Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.271/2008
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_271/2008

Urteil vom 8. Januar 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb, Fonjallaz, Eusebio,
Gerichtsschreiber Härri.

Parteien
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Glarus, Mühlestrasse 17,
Postfach, 8762 Schwanden, Beschwerdeführer,

gegen

X.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Paul Zimmermann.

Gegenstand
Entzug des Führerausweises,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 21. Mai 2008 des Verwaltungsgerichts des
Kantons Glarus, I. Kammer.
Sachverhalt:

A.
X.________ ist Lastwagenchauffeur. Er besitzt den Führerausweis der Kategorie C
seit 1967. Bisher wurde keine strassenverkehrsrechtliche Administrativmassnahme
gegen ihn verfügt.

Am 26. April 2006, um ca. 13.00 Uhr, fuhr der Lenker eines Personenwagens von
Netstal kommend in Richtung Oberurnen. Auf der Hauptstrasse in Näfels bremste
er vor dem Fussgängerstreifen auf der Höhe einer Garage ab, da eine
Fussgängerin die Strasse von links nach rechts überqueren wollte. In der Folge
prallte der ihm nachfolgende X.________ mit seinem Lastwagen in das Heck des
noch leicht rollenden Personenwagens. An den Fahrzeugen entstand ein
Sachschaden von insgesamt ca. Fr. 2'000.--. Personen wurden keine verletzt.

Mit Strafverfügung vom 7. Juli 2006 büsste der Einzelrichter in Strafsachen des
Kantons Glarus X.________ in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG mit Fr. 200.--.
Die Verfügung ist rechtskräftig.

B.
Am 6. November 2007 entzog das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des
Kantons Glarus (im Folgenden: Strassenverkehrsamt) X.________ den Führerausweis
gemäss Art. 16b Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a SVG für die Dauer eines Monats.

Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des
Kantons Glarus am 21. Mai 2008 gut. Es hob den Führerausweisentzug auf und
verwarnte X.________ in Anwendung von Art. 16a Abs. 3 SVG.

C.
Das Strassenverkehrsamt führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei
aufzuheben und X.________ der Führerausweis für die Dauer von einem Monat zu
entziehen.

D.
Das Verwaltungsgericht und X.________ beantragen unter Hinweis auf die
Begründung des angefochtenen Entscheids die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) beantragt die Gutheissung der Beschwerde.
Das Bundesgericht stellte diese Vernehmlassungen den Beteiligten zur
Kenntnisnahme zu.

Erwägungen:

1.
Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 82 lit. a BGG die Beschwerde
in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegeben.

Das Strassenverkehrsamt ist nach Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG i.V.m. Art. 24 Abs.
2 lit. a SVG zur Beschwerde berechtigt.

Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf
die Beschwerde ist einzutreten.

2.
2.1 Das Strassenverkehrsamt bringt vor, weder die vom Beschwerdegegner
hervorgerufene Gefährdung der Sicherheit anderer noch sein Verschulden seien
gering. Damit könne kein leichter Fall nach Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG mehr
angenommen werden. Vielmehr liege ein mittelschwerer Fall nach Art. 16b Abs. 1
lit. a SVG vor. Der Führerausweis sei daher dem Beschwerdegegner gemäss Art.
16b Abs. 2 lit. a SVG für mindestens einen Monat zu entziehen.
2.2
2.2.1 Das Gesetz unterscheidet zwischen der leichten, mittelschweren und
schweren Widerhandlung (Art. 16a-c SVG).

Gemäss Art. 16a SVG begeht eine leichte Widerhandlung, wer durch Verletzung von
Verkehrsregeln eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft und
ihn dabei nur ein leichtes Verschulden trifft (Abs. 1 lit. a). Die fehlbare
Person wird verwarnt, wenn in den vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis nicht
entzogen war und keine andere Administrativmassnahme verfügt wurde (Abs. 3).
Gemäss Art. 16b SVG begeht eine mittelschwere Widerhandlung, wer durch
Verletzung von Verkehrsregeln eine Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft
oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer mittelschweren Widerhandlung
wird der Führerausweis für mindestens einen Monat entzogen (Abs. 2 lit. a).
Gemäss Art. 16c SVG begeht eine schwere Widerhandlung, wer durch grobe
Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer
hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer schweren
Widerhandlung wird der Führerausweis für mindestens drei Monate entzogen (Abs.
2 lit. a).
2.2.2 Die mittelschwere Widerhandlung nach Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG stellt
einen Auffangtatbestand dar. Eine mittelschwere Widerhandlung liegt vor, wenn
nicht alle privilegierenden Elemente einer leichten Widerhandlung nach Art. 16a
Abs. 1 lit. a SVG und nicht alle qualifizierenden Elemente einer schweren
Widerhandlung nach Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG gegeben sind (Urteil 6A.16/2006
vom 6. April 2006 E. 2.1.1, in: JdT 2006 I S. 442; Botschaft vom 31. März 1999
zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes, BBl 1999 4487).
2.2.3 Gemäss Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG setzt die Annahme einer leichten
Widerhandlung voraus, dass der Lenker durch Verletzung von Verkehrsregeln eine
geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorgerufen hat und ihn dabei nur
ein leichtes Verschulden trifft. Nach der Rechtsprechung müssen eine geringe
Gefahr und ein leichtes Verschulden kumulativ gegeben sein (Urteile 1C_3/2008
vom 18. Juli 2008 E. 5.1; 1C_75/2007 vom 13. September 2007 E. 3.1; 6A.89/2006
vom 19. Juli 2007 E. 2.3; vgl. ebenso BGE 133 II 58 E. 5.5 S. 63). Diese
Ansicht wird im Schrifttum geteilt (CÉDRIC MIZEL, Les nouvelles dispositions
légales sur le retrait du permis de conduire, RDAF 2004 S. 388 N. 45).

Die Vorinstanz vertritt unter Hinweis auf einen Entscheid des Kassationshofes
aus dem Jahr 1999 (BGE 125 II 561) eine andere Auffassung. Danach ist selbst
bei einer grossen Verkehrsgefährdung die Annahme eines leichten Falles und
damit eine Verwarnung möglich, wenn den Lenker ein leichtes Verschulden trifft
und er über einen langjährigen ungetrübten automobilistischen Leumund verfügt
(E. 2 S. 565 ff.). Dieser Entscheid ist überholt. Die darin gegebene Auslegung
stützt sich auf aArt. 31 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung
von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51). Diese
Bestimmung erwähnte lediglich das Verschulden und den automobilistischen
Leumund als wesentliche Elemente zur Beurteilung des leichten Falles und
enthielt keine Anhaltspunkte, wonach die Schwere der Gefährdung als
selbständiges Beurteilungsmerkmal herangezogen werden sollte (E. 2a S. 566).
Art. 31 VZV wurde mit der am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Revision des
Strassenverkehrsrechts geändert und betrifft heute die Informationspflicht, ist
also im vorliegenden Zusammenhang nicht mehr von Bedeutung. Die Voraussetzungen
einer leichten Widerhandlung, bei der eine blosse Verwarnung möglich ist,
umschreibt nunmehr im Einzelnen Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG. Danach stellt die
Gefährdung der Sicherheit anderer einen wesentlichen und eigenständigen
Gesichtspunkt dar. Die Auffassung der Vorinstanz widerspricht dem klaren
Wortlaut von Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG. Nach der Rechtsprechung darf die
Auslegung vom klaren Wortlaut eines Rechtssatzes nur abweichen, wenn triftige
Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt
(BGE 131 II 217 E. 2.3 S. 221, mit Hinweisen). Solche Gründe nennt die
Vorinstanz nicht und sind nicht ersichtlich. Bei Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG
handelt es sich um kein gesetzgeberisches Versehen. Wie in der Botschaft zur
Änderung des Strassenverkehrsgesetzes vom 31. März 1999 (a.a.O. 4489)
ausgeführt wird, ist eine mittelschwere Widerhandlung nach Art. 16b SVG
gegeben, wenn das Verschulden gross, die Gefährdung aber gering oder umgekehrt
das Verschulden gering und die Gefährdung gross ist. Der Gesetzgeber hat somit
bewusst dem Gesichtspunkt der Verkehrsgefährdung ein höheres Gewicht
beigemessen (vgl. dazu Cédric Mizel, De la nature renforcée par le nouveau
droit de mesure préventive et éducative du retrait admonitoire du permis de
conduire, AJP 2007 S. 1361 Ziff. VI. und S. 1362 f. Ziff. 2 f.). Er hat bei der
Revision das Recht des Warnungsentzugs von strafrechtlichen Erwägungen stärker
verselbständigt und im Hinblick auf die Erhöhung der Verkehrssicherheit und
damit die weitere Senkung der Zahl der Toten und Verletzten im Strassenverkehr
- teilweise massiv - verschärft (BGE 128 II 173 E. 3c S. 177, mit Hinweis);
dies nicht nur gegenüber Rückfälligen, sondern auch Ersttätern (BGE 133 II 331
E. 4.3 S. 336 f.). Daran ist das Bundesgericht gebunden (Art. 190 BV; BGE 132
II 234 E. 3.2 S. 238/239).

2.3 Der Führer muss das Fahrzeug ständig so beherrschen, dass er seinen
Vorsichtspflichten nachkommen kann (Art. 31 Abs. 1 SVG). Er muss seine
Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden (Art. 3 Abs. 1 der
Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 [VRV; SR 741.11]). Er hat
gegenüber allen Strassenbenützern einen ausreichenden Abstand zu wahren,
namentlich beim Hintereinanderfahren (Art. 34 Abs. 4 SVG). Auch bei
überraschendem Bremsen des voranfahrenden Fahrzeugs muss er rechtzeitig halten
können (Art. 12 Abs. 1 VRV).

Der Beschwerdegegner hat diese Verkehrsregeln unstreitig verletzt. Bei der
polizeilichen Befragung gab er an, vor ihm sei ein Personenwagen gefahren, der
kurz vor der Garage nach rechts in eine Seitenstrasse abgebogen sei. Er habe
diesem Personenwagen nachgeschaut. Deshalb habe er nicht sofort bemerkt, dass
ein anderer Personenwagen vor dem Fussgängerstreifen abgebremst habe. Als er
wieder geradeaus auf die Strasse geschaut habe, habe er sofort eine
Vollbremsung eingeleitet. Er habe eine leichte Kollision jedoch nicht mehr
verhindern können. Seiner Schuld sei er sich bewusst.

Wie das Strassenverkehrsamt zutreffend darlegt, stellt der vom Beschwerdegegner
gelenkte Lastwagen wegen des grossen Betriebsgewichts und der senkrechten
Fahrzeugfront eine erhöhte Gefährdung dar. Die Kollision mit einem schwächeren
Verkehrsteilnehmer geht aufgrund der physikalischen Gesetze zu dessen Ungunsten
aus. Zwar wurde bei der hier zu beurteilenden Auffahrkollision niemand
verletzt. Der Beschwerdegegner ist jedoch in den vor ihm abbremsenden
Personenwagen geprallt. Damit hat er dessen Lenker konkret gefährdet. Überdies
hat er die Fussgängerin, die den Fussgängerstreifen überqueren wollte,
zumindest abstrakt gefährdet. Auffahrunfälle können insbesondere bei den
Insassen des voranfahrenden Fahrzeugs zu schweren Verletzungen führen. Das gilt
namentlich dann, wenn es sich beim hinteren Fahrzeug um einen Lastwagen
handelt. Eine typische Verletzung bei Auffahrunfällen stellt ein
Schleudertrauma der Halswirbelsäule dar (vgl. etwa BGE 134 III 489; 130 V 35;
127 V 165). Dieses kann gravierende gesundheitliche Folgen haben. Angesichts
dessen kann die vom Beschwerdegegner geschaffene Gefahr für die Sicherheit
anderer nicht mehr als leicht eingestuft werden. Die Annahme einer leichten
Widerhandlung gemäss Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG ist deshalb ausgeschlossen.

Ob, wie das Strassenverkehrsamt geltend macht, auch das Verschulden des
Beschwerdegegners nicht mehr als leicht zu beurteilen gewesen wäre, kann offen
bleiben.

2.4 Nach dem Gesagten ist hier eine mittelschwere Widerhandlung gemäss Art. 16b
Abs. 1 lit. a SVG anzunehmen. Auf eine solche Widerhandlung erkannte das
Bundesgericht auch im Urteil 1C_75/2007 vom 13. September 2007, das einen
weitgehend vergleichbaren Auffahrunfall betraf (E. 3.2).

Die Bejahung einer mittelschweren Widerhandlung steht nicht in Widerspruch zur
Strafverfügung. Der Strafrichter hat den Beschwerdegegner in Anwendung von Art.
90 Ziff. 1 SVG gebüsst. Diese Bestimmung umfasst die leichte und die
mittelschwere Widerhandlung (BGE 128 II 139 E. 2c S. 143; Urteil 6A.30/2002 vom
30. Juli 2002 E. 1.2).

Der Führerausweis ist dem Beschwerdegegner danach gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. a
SVG für mindestens einen Monat zu entziehen. Diese Mindestentzugsdauer darf
gemäss Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG auch bei einem Berufschauffeur nicht
unterschritten werden (BGE 132 II 234 E. 2 S. 235 ff.).

Das Strassenverkehrsamt beantragt, den Führerausweis für die Mindestdauer zu
entziehen. Darüber darf das Bundesgericht nicht hinausgehen (Art. 107 Abs. 1
BGG).

Die Sache ist somit spruchreif und das Bundesgericht kann selber entscheiden
(Art. 107 Abs. 2 BGG). Dem Beschwerdegegner wird der Führerausweis für die
Dauer eines Monats entzogen.

3.
Der Beschwerdegegner unterliegt. Er hat die Bundesrechtsverletzung durch die
Vorinstanz jedoch nicht zu vertreten. Deshalb werden ihm keine Kosten auferlegt
(Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG). Anspruch auf eine Parteientschädigung für das
bundesgerichtliche Verfahren hat er nicht (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Die Akten sind der Vorinstanz zur Neuregelung der Kosten- und
Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens zu überweisen (vgl. Art. 67 und
Art. 68 Abs. 5 BGG; Urteil 6A.19/2006 vom 16. Mai 2006 E. 3; Thomas Geiser, in:
Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2008, Art. 67 BGG N. 1 und 5 sowie
Art. 68 BGG N. 24 f.).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Glarus vom 21. Mai 2008 aufgehoben. Dem Beschwerdegegner wird der
Führerausweis für die Dauer von einem Monat entzogen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Die Akten werden dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus zur Neuregelung der
Kosten- und Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens überwiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus, I.
Kammer, und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. Januar 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Härri