Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.287/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_287/2008

Urteil vom 12. Januar 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb, Fonjallaz, Eusebio,
Gerichtsschreiber Härri.

Parteien
X.________ AG, Beschwerdeführerin, vertreten durch
Rechtsanwälte Dr. Christian Benz und Raphael Brunner,

gegen

Eidgenössische Zollverwaltung EZV, Oberzolldirektion, Zentralstelle
Zollfahndung, Monbijoustrasse 40,
3003 Bern.

Gegenstand
Internationale Rechtshilfe in Strafsachen an Deutschland,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 10. Juni 2008
des Bundesstrafgerichts, II. Beschwerdekammer.
Sachverhalt:

A.
Das Zollfahndungsamt Frankfurt am Main führt gegen verschiedene Personen ein
Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung beim Import von Geflügelfleisch.
Mit Rechtshilfeersuchen vom 31. Mai 2007 bat die Staatsanwaltschaft Frankfurt
unter anderem um Beschlagnahme der Geschäftsunterlagen der Y.________ AG in
A.________ und die Übermittlung der sichergestellten Beweismittel.
Mit Eintretens- und Zwischenverfügung vom 7. September 2007 ordnete die
Oberzolldirektion die Ausführung der ersuchten Massnahmen an.
Bei der Liquidatorin der Y.________ AG, der Z.________ AG in A.________,
konnten in der Folge nur wenige Akten sichergestellt werden. Es wurde
festgestellt, dass Akten der Y.________ AG bei der X.________ AG in B.________
eingelagert worden waren. Hierauf sprach die Zollverwaltung bei Letzterer vor
und verlangte die Herausgabe des Lagerguts. Am 25. September 2007 händigte die
X.________ AG rund 100 Ordner und eine Festplatte aus, welche beschlagnahmt
wurden.

B.
Mit Schlussverfügung vom 18. Februar 2008 entsprach die Oberzolldirektion dem
Rechtshilfeersuchen und verfügte die Übermittlung der beschlagnahmten
Unterlagen an die ausländische Strafverfolgungsbehörde.

C.
Auf die von der X.________ AG dagegen erhobene Beschwerde trat das
Bundesstrafgericht (II. Beschwerdekammer) am 10. Juni 2008 nicht ein. Es
verneinte die Beschwerdelegitimation.

D.
Die X.________ AG führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Hauptantrag, der Entscheid des Bundesstrafgerichts sei aufzuheben;
dieses sei anzuweisen, auf die Beschwerde einzutreten und in der Sache zu
entscheiden. Die Beschwerdeführerin stellt überdies Eventualanträge.

E.
Das Bundesstrafgericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
Die Oberzolldirektion und das Bundesamt für Justiz haben sich vernehmen lassen
je mit dem Antrag, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten.

F.
Die X.________ AG hat eine Replik eingereicht. Sie hält an ihren Anträgen fest.
Das Bundesgericht hat die Replik den Beteiligten zur Kenntnisnahme zugestellt.

G.
Am 3. September 2008 teilte das Bundesgericht den Beteiligten mit, dass kein
Nichteintretensentscheid im Sinne von Art. 109 Abs. 1 BGG ergehe und der Fall
deshalb im ordentlichen Verfahren gemäss Art. 20 BGG erledigt werde.
Ebenso teilte das Bundesgericht der Beschwerdeführerin mit, dass über das
Gesuch um Einräumung einer Nachfrist zur Ergänzung der Beschwerdebegründung
gemäss Art. 43 BGG der urteilende Spruchkörper befinden werde.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 86 Abs. 1 lit. b BGG ist die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen Entscheide des Bundesstrafgerichts
zulässig.

1.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe ihre
Beschwerdelegitimation zu Unrecht verneint. Sie beklagt sich insoweit über eine
formelle Rechtsverweigerung. Dazu ist sie gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG befugt
(vgl. BGE 124 II 124 E. 1b; 122 II 130 E. 1; ROBERT ZIMMERMANN, La coopération
judiciaire internationale en matière pénale, 2. Aufl. 2004, S. 351 N. 308).
1.3
1.3.1 Gemäss Art. 84 BGG ist gegen einen Entscheid auf dem Gebiet der
internationalen Rechtshilfe in Strafsachen die Beschwerde nur zulässig, wenn er
unter anderem eine Beschlagnahme oder eine Übermittlung von Informationen aus
dem Geheimbereich betrifft und es sich um einen besonders bedeutenden Fall
handelt (Abs. 1). Ein besonders bedeutender Fall liegt insbesondere vor, wenn
Gründe für die Annahme bestehen, dass elementare Verfahrensgrundsätze verletzt
worden sind oder das Verfahren im Ausland schwere Mängel aufweist (Abs. 2).
Im vorliegenden Fall geht es um die Beschlagnahme von Unterlagen sowie einer
Festplatte und deren Herausgabe an den ersuchenden Staat, also um ein
Sachgebiet, bei dem die Beschwerde nach Art. 84 Abs. 1 BGG insoweit möglich
ist.
Wie sich aus dem in Art. 84 Abs. 2 BGG enthaltenen Wort "insbesondere" ergibt,
umschreibt diese Bestimmung die Gründe für die Annahme eines besonders
bedeutenden Falles nicht abschliessend. Ein besonders bedeutender Fall ist auch
dann zu bejahen, wenn die Vorinstanz von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
abgewichen ist (BGE 133 IV 215 E. 1.2 S. 218, mit Hinweis).
So verhält es sich, wie die folgenden Erwägungen zeigen werden, hier. Die
besondere Bedeutung des Falles im Sinne von Art. 84 BGG ist daher zu bejahen.
1.3.2 Im Urteil 1C_106/2007 vom 21. Mai 2007 trat das Bundesgericht im
Verfahren nach Art. 109 Abs. 1 BGG mangels besonders bedeutenden Falles nicht
ein auf eine Beschwerde gegen einen Entscheid des Bundesstrafgerichts, mit dem
dieses die Beschwerdelegitimation des Beschwerdeführers verneint hatte. Das
Bundesgericht erwog (E. 1.3), der Beschwerdeführer zeige nicht auf, dass - die
Beschwerdelegitimation angenommen - seine Beschwerde in der Sache ernsthaft
Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
Im vorliegenden Fall legt die Beschwerdeführerin dar, weshalb ihres Erachtens
die Beschwerde in der Sache durch die Vorinstanz gutzuheissen wäre. Sie macht
geltend, die Voraussetzungen des Abgabebetrugs, insbesondere die Arglist und
ein Schaden, seien nicht gegeben. Die ersuchende Behörde habe einen
hinreichenden Verdacht auf Abgabebetrug nicht glaubhaft gemacht. Gegen die
Beschwerdeführerin habe überdies kein Durchsuchungsbefehl vorgelegen; die
Hausdurchsuchung und Beschlagnahme seien unrechtmässig erfolgt. Ferner habe es
die Oberzolldirektion unterlassen, in der Schlussverfügung den
Spezialitätsvorbehalt zu erklären. Diese Einwände können nicht von vornherein
als haltlos bezeichnet werden. Obwohl die Vorinstanz auf die Beschwerde nicht
eingetreten ist, hat sie (S. 9 E. 3) im Übrigen eingeräumt, dass die
Oberzolldirektion den Spezialitätsvorbehalt hätte anbringen müssen. Auch nach
Auffassung der Vorinstanz wäre die Beschwerde also zumindest teilweise
begründet gewesen. Der vorliegende Fall liegt somit anders als jener, der im
Urteil 1C_106/2007 vom 21. Mai 2007 zu beurteilen war.

1.4 Die weiteren Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.

1.5 Wie die Beschwerdeführerin (Beschwerde S. 20 Ziff. 33) darlegt, stellt sie
den Antrag auf Einräumung einer Nachfrist zur Ergänzung der
Beschwerdebegründung gemäss Art. 43 BGG nicht, falls das Bundesgericht bereits
aufgrund der Ausführungen in der Beschwerde zum Schluss kommen sollte, diese
sei gutzuheissen. Da Letzteres der Fall ist, ist der Antrag somit hinfällig.

2.
2.1 Die Vorinstanz erwägt (S. 7 ff. E. 2.3 f.), durch die Beschlagnahme der
Ordner und der Festplatte sei die Beschwerdeführerin zwar gemäss Art. 80h lit.
b IRSG und Art. 9a IRSV (SR 351.11) persönlich und direkt betroffen. Für ein
Eintreten auf die Beschwerde sei jedoch zusätzlich erforderlich, dass sie
eigene schutzwürdige Interessen gelten machen könne. Dies sei nicht der Fall.
Die Beschwerdeführerin wendet ein, ein Aufbewahrer sei von der Beschlagnahme
bei ihm eingelagerter Dokumente persönlich und direkt betroffen. Deshalb habe
er auch ein schutzwürdiges Interesse an der Überprüfung der Rechtmässigkeit der
Rechtshilfemassnahme. Diese beiden Voraussetzungen habe die bisherige
Rechtsprechung nicht getrennt geprüft bzw. nie im gleichen Fall gegensätzlich
entschieden. Da der Hinterleger nach Ansicht der Oberzolldirektion von der
Rechtshilfehandlung nicht persönlich und direkt betroffen und damit ebenfalls
nicht zur Beschwerde legitimiert sei, könnten Rechtshilfemassnahmen in einem
Fall wie hier nicht auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüft werden, was
unhaltbar wäre.
2.2
Gemäss Art. 80h lit. b IRSG ist zur Beschwerde berechtigt, wer persönlich und
direkt von einer Rechtshilfemassnahme betroffen ist und ein schutzwürdiges
Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat.
Diese Bestimmung übernahm für den Bereich der internationalen Rechtshilfe in
Strafsachen die Regelung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gemäss Art. 103 lit.
a OG (BGE 126 II 258 E. 2d S. 259). Danach war zur Beschwerde berechtigt, wer
durch die angefochtene Verfügung berührt war und ein schutzwürdiges Interesse
an deren Aufhebung oder Änderung hatte. Die beiden Kriterien mussten nicht
kumulativ vorliegen, da sie das Gleiche verlangten und letztlich ineinander
aufgingen (BGE 133 V 188 E. 4.3.1 S. 192, mit Hinweisen; ULRICH ZIMMERLI UND
ANDERE, Grundlagen des öffentlichen Verfahrensrechts, 2004, S. 102 Rz. 3a;
REGINA KIENER, Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, in:
Pierre Tschannen [Hrsg.], Neue Bundesrechtspflege, 2007, S. 256). Nach in der
Literatur vertretener Auffassung verhält es sich ebenso in Bezug auf Art. 89
Abs. 1 BGG, der im Wesentlichen gleichfalls die Regelung von Art. 103 lit. a OG
übernimmt (KIENER a.a.O.; HEINZ AEMISEGGER, Der Beschwerdegang in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, in: Ehrenzeller/Schweizer [Hrsg.], Die
Reorganisation der Bundesrechtspflege - Neuerungen und Auswirkungen in der
Praxis, 2006, S. 151; Bernhard Waldmann, in: Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, 2008, Art. 89 BGG N. 10).
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist denn auch die
Beschwerdelegitimation jeder natürlichen oder juristischen Person zu bejahen,
die von einer Rechtshilfemassnahme unmittelbar berührt ist. Ein darüber hinaus
gehendes schutzwürdiges Interesse wird nicht verlangt (BGE 123 II 153 E. 2b S.
156). Das Bundesgericht bejaht insbesondere die Beschwerdelegitimation jener
Person, gegen die unmittelbar eine Zwangsmassnahme angeordnet wurde (BGE 123 II
153 E. 2b S. 157). Hinzuweisen ist ebenso auf Art. 9a lit. b IRSV. Danach gilt
bei Hausdurchsuchungen der Eigentümer oder der Mieter als persönlich und direkt
betroffen im Sinne von Art. 80h IRSG.
Die Beschwerdeführerin wurde mit der Hausdurchsuchung und der Beschlagnahme der
Ordner sowie der Festplatte unmittelbar einer Zwangsmassnahme unterworfen. Im
Lichte der angeführten Rechtsprechung und mit Blick auf Art. 9a lit. b IRSV ist
deshalb ihre Beschwerdebefugnis zu bejahen.
Das Bundesgericht hat sich im Übrigen bereits zur Rechtslage in einer
Konstellation wie hier geäussert. Im Fall, der dem Urteil 1A.154/1995 vom 27.
September 1995 (in: Rep 1995 S. 117) zugrunde lag, waren bei einem Spediteur
eingelagerte Waren beschlagnahmt worden. Das Bundesgericht erwog, der
Spediteur, der auch mit der vorläufigen Einlagerung und Verwahrung beauftragt
sei, sei in unmittelbarem Besitz der Ware, die Gegenstand der Zwangsmassnahme
bilde. Er sei damit von der Rechtshilfemassnahme unmittelbar betroffen und habe
deshalb ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung (E. 2b).
Auf diese Rechtsprechung zurückzukommen besteht kein Anlass.
Wie die Beschwerdeführerin im Übrigen zutreffend bemerkt, wäre, falls man der
Auffassung der Vorinstanz folgte, niemand zur Beschwerde berechtigt; denn die
Y.________ AG in Liq. als Hinterlegerin ist von der Rechtshilfemassnahme nicht
unmittelbar betroffen. In BGE 123 II 153 hat das Bundesgericht die
Beschwerdebefugnis des wirtschaftlich an einer juristischen Person Berechtigten
anerkannt, wenn die juristische Person inzwischen aufgelöst worden ist und
deshalb nicht mehr selber Beschwerde führen kann (E. 2c S. 157). Es wies
insbesondere darauf hin, dass dann, wenn man die Beschwerdelegitimation des
wirtschaftlich Berechtigten in dieser Konstellation verneinen wollte, sich
niemand gegen die Rechtshilfemassnahme wehren könnte (E. 2d S. 158). Auch im
vorliegenden Fall wäre es unhaltbar, wenn sich niemand gegen die
Rechtshilfemassnahme wehren könnte.

3.
3.1 Die Beschwerde ist danach gutzuheissen. Die Sache wird an die Vorinstanz
zurückgewiesen (Art. 107 Abs. 2 BGG). Diese wird die Beschwerdebefugnis zu
bejahen und - soweit die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind - auf die
Beschwerde einzutreten und sich mit den Vorbringen der Beschwerdeführerin in
der Sache zu befassen haben.

3.2 Die Beschwerde hatte von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung (Art. 103
Abs. 2 lit. c BGG). Über den entsprechenden Antrag brauchte daher nicht
befunden zu werden.

3.3 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66
Abs. 4 BGG). Die Eidgenossenschaft hat der Beschwerdeführerin eine
Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Bundesstrafgerichts, II.
Beschwerdekammer, vom 10. Juni 2008 aufgehoben und die Sache an dieses
zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Die Eidgenossenschaft (Zollverwaltung) hat der Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Eidgenössischen Zollverwaltung
EZV, dem Bundesstrafgericht, II. Beschwerdekammer, sowie dem Bundesamt für
Justiz schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. Januar 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Härri