Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.272/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_272/2008

Urteil vom 16. Januar 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Härri.

Parteien
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten
durch Rechtsanwalt Roger Wirz,

gegen

Y.________, Beschwerdegegner, vertreten
durch Rechtsanwältin Dorothee Jaun.

Gegenstand
Massnahmen nach kantonalem Gewaltschutzgesetz; Prozessentschädigung,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 15. Mai 2008
des Bezirksgerichts Bülach, Haftrichter.
Sachverhalt:

A.
X.________ ist die Ehefrau von Y.________. Sie haben einen gemeinsamen Sohn.
Zwischen den Eheleuten kam es zu erheblichen Spannungen.

B.
Mit Verfügung vom 9. Mai 2008 wies die Kantonspolizei in Anwendung des
Gewaltschutzgesetzes des Kantons Zürich vom 19. Juni 2006 (GSG; LS 351)
X.________ aus der ehelichen Wohnung weg. Überdies auferlegte ihr die
Kantonspolizei ein Rayonverbot (Wohn- und Arbeitsort des Ehemannes und
Kindergarten des Sohnes) und untersagte ihr, den Ehemann und Sohn zu
kontaktieren.

Diese Massnahmen waren auf die Dauer von 14 Tagen, d.h. bis zum 23. Mai 2008,
befristet. Die Kantonspolizei begründete sie damit, X.________ habe von
November 2007 bis zum 5. Mai 2008 den Ehemann und den Sohn wiederholt
geschlagen. Zudem habe sie dem Ehemann mit einem Messer in der Hand gedroht,
ihn umzubringen.

C.
Am 10. Mai 2008 ersuchte X.________ um gerichtliche Beurteilung der
kantonspolizeilichen Verfügung. Sie beantragte, die Schutzmassnahmen seien
umgehend aufzuheben; es sei ihr die unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen
und in der Person des unterzeichneten Anwalts ein unentgeltlicher
Rechtsvertreter zu bestellen.

Zum Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsvertretung führte sie
aus, sie sei wegen der Fernhaltemassnahmen zurzeit nicht in der Lage,
Unterlagen zu ihrer finanziellen Situation einzureichen. Sie beantragte daher,
dass sie dies - soweit erforderlich - nach Wegfall der Verfügung vom 9. Mai
2008 nachholen könne.

D.
Mit Verfügung vom 13. Mai 2008 forderte der Haftrichter des Bezirkes Bülach
X.________ unter anderem auf, ihm Unterlagen über ihre finanziellen
Verhältnisse einzureichen. Bei Säumnis werde aufgrund der Akten entschieden.

E.
Mit Verfügung vom 15. Mai 2008 hob der Haftrichter die von der Kantonspolizei
angeordneten Schutzmassnahmen auf (Ziff. 1). Er erhob keine Kosten (Ziff. 2).
X.________ sprach er keine Prozessentschädigung zu (Ziff. 3).

Der Haftrichter kam zum Schluss, von einer Gefährdung des Ehemannes und Sohnes
zum Zeitpunkt der Anordnung der Schutzmassnahmen am 9. Mai 2008 sei nicht
auszugehen. Der Ehemann habe im haftrichterlichen Verfahren keinen Antrag
gestellt. Damit könne nicht von einer unterliegenden Partei gesprochen werden.
Kosten seien deshalb keine zu erheben. Aus dem gleichen Grund könne der Ehemann
auch nicht zur Bezahlung einer Prozessentschädigung an X.________ verpflichtet
werden. Für eine Entschädigung aus der Staatskasse fehle die gesetzliche
Grundlage (§ 12 GSG), weshalb X.________ trotz Obsiegens keine
Prozessentschädigung zugesprochen werden könne.

F.
X.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, Ziffer 3 der Verfügung des Haftrichters vom 15. Mai 2008 sei
aufzuheben. Der Beschwerdeführerin sei für das Verfahren vor dem Haftrichter
eine angemessene Prozessentschädigung zuzusprechen.

G.
Der Haftrichter hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Y.________ hat sich vernehmen lassen. Er beantragt (S. 2) einleitend, die
Beschwerde sei abzuweisen. Er führt dann aber (S. 6 f. Ziff. 4) aus, falls das
Bundesgericht der Meinung sein sollte, die Beschwerdeführerin beantrage
sinngemäss, es sei ihr für das vorinstanzliche Verfahren ein unentgeltlicher
Rechtsbeistand beizugeben, verzichte er auf einen Antrag.

X.________ hat eine Replik eingereicht. Sie hält an ihren Anträgen fest.

H.
Das Bundesgericht hat diese Eingaben den Beteiligten je zur Kenntnisnahme
zugestellt.

Der Haftrichter hat in der Folge ausdrücklich auf eine Stellungnahme
verzichtet.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 82 lit. a BGG ist die Beschwerde gegeben gegen Entscheide in
Angelegenheiten des öffentlichen Rechts.

Das entscheidende Zuordnungskriterium liegt im Recht, das die jeweilige
Angelegenheit der Sache nach regelt (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur
Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4319). Das ist hier das
öffentliche Recht (BGE 134 I 140 E. 2). Die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist somit gegeben.

1.2 Bei der angefochtenen Verfügung handelt es sich um einen Endentscheid einer
letzten kantonalen Instanz (Art. 86 Abs. 1 lit. d i.V.m. Art. 130 Abs. 3, Art.
90 BGG). Die Beschwerde ist insoweit zulässig (vgl. BGE 134 I 140 E. 2).

1.3 Die Vorinstanz hat der Beschwerdeführerin keine Parteientschädigung
zugesprochen. Die Beschwerdeführerin ist insoweit durch den angefochtenen
Entscheid besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an dessen
Aufhebung oder Änderung. Sie ist daher nach Art. 89 Abs. 1 BGG zur Beschwerde
befugt.

1.4 Die weiteren Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, indem ihr die Vorinstanz keine
Entschädigung zugesprochen habe, habe diese Art. 29 Abs. 3 BV verletzt sowie
kantonales Recht (§ 12 Abs. 2 GSG) willkürlich angewandt und damit gegen Art. 9
BV verstossen. Werde der Beschwerdegegner nicht gemäss § 12 Abs. 2 GSG
verpflichtet, ihr Kosten und Umtriebe zu ersetzen, sei ihr Anspruch auf einen
unentgeltlichen Rechtsbeistand anzuerkennen. Die Vorinstanz sei in der
angefochtenen Verfügung auf ihren Antrag um Bestellung eines unentgeltlichen
Rechtsvertreters nicht eingegangen. Zudem habe ihr die Vorinstanz insoweit
keine Frist zur Nachreichung von Unterlagen über ihre finanziellen Verhältnisse
angesetzt.

2.2 Die Beschwerdeführerin macht insoweit eine formelle Rechtsverweigerung
geltend. Eine solche liegt vor, wenn eine Behörde auf eine ihr frist- und
formgerecht unterbreitete Sache nicht eintritt, obschon sie darüber entscheiden
müsste (BGE 134 I 229 E. 2.3, mit Hinweisen).
Die Beschwerdeführerin hat im Gesuch um gerichtliche Beurteilung vom 10. Mai
2008 ausdrücklich beantragt, es sei ihr ein unentgeltlicher Rechtsvertreter zu
bestellen. Die Vorinstanz hat darüber nicht befunden. Dazu hätte sie aber
Anlass gehabt, nachdem sie zum Schluss gekommen war, der Beschwerdegegner könne
nicht zur Zahlung einer Prozessentschädigung an die Beschwerdeführerin
verpflichtet werden und für eine Entschädigung aus der Staatskasse fehle nach §
12 GSG die gesetzliche Grundlage. § 12 GSG betrifft nicht die unentgeltliche
Prozessführung und Verbeiständung. Wäre das Gesuch um Beigabe eines
unentgeltlichen Rechtsvertreters gutzuheissen gewesen, wäre unter diesem Titel
eine Entschädigung auszurichten gewesen.

Indem die Vorinstanz das Gesuch der Beschwerdeführerin um Beigabe eines
unentgeltlichen Rechtsbeistandes mitsamt ihrem Antrag um Einräumung einer
Nachfrist zur allenfalls erforderlichen Einreichung von Unterlagen zu den
finanziellen Verhältnissen nicht behandelt hat, hat sie eine formelle
Rechtsverweigerung begangen und damit Art. 29 BV verletzt.

2.3 Die Beschwerde ist insoweit gutzuheissen und die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 BGG).

Ob die Vorinstanz kantonales Recht willkürlich angewandt habe, indem sie den
Beschwerdegegner nicht zur Zahlung einer Entschädigung an die
Beschwerdeführerin verpflichtet hat, kann hier offen bleiben. Sollte die
Vorinstanz bei der Neubeurteilung die Beigabe eines unentgeltlichen
Rechtsvertreters bewilligen und unter diesem Titel eine angemessene
Entschädigung ausrichten, stellte sich die genannte Willkürfrage nicht mehr.

3.
Anlass zum bundesgerichtlichen Verfahren und dem damit insbesondere für die
Parteien verbundenen Aufwand hat die Vorinstanz gegeben.

Dem Kanton werden keine Kosten auferlegt (Art. 66 Abs. 4 BGG).

Dagegen rechtfertigt es sich, ihn in Anwendung von Art. 68 Abs. 4 i.V.m. Art.
66 Abs. 3 BGG zur Bezahlung einer Entschädigung an den Vertreter der
Beschwerdeführerin zu verpflichten.

Wie dargelegt, hat der Beschwerdegegner auf einen Antrag ausdrücklich
verzichtet, soweit - was der Fall ist - das Bundesgericht zum Schluss kommen
sollte, die Beschwerdeführerin beantrage die Beigabe eines unentgeltlichen
Rechtsbeistandes für das haftrichterliche Verfahren. Der Beschwerdegegner
unterliegt somit nicht. Auch sein Aufwand im bundesgerichtlichen Verfahren ist
letztlich zurückzuführen auf den Rechtsfehler der Vorinstanz. Es rechtfertigt
sich daher, den Kanton in Anwendung von Art. 68 Abs. 4 i.V.m. Art. 66 Abs. 3
BGG zu verpflichten, auch der Vertreterin des Beschwerdegegners eine
Entschädigung zu bezahlen.

Die Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das
bundesgerichtliche Verfahren sind damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, Ziffer 3 der Verfügung des Haftrichters des
Bezirkes Bülach vom 15. Mai 2008 aufgehoben und die Sache an diesen
zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat dem Vertreter der Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt Roger
Wirz, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.--
zu bezahlen; der Vertreterin des Beschwerdegegners, Rechtsanwältin Dorothee
Jaun, eine solche von Fr. 1'500.--.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bezirksgericht Bülach, Haftrichter,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Januar 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Härri