Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.258/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_258/2008 /zga

Urteil vom 20. November 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Forster.

Parteien
Fa. Y.________,
Fa. Z.________,
Beschwerdeführerinnen,
beide vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Hofmann,

gegen

Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, Präsident der 1. Kammer,

Gegenstand
Einsicht in Strafurteile,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 5. Mai 2008
des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, Präsident der 1. Kammer.

Sachverhalt:

A.
Mit Urteil vom 29. Oktober 2004 sprach das Bezirksgericht Lenzburg X.________
der mehrfachen ungetreuen Geschäftsbesorgung, der mehrfachen Urkundenfälschung,
der mehrfachen Erschleichung einer Falschbeurkundung und der Misswirtschaft
schuldig. Es verurteilte ihn dafür zu einer Zuchthausstrafe von 2 1/2 Jahren.
Die adhäsionsweise geltend gemachten Schadenersatzansprüche der
Strafanzeigerinnen und Zivilklägerinnen, Fa. Y.________ und Fa. Z.________,
wurden auf den Zivilweg verwiesen.

B.
Eine vom Verurteilten am 31. Januar 2005 gegen das erstinstanzliche Strafurteil
erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Aargau (1. Strafkammer) mit
Entscheid vom 18. August 2005 ab. In seinem Entscheid erwog das Obergericht,
die beiden (zur Berufungsantwort eingeladenen) Strafanzeigerinnen hätten gegen
die im erstinstanzlichen Entscheid erfolgte Verweisung ihrer
Schadenersatzansprüche auf den Zivilweg keine selbständige Berufung erhoben,
weshalb ihnen keine Parteistellung mehr zukomme.

C.
Eine vom Verurteilten gegen den Berufungsentscheid vom 18. August 2005 erhobene
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde hiess das Bundesgericht, Kassationshof,
mit Urteil vom 26. Juli 2006 teilweise gut. Es hob den Berufungsentscheid auf
und wies die Strafsache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an das
Obergericht zurück (Verfahren 6S.41/2006). Mit rechtskräftigem Erkenntnis vom
19. Oktober 2006 hiess das Obergericht des Kantons Aargau (Strafgericht, 1.
Kammer) die Berufung teilweise gut. Es sprach den Angeklagten der mehrfachen
ungetreuen Geschäftsbesorgung und der Misswirtschaft schuldig; von den
restlichen Vorwürfen sprach es ihn frei. In den übrigen Streitpunkten wies das
Obergericht die Berufung ab.

D.
Am 29. April 2008 ersuchten die Strafanzeigerinnen um Zustellung einer
"vollständigen, ungekürzten und nicht anonymisierten Kopie" der
obergerichtlichen Entscheide vom 18. August 2005 und "10." (recte: 19.) Oktober
2006. Mit Verfügung vom 5. Mai 2008 bewilligte das Obergericht (Präsident der
1. Kammer des Strafgerichtes) die Herausgabe der fraglichen Entscheide in
gekürzter Fassung.

E.
Gegen die Verfügung vom 5. Mai 2008 gelangten die Strafanzeigerinnen mit
Beschwerde vom 5. Juni 2008 an das Bundesgericht. Sie beantragen die Aufhebung
des angefochtenen Entscheides und Einsicht in die vollständigen und ungekürzten
Urteile des Obergerichtes vom 18. August 2005 und 19. Oktober 2006. Die
Vorinstanz hat am 25. Juni 2008 auf eine Vernehmlassung ausdrücklich
verzichtet.

Erwägungen:

1.
Gegenstand der Beschwerde bildet keine prozessleitende Zwischenverfügung
(betreffend Akteneinsicht) im Rahmen eines hängigen Strafverfahrens.
Unbestrittenermassen haben die Beschwerdeführerinnen im Zivilpunkt auf eine
Berufung gegen das erstinstanzliche Strafurteil verzichtet und ist ihre
Parteistellung (nach dem Urteil des Bezirksgerichtes) dahingefallen. Sie
verlangen als Strafanzeigerinnen vollständige Einsicht in die (den Beanzeigten
betreffenden) Berufungsentscheide vom 18. August 2005 bzw. 19. Oktober 2006.

Angefochten ist ein kantonaler Justizverwaltungsakt, der sich auf öffentliches
Recht stützt (vgl. Art. 82 lit. a BGG). Darin wird ein selbstständiges Gesuch
von Strafanzeigern um vollständige Einsicht in kantonale Strafurteile teilweise
gutgeheissen und im übrigen definitiv abgewiesen. Es handelt sich um einen
letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2
i.V.m. Art. 90 BGG; vgl. nicht amtlich publ. E. 1 des BGE 1C_302/2007 vom 2.
April 2008). Die Eintretensvoraussetzungen von Art. 82 ff. BGG sind erfüllt.

2.
Die den Beschwerdeführerinnen zugestellten Urteilsauszüge enthalten die
Erwägungen des Obergerichtes zu verfahrensrechtlichen Fragen
(Prozessgeschichte, Parteien, Beweiswürdigung, Beweisanträge usw.) und zu den
materiellstrafrechtlichen Streitpunkten der Tatbestandsmässigkeit (bzw. der
übrigen Strafbarkeitsvoraussetzungen) sowie das Urteilsdispositiv zum
Schuldspruch. Die Erwägungen (und das Dispositiv) zur Strafzumessung und
rechtskräftigen Sanktion sowie zu den Kosten des Strafverfahrens wurden
hingegen von der Urteilseinsicht ausgenommen. Die Vorinstanz begründet diese
Beschränkung (mit Hinweis auf BGE 129 I 249 E. 3 S. 253 f.) wie folgt: "Das
Akteneinsichtsrecht findet vorliegend seine Grenzen an persönlichen Interessen
des Angeklagten (Persönlichkeitsrecht), so dass ihm Genüge getan ist, wenn
hinsichtlich beider Urteile lediglich Einsicht in die Erwägungen zum
Schuldpunkt, nicht jedoch zur Strafzumessung bzw. zu den Kosten gewährt wird".

3.
Die Beschwerdeführerinnen machen geltend, der rechtskräftig Verurteilte sei im
Frühling 2008 mit diversen Schreiben und Telefonaten "an Exponenten der
Beschwerdeführerinnen" gelangt und habe behauptet, die von ihnen erhobene
Strafanzeige sei von den Gerichten "als ungerechtfertigt, grobfahrlässig und
somit falsch beschuldigend abgeschrieben" worden. Gestützt darauf drohe er den
Beschwerdeführerinnen seinerseits mit Strafanzeige und verlange
Wiedergutmachung für den ihm angeblich verursachten Schaden. "Nur die
Einsichtnahme auch in die Erwägungen zur Strafzumessung" ermögliche es ihnen,
die Stichhaltigkeit dieser Vorwürfe zu überprüfen und sich dagegen "angemessen
zur Wehr zu setzen". Die Vorinstanz berufe sich (mit Hinweis auf angebliche
persönliche Interessen des Verurteilten) zu Unrecht auf BGE 129 I 249. Der
dortige Entscheid betreffe kein Strafverfahren, sondern eine
Administrativuntersuchung. Für die betreffende Akteneinsicht gälten die
restriktiveren Kriterien von Art. 29 Abs. 2 BV. Als Strafanzeigerinnen hätten
sie (gestützt auf Art. 30 Abs. 3 BV) Anspruch auf Einsichtnahme in das
vollständige, ungekürzte und nicht anonymisierte Strafurteil. Ein persönliches
Interesse des Verurteilten an einer Beschränkung der Urteilseinsicht bestehe
nicht. Der von ihm (in dessen Briefen und Telefonaten) angeschlagene "rüde Ton"
lasse auch keinen Raum für die Berücksichtigung solcher Interessen. Ebenso
wenig komme eine allfällige zeitliche Limitierung des Einsichtsrechtes in
Frage. Die Verweigerung der vollständigen Einsicht in die Urteile verstosse
gegen Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II.

4.
Nach dem in Art. 30 Abs. 3 BV gewährleisteten Öffentlichkeitsgrundsatz sind
Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung öffentlich. Art. 6 Ziff. 1 EMRK
schreibt vor, dass das Urteil über eine strafrechtliche Anklage öffentlich zu
verkünden ist. Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung kann unter den in der
Konventionsbestimmung genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden. Art. 14
Abs. 1 UNO-Pakt II bestimmt, dass jedes Urteil in einer Straf- oder Zivilsache
öffentlich zu verkünden ist, sofern nicht die Interessen Jugendlicher dem
entgegenstehen oder das Verfahren Ehestreitigkeiten oder die Vormundschaft über
Kinder betrifft.

4.1 Nach der Praxis des Bundesgerichtes ist unter dem Gesichtspunkt des
Öffentlichkeitsgrundsatzes zwischen der förmlichen Eröffnung an die Parteien
und der öffentlichen Verkündung des Straferkenntnisses zu unterscheiden.
Strafanzeigern, die im Strafverfahren keine Parteirechte ausgeübt haben, müssen
Straferkenntnisse nicht förmlich eröffnet werden (BGE 124 IV 234 E. 2a-c S.
237). Der Anspruch auf öffentliche Urteilsverkündung bedeutet eine Absage an
jede Form geheimer Kabinettsjustiz. Die Kontrolle durch die Öffentlichkeit soll
nicht nur eine korrekte und gesetzmässige Behandlung der Verfahrensbeteiligten
durch die Strafjustiz gewährleisten. Die allgemeine Öffentlichkeit soll darüber
hinaus Kenntnis erhalten können, wie das Recht verwaltet und wie die
Rechtspflege ausgeübt wird. Der Öffentlichkeitsgrundsatz sorgt damit auch für
Transparenz in der Rechtspflege, die eine demokratische Kontrolle durch das
Volk erst ermöglicht und als wesentliches Element des Rechts auf ein faires
Verfahren zu den Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaates gehört (BGE 124
IV 234 E. 3b S. 238; zur amtlichen Publikation bestimmter BGE 1C_302/ 2007 vom
2. April 2008 E. 5.1, je mit Hinweisen). Der entsprechende Informationsanspruch
steht daher nicht nur den Parteien des Strafverfahrens zu, sondern
grundsätzlich auch der interessierten Öffentlichkeit. Zwar verlangt das
Bundesgericht, dass die Person, welche Einsicht in Strafverfügungen und
Strafurteile verlangt, ein berechtigtes Interesse darlegt. Für behördliche
Einschränkungen des Einsichtsrechtes sind jedoch strenge Massstäbe anzulegen.
Es genügt deshalb, wenn der Gesuchsteller ein ernsthaftes Interesse an der
Kenntnisnahme glaubhaft macht. Ein solches ist für den Strafanzeiger, der
Einsicht in eine rechtskräftige Strafverfügung verlangt, grundsätzlich zu
bejahen (BGE 124 IV 234 E. 3c-d S. 239 f. mit Hinweisen; BGE 1C_302/2007 E.
5.1).

4.2 Aus Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK ergibt sich allerdings kein
pauschaler und unbeschränkter Anspruch von nicht verfahrensbeteiligten Dritten,
in Straferkenntnisse Einsicht zu nehmen. Art. 30 BV bezeichnet als
Grundrechtsträger jene Personen, "deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren
beurteilt werden muss". Auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK schützt primär den Angeklagten
und die übrigen Parteien des Strafverfahrens (insbesondere allfällige
Geschädigte mit Parteistellung). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes
ist der rechtsstaatlichen Funktion und dem Schutzbereich des
Öffentlichkeitsgrundsatzes jedoch ausreichend Rechnung zu tragen. Daraus folgt
ein Informationsanspruch und Einsichtsrecht, sofern der Gesuchsteller ein
schutzwürdiges Informationsinteresse nachweisen kann und keine überwiegenden
öffentlichen oder privaten Interessen der beantragten Einsichtnahme
entgegenstehen. Dabei ist namentlich besonderen Geheimhaltungsinteressen der
Justizbehörden oder von mitbetroffenen Dritten Rechnung zu tragen.
Einsichtsgesuche dürfen das gute Funktionieren der Strafjustiz nicht gefährden
und finden eine Schranke auch am Rechtsmissbrauchsverbot. Bei entgegenstehenden
privaten oder öffentlichen Interessen ist zu prüfen, ob diesen durch Kürzung
oder Anonymisierung ausreichend Rechnung getragen werden kann (BGE 124 IV 234
E. 3c S. 239; BGE 1C_302/2007 E. 6.3, 6.5-6.6 mit Hinweisen).

5.
Die Beschwerdeführerinnen begründen ihr schutzwürdiges Interesse an einer
vollständigen, ungekürzten Urteilseinsicht mit dem Anliegen, sie wollten die
unzutreffende Behauptung des Verurteilten widerlegen, diesen ungerechtfertigt
angezeigt zu haben. Nur die Einsichtnahme "auch in die Erwägungen zur
Strafzumessung" ermögliche es ihnen, die Stichhaltigkeit dieses Vorwurfes zu
überprüfen und sich dagegen angemessen zur Wehr zu setzen.

Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden: Den Beschwerdeführerinnen wurden
Auszüge aus dem rechtskräftigen Strafurteil vom 19. Oktober 2006 zugestellt. In
den betreffenden Erwägungen (und dem zugehörigen Dispositiv) wird die
Strafbarkeit des Beanzeigten (Tatbestandsmässigkeit und Schuldspruch
hinsichtlich mehrfache ungetreue Geschäftsbesorgung und Misswirtschaft)
ausdrücklich festgestellt und begründet. Um dem fraglichen Vorwurf wirksam zu
begegnen, genügt es, dass die Beschwerdeführerinnen darauf hinweisen. Die
geltend gemachte (falsche) Behauptung des Beanzeigten, das Bundesgericht habe
das Strafverfahren "abgeschrieben", liesse sich zudem mit Hinweis auf das
betreffende (auf Internet publizierte) Bundesgerichtsurteil (6S.41/2006 vom 26.
Juli 2006) widerlegen, auf welches sich die Beschwerdeführerinnen im Übrigen
selbst berufen und das nicht Gegenstand des angefochtenen Entscheides bildet.
Im angefochtenen Einsichtsentscheid wird auch ihr schutzwürdiges Interesse an
den (ihnen ebenfalls zugänglich gemachten) Erwägungen des früheren
obergerichtlichen Urteils vom 18. August 2005 bejaht. Auf diese Erwägungen
wurde im rechtskräftig gewordenen Urteil (vom 19. Oktober 2006) teilweise
verwiesen (insbesondere zur Frage der dahingefallenen Parteistellung der
Beschwerdeführerinnen).

Über das Gesagte hinaus legen die Beschwerdeführerinnen kein eigenes
schutzwürdiges Interesse daran dar, auch von den Erwägungen (und vom
Dispositiv) betreffend Strafzumessung, Sanktion und Kosten Kenntnis zu
erhalten. Wie sich aus den Akten ergibt, wurden sie in den Strafurteilen nicht
mit Kosten belastet. Es ist nicht ersichtlich und wird auch von den
Beschwerdeführerinnen nicht erläutert, inwiefern ihre finanziellen Interessen
als (nicht kostenbelastete) Strafanzeigerinnen oder als Parteien in einem
allfälligen separaten Zivilprozess von der Art und Höhe der strafrechtlichen
Sanktion oder von der Kostenverlegung im Strafverfahren berührt wären. Dass die
Vorinstanz im vorliegenden Fall auch die Persönlichkeitsrechte des
rechtskräftig Verurteilten angemessen mitzuberücksichtigte, ist im Lichte der
dargelegten Praxis grundrechtlich nicht zu beanstanden. Soweit sie kein
schutzwürdiges Informationsinteresse darlegen können, haben Strafanzeiger
grundsätzlich keinen Verfassungsanspruch auf Mitteilung von im Strafverfahren
ermittelten Detailinformationen über die persönlichen (insbesondere
finanziellen) Verhältnisse von Verurteilten.

6.
Die Beschwerde ist demnach abzuweisen.

Dem Verfahrensausgang entsprechend, sind die Gerichtskosten den
Beschwerdeführerinnen aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 und 5 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden den Beschwerdeführerinnen auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführerinnen und dem Obergericht des Kantons
Aargau, Strafgericht, Präsident der 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. November 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Forster