zu
Art. 161 BV; Pierre TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen
Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Bern 2007, § 34 N. 1; ANDREAS AUER/GIORGIO
MALINVERNI/MICHEL HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. I, 2. Aufl.,
Bern 2006, N. 70; JEAN-FRANÇOIS AUBERT, in: Petit Commentaire de la
Constitution fédérale, Zürich 2003, N. 4 zu Art. 161 BV; derselbe, in:
aBV-Kommentar, N. 1 ff. zu Art. 91 aBV). Nach der herrschenden
Staatsrechtslehre in der Schweiz gehört der Grundsatz der auftragsfreien
Repräsentation zum Wesen des parlamentarischen Mandats (vgl. WALTER HALLER/
ALFRED KÖLZ/THOMAS GÄCHTER, Allgemeines Staatsrecht, 4. Aufl., Basel 2008, S.
247 f.; TSCHANNEN, a.a.O., § 30 N. 12 ff.; AUBERT, in: Petit Commentaire,
Vorbemerkungen vor Art. 148 ff. BV, N. 1 lit. f). Kritisch zu diesem Grundsatz
geäussert hat sich PETER SALADIN; er postulierte eine Verantwortung der
Parlamentarier gegenüber ihrer Wählerschaft (Verantwortung als Staatsprinzip,
Bern 1984, S. 174 f.). In abgeschwächter Form bekennen sich mehrere Autoren
unter dem Stichwort "Responsiveness" zu einer Bindung der Parlamentarier
gegenüber ihrer Wählerschaft als Ansprechpartner (vgl. dazu JÖRG PAUL MÜLLER,
«Responsive Government»: Verantwortung als Kommunikationsproblem, ZSR 1995 I S.
3 ff., 15, 21; RENÉ RHINOW, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts,
Basel 2003, N. 1856, 2239; PHILIPPE MASTRONARDI, Verfassungslehre, Bern 2007,
N. 494 f.; so schon SALADIN, a.a.O., S. 177 ff.). Der Inhalt der soeben
erwähnten Standpunkte muss nicht vertieft erörtert werden. Nach dem geltenden
Verfassungsrecht des Bundes ist vom Prinzip des freien Mandats auszugehen.

3.3 Die sanktgallische Kantonsverfassung enthält keine Regelung zu diesem
Aspekt des Parlamentsrechts. Im Schrifttum wird davon ausgegangen, dass der
Grundsatz des freien Mandats für ein Kantonsparlament auch ohne besondere
Regelung im kantonalen Recht gilt (vgl. MATTHIAS HAUSER, in: Kommentar zur
Zürcher Kantonsverfassung, Zürich 2007, N. 1 zu Art. 52 KV/ZH; PETER MÜNCH,
Wesen und Bedeutung der Parlamentsfraktion aus schweizerischer Sicht, in:
Archiv des öffentlichen Rechts, 120/1995 S. 382 ff., 410; KURT EICHENBERGER,
Kommentar zur Verfassung des Kantons Aargau, Aarau 1986, N. 4 der
Vorbemerkungen vor §§ 76 ff. KV/AG). Wie die Kantonsregierung in der
Vernehmlassung an das Bundesgericht darlegt, sind Parteiwechsel von
Kantonsratsmitgliedern nach dem Amtsantritt in der St. Galler Praxis wiederholt
vorgekommen, ohne dass diese Politiker zur Abgabe des Mandats verpflichtet
gewesen wären. Ungewöhnlich ist beim vorliegenden Fall, dass der Parteiwechsel
bereits vor Amtsantritt vollzogen wurde. Im Ergebnis hat der Kantonsrat hier
dem Grundsatz des freien Mandats eine für die Zeit zwischen Wahl und
Amtsantritt vorauswirkende Tragweite verliehen. Es fragt sich, ob dieser
Entscheid mit den politischen Rechten der Beschwerdeführer vereinbar ist.

4.
Bei Stimmrechtsbeschwerden überprüft das Bundesgericht nicht nur die Auslegung
von Bundesrecht und kantonalen verfassungsmässigen Rechten frei (Art. 95 lit. a
und c BGG). Gestützt auf Art. 95 lit. d BGG prüft es auch die Anwendung des
kantonalen Rechts, das den Inhalt des Stimm- und Wahlrechts normiert oder mit
diesem in engem Zusammenhang steht, mit freier Kognition. In ausgesprochenen
Zweifelsfällen schliesst es sich allerdings der vom obersten kantonalen Organ
vertretenen Auffassung an; als solches werden Volk und Parlament anerkannt
(vgl. Urteil 1C_5/2007 vom 30. August 2007, E. 1, in: ZBl 109/2008 S. 155).
Trotz der freien Prüfung weicht das Bundesgericht nicht leichthin von der
Beurteilung des kantonalen Parlaments ab.

5.
Unter dem Blickwinkel der politischen Rechte geht es um den Aspekt, dass die
Volkswahl von Verfassungs wegen eine direkte sein muss.

5.1 Art. 39 Abs. 1 und Art. 51 Abs. 1 BV verpflichten die Kantone, den
Stimmberechtigten das Recht zur direkten Wahl der Volksvertreter einzuräumen
(vgl. das Urteil des Bundesgerichts 1P.605/1994 vom 16. März 1995 E. 2b, in:
ZBl 97/1996 S. 134). Dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe genügen
grundsätzlich sowohl das Mehrheits- als auch das Verhältniswahlverfahren (BGE
131 I 74 E. 3.2 S. 79, 85 E. 2.2 S. 87; je mit Hinweisen). Die Mitglieder des
St. Galler Kantonsrats werden gemäss Art. 37 KV/SG in den bezeichneten
Wahlkreisen nach Proporz gewählt. Wie Art. 54 Abs. 1 des kantonalen Gesetzes
vom 4. Juli 1971 über die Urnenabstimmungen (UAG/SG; sGS 125.3) festlegt,
richtet sich das Wahlverfahren sachgemäss nach der Bundesgesetzgebung zur Wahl
des Nationalrats, mithin nach dem Bundesgesetz vom 17. Dezember 1976 über die
politischen Rechte (BPR; SR 161.1).

5.2 Das Wahlsystem der Verhältniswahl bezweckt, alle massgeblichen politischen
Kräfte nach Massgabe ihrer Parteistärke im Parlament Einsitz nehmen zu lassen
(vgl. BGE 131 I 74 E. 3.3 S. 80; 123 I 97 E. 4d S. 106 mit weiteren Hinweisen).
Bei diesem Wahlsystem tritt die Persönlichkeitswahl in den Hintergrund; im
Vordergrund steht die von der Partei bzw. politischen Gruppierung aufgestellte
Liste (vgl. BGE 118 Ia 415 E. 6c S. 420 f.; Urteil 1C_217/2008 vom 3. Dezember
2008 E. 2.1). Für die Stimmberechtigten zeichnet sich die Proporzwahl dadurch
aus, dass sie nur Kandidaten wählen können, die auf einer Liste vorgeschlagen
sind (BGE 98 Ia 64 E. 3c S. 72 f.; YVO HANGARTNER/ANDREAS KLEY, Die
demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft, Zürich 2000, N. 1436). Das Stimm- und Wahlrecht umfasst bei
Proporzwahlen einen Anspruch auf gehörige Bekanntgabe der Listen; dazu gehören
Angaben über die Erklärung einer Listenverbindung (vgl. BGE 104 Ia 360 E. 3a S.
363 f.).

5.3 Die Parteien schlagen die Kandidaten vor, die auf ihren Listen zur Wahl
stehen. Die behördliche Bereinigung der Kandidatenlisten erfolgt im
Vorverfahren. Im Rahmen des Vorverfahrens haben die Kandidaten schriftlich zu
bestätigen, dass sie den Wahlvorschlag annehmen (Art. 13 Abs. 4 der
Vollzugsverordnung vom 17. August 1971 zum kantonalen Gesetz über die
Urnenabstimmungen [VV-UAG/SG; sGS 125.31] unter Hinweis auf Art. 22 BPR).
Ausserdem ist die sog. Doppelkandidatur verboten: Der Kandidatenname darf nur
auf einer Liste erscheinen (vgl. HANGARTNER/KLEY, a.a.O., N. 1433; vgl. im
Einzelnen Art. 15 VV-UAG/SG unter Hinweis auf Art. 27 BPR). Mit diesen
Sicherungen wird gewährleistet, dass für den Wahlgang jeder Kandidat einer
Liste - bzw. der dahinter stehenden Partei - zugeordnet werden und gestützt
darauf direkt die Mandatszuteilung vorgenommen werden kann. Die behördliche
Prüfung im Rahmen des Vorverfahrens ist jedoch vorwiegend formeller Natur. Es
ist weder vorgeschrieben noch wird geprüft, ob die Kandidaten eine Bindung zu
der Partei aufweisen, die sie auf der Liste aufstellt. Zwar werden sich die
Kandidaten im Wahlkampf bildlich gesprochen das Etikett der Partei anheften
müssen, auf deren Liste sie sich um einen Parlamentssitz bewerben. Diese
Tatsache verändert aber die rechtliche Tragweite der vorgenannten Erklärung der
Kandidaten im Lichte von Art. 13 Abs. 4 VV-UAG/SG nicht. Daraus lässt sich
nichts anderes ableiten, als dass die Unterzeichner mit einer Kandidatur auf
dieser Liste einverstanden sind. Sie geben mit dieser Erklärung kein
Versprechen zu ihrem Verhalten nach dem Wahlgang ab.

5.4 Bei der Proporzwahl bedeutet die Stimmabgabe für einen Kandidaten
gleichzeitig eine solche für die Liste, auf der er kandidiert. Diese Einheit
von Kandidatenstimme und Listenstimme gilt nachgerade im System der
Einzelstimmenkonkurrenz, das im Kanton St. Gallen zur Anwendung gelangt. Das
System regelt die Wirkungen des sog. Panaschierens in der Weise, dass die
eingelegte Liste Stimmen an die Listen der anderen Parteien verliert, für deren
Kandidaten gestimmt wird (vgl. HANGARTNER/KLEY, a.a.O., N. 1439 f., auch zum
Folgenden). Auch nach dieser Ordnung werden die Sitze in erster Linie einer
Liste bzw. Listenverbindung gemäss der gesamthaft erlangten Stimmenzahl
zugeteilt. Innerhalb der Liste werden diese Sitze an die Kandidaten mit den
meisten Stimmen vergeben. Primär entscheidend ist somit die Stimme für die
Liste. Auch beim Modus der Einzelstimmenkonkurrenz erreichen die direkt
abgegebenen Kandidatenstimmen oft nicht die Schwelle, die für das Erlangen
eines Mandats mathematisch nötig ist. Unter diesen Umständen verdankt der
Kandidat sein Mandat zu einem bedeutenden Teil der Anrechnung von weiteren
Listenstimmen. So verhält es sich im vorliegenden Fall, auch wenn Barbara
Keller-Inhelder das beste Wahlresultat auf ihrer Liste aufweist. Sie hat rund
4'600 Stimmen auf sich vereinigt; die Verteilungszahl für ein Vollmandat lag
bei über 11'500 Stimmen. Der verfassungsrechtliche Entscheid über
Auseinandersetzungen der vorliegenden Art kann freilich nicht von der
gewonnenen Zahl an Kandidatenstimmen im Einzelfall abhängen.

5.5 Wie bei E. 3.3 hiervor angesprochen, spielt vielmehr eine wesentliche
Rolle, dass die Mitglieder des St. Galler Kantonsparlaments aus ihrer
angestammten Partei austreten und sogar in eine andere Partei übertreten
können, ohne deshalb zur Abgabe des Mandats verpflichtet zu sein. Sie verletzen
keine rechtliche Treuepflicht gegenüber ihrer Wählerschaft, wenn sie die Partei
nach Amtsantritt wechseln. Ein derartiges Verhalten verstösst nicht gegen
politische Rechte der Wählerschaft (vgl. allgemein TOMAS POLEDNA,
Wahlrechtsgrundsätze und kantonale Parlamentswahlen, Diss. Zürich 1988, S.
283). Dieser Autor spricht sich an derselben Stelle dafür aus, den Schutz vor
Mandatsverlust auch auf Konstellationen zu erstrecken, bei denen das
Ausscheiden aus der Partei zwischen Wahltermin und Amtsantritt geschieht. In
diese Richtung weisen ältere Entscheide bezüglich Ersatzmitgliedern des
Nationalrats; letztere wurden zur Amtsausübung zugelassen, obwohl sie zwischen
der Wahl und dem Zeitpunkt des Nachrückens aus ihrer Partei ausgetreten waren
bzw. die Partei gewechselt hatten (vgl. dazu Jean-François Aubert,
Bundesstaatsrecht der Schweiz, Band II, Basel 1995, N. 1191, unter anderem mit
Hinweis auf VEB 22/1952 Nr. 10).

5.6 Hier ist der Parteiwechsel nur kurz nach dem Wahltag bzw. noch vor der
Konstituierung des neugewählten Parlaments vollzogen worden. Dieser Schritt mag
fragwürdig und der damit bewirkte Verlust an politischer Glaubwürdigkeit gross
sein. Dennoch ist auch ein derartiger Parteiübertritt mit dem
verfassungsrechtlichen Grundsatz des direkten Wahlrechts vereinbar. Unmittelbar
aus den verfassungsmässigen politischen Rechten lassen sich keine höheren
Anforderungen an die Zulassung zum Amtsantritt ableiten, als später während der
Amtsausübung gelten. Immerhin stünde es dem kantonalen Gesetzgeber frei, eine
Regelung über Konsequenzen zu erlassen für den Fall, dass ein gewählter
Kandidat noch vor der Validierung der Wahl aus eigenen Stücken zu der Partei
einer konkurrierenden Liste überwechselt. Eine derartige Vorschrift besteht
hier nicht. Vor diesem Hintergrund hält es vor der Verfassung stand, dass der
Kantonsrat die Wahl von Barbara Keller-Inhelder trotz des fraglichen
Parteiwechsels als gültig eingestuft und ihr die Amtsausübung erlaubt hat.

5.7 Aufgrund der vorstehenden Überlegungen bildet es ebenfalls keinen gangbaren
Weg, die Kandidatenstimmen von Barbara Keller-Inhelder von der alten auf die
neue Partei zu transferieren und in diesem Sinne die Sitzzuteilung an die
Wahllisten neu zu berechnen. Es besteht daher kein Anlass, den von den
Beschwerdeführern verlangten Amtsbericht zu einer Neuberechnung des
Wahlergebnisses auf einer solchen Grundlage einzuholen.

6.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Praxisgemäss sind den unterliegenden Beschwerdeführern Gerichtskosten
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 und 5 BGG; BGE 133 I 141). Der Kantonsregierung,
die namens des Kantonsrats am bundesgerichtlichen Verfahren teilgenommen hat,
steht keine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 3 BGG). Nicht anders verhält
es sich bezüglich Barbara Keller-Inhelder, die sich im bundesgerichtlichen
Verfahren nicht geäussert hat (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden den Beschwerdeführern unter
solidarischer Haftbarkeit auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsrat des Kantons St. Gallen
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 17. Dezember 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Kessler Coendet