Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.16/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_16/2008 /fun

Urteil vom 3. September 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Fonjallaz, Eusebio,
Gerichtsschreiber Forster.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jakob Rhyner,

gegen

Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen, Abteilung
Personenzulassung, Oberer Graben 32, 9001 St. Gallen.

Gegenstand
SVG, Sicherungsentzug,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 10. Dezember 2007 der
Verwaltungsrekurskommission des Kantons
St. Gallen, Abteilung IV.

Sachverhalt:

A.
Am 7. Oktober 2004 lenkte X.________ in Buchs/SG seinen Personenwagen in
angetrunkenem Zustand (Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,84
Gewichtspromille), weshalb ihm der Führerausweis für zwei Monate entzogen
wurde. Am 14. November 2006 stellte die Polizei anlässlich einer
Verkehrskontrolle in Werdenberg Alkoholgeruch bei demselben Lenker fest; der
Atemlufttest fiel positiv aus. Eine vom Untersuchungsrichter angeordnete
Blutprobe ergab eine erneute Alkoholisierung von mindestens 1,76 Promille,
worauf dem Lenker der Führerausweis auf der Stelle abgenommen wurde.

B.
Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen eröffnete
gegen X.________ ein Verfahren zur Abklärung der Fahreignung. Gestützt auf eine
Zwischenverfügung des Strassenverkehrsamtes vom 19. Dezember 2006 erfolgte am
Institut für Rechtsmedizin des Kantonsspitals St. Gallen (IRM) eine
verkehrsmedizinische Exploration des Lenkers. Das Gutachten vom 26. Februar
2007 (mit Ergänzung vom 18. Juli 2007) stellte einen Alkoholmissbrauch mit
Suchtgefährdung fest, weshalb zu erwarten sei, dass der Explorand (mehr als
jede andere Person) gefährdet sei, erneut ein Motorfahrzeug in alkoholisiertem
Zustand zu lenken. Seine Fahreignung könne daher aus verkehrsmedizinischer
Sicht derzeit nicht bejaht werden.

C.
Mit Verfügung vom 9. August 2007 entzog das Strassenverkehrsamt X.________ den
Führerausweis (gestützt auf Art. 16d Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 17 Abs. 3 SVG)
auf unbestimmte Zeit, bei einer Sperrfrist von zwölf Monaten. Als Voraussetzung
für eine Aufhebung des Sicherungsentzuges verlangte die Administrativbehörde
die Einhaltung einer mindestens 12 Monate dauernden ärztlich kontrollierten und
fachtherapeutisch betreuten Alkoholabstinenz, die (im Rahmen der
verkehrsmedizinischen Neubeurteilung) mit einer Haaranalyse abzuschliessen sei.
Einen dagegen erhobenen Rekurs behandelte die Verwaltungsrekurskommission des
Kantons St. Gallen, Abteilung IV, am 10. Dezember 2007 abschlägig.

D.
Gegen den Entscheid der Verwaltungsrekurskommission vom 10. Dezember 2007
gelangte X.________ mit Beschwerde vom 11. Januar 2008 an das Bundesgericht. Er
beantragt zur Hauptsache die Aufhebung des angefochtenen Entscheides.
Die Verwaltungsrekurskommission beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Strassen schliesst in seiner Stellungnahme vom 11. Februar 2008
auf Gutheissung der Beschwerde und Rückweisung der Streitsache zur
Neubeurteilung. Das kantonale Strassenverkehrsamt übermittelte am 3. März 2008
(im Sinne einer Vernehmlassung zur Eingabe des Bundesamtes) eine Stellungnahme
des IRM vom 29. Februar 2008.

Der Beschwerdeführer replizierte am 5. bzw. 14. März 2008. Mit Schreiben vom 9.
Juni 2008 meldete der Beschwerdeführer (mit Hinweis auf ein Schreiben vom 3.
Juni 2008 des Schweizer Paraplegiker-Zentrums, Nottwil), dass er am 18. April
2008 schwer verunfallt sei. Am 13. August 2008 trat das Strassenverkehrsamt auf
ein (sinngemäss erhobenes) Wiedererwägungsgesuch nicht ein und verwies auf das
hängige Verfahren vor Bundesgericht. Mit Eingabe vom 20. August 2008 reichte
der Beschwerdeführer entsprechende Akten ein.

Erwägungen:

1.
Die Sachurteilsvoraussetzungen von Art. 82 ff. BGG sind erfüllt. Mit der
Beschwerde kann insbesondere die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art.
95 lit. a BGG).

1.1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat. Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt
werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den
Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105
Abs. 1-2 BGG).

1.2 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen, und es kann
eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden
Begründung abweisen (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254 mit Hinweisen). Immerhin
prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur
die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine
erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu
untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE
133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

2.
Der Beschwerdeführer bringt vor, der von den kantonalen Behörden verfügte
Sicherungsentzug mute "sektiererisch" an. Bei seinen beiden Trunkenheitsfahrten
habe er "nur" nach Hause fahren wollen. Der von ihm beantragte erneute
Warnungsentzug stelle seiner Ansicht nach eine ausreichend scharfe
Administrativsanktion dar. Das verkehrsmedizinische Gutachten des IRM erscheine
einseitig, unvollständig und nicht schlüssig. Der leicht erhöhte CDT-Wert sei
als "grenzwertig" einzustufen und rechtfertige keinen Sicherungsentzug. Bei der
mündlichen gutachterlichen Befragung bzw. beim Ausfüllen des
Selbstbeurteilungsfragebogens AUDIT habe er unter emotionalem Druck gestanden.
Zur Abklärung seiner persönlichen Situation und Trinkgewohnheiten seien keine
Fremdberichte eingeholt worden, insbesondere keine Auskünfte des Arbeitgebers
oder von Familienangehörigen. Dass sein Hausarzt ihn, den Beschwerdeführer, als
"Gelegenheitstrinker" bezeichne, vermöge die ansonsten positive Einschätzung
durch den Hausarzt nicht zu entkräften.

3.
Das Bundesamt für Strassen schliesst auf Gutheissung der Beschwerde. Es
bezweifelt ebenfalls, ob die Expertise des IRM den Anforderungen an ein
verkehrsmedizinisches Gutachten genüge. Eine Suchterkrankung (nach dem
medizinischen Diagnoseschlüssel ICD-10) sei weder geprüft, noch festgestellt
worden. Ein pathologischer CDT-Wert allein erlaube noch keinen Schluss auf
Alkoholabhängigkeit. In Fällen wie dem vorliegenden komme weiteren Abklärungen
grosse Bedeutung zu, etwa Berichten des Hausarztes, des Arbeitgebers oder von
Familienangehörigen. Die erfolgten Trunkenheitsfahrten seien aufzuarbeiten, es
sei das Trinkverhalten zu erforschen und eine umfassende körperliche
Untersuchung (insbesondere auf alkoholbedingte Hautveränderungen hin)
vorzunehmen. Das IRM habe eine körperliche Untersuchung vorgenommen. Die
festgestellten Hautveränderungen hätten laut Gutachten jedoch keine Relevanz
hinsichtlich der verkehrsmedizinischen Fragestellung. Zwar erscheine nach dem
Resultat des Selbstbeurteilungsfragebogens AUDIT "eine Alkoholabhängigkeit
wahrscheinlich". Es sei jedoch auch der Bericht des Hausarztes des
Beschwerdeführers zu berücksichtigen, der ihm eine gute Prognose ausstelle.
Gemäss der Würdigung des IRM schliesse der Hausarzt allerdings lediglich eine
fortgeschrittene Alkoholabhängigkeit aus, "nicht aber einen verkehrsrelevanten
Alkoholmissbrauch, der durchaus bei intakter sozialer Integration und bei
unauffälligen Laborbefunden vorliegen" könne.

Zusammenfassend vertritt das Bundesamt die Ansicht, es lasse sich nicht mit
Sicherheit auf eine Alkoholsucht oder einen verkehrsrelevanten
Alkoholmissbrauch des Beschwerdeführers schliessen. Dennoch bestünden
erhebliche Zweifel daran, dass der Beschwerdeführer inskünftig Trinken und
Fahren trennen könnte. Dies gelte umso mehr, als er "schon zweimal innerhalb
von zwei Jahren ein Motorfahrzeug mit einer jeweils erheblichen
Blutalkoholkonzentration gelenkt habe, was auf eine erhebliche Giftfestigkeit"
schliessen lasse. Aufgrund der bestehenden Unsicherheiten sei die Beschwerde
jedoch gutzuheissen und es sei eine verkehrspsychologisch-psychiatrische
Untersuchung des Beschwerdeführers anzuordnen.

4.
In seiner ausführlichen Stellungnahme erläutert und ergänzt das IRM seine
verkehrsmedizinische Begutachtung. Es lehnt die Kritik des Bundesamtes für
Strassen an der Expertise als unbegründet ab.

5.
Gestützt auf das verkehrsmedizinische Gutachten des IRM gelangten die
kantonalen Behörden zu Auffassung, dass beim Beschwerdeführer ein seit längerer
Zeit fortbestehender verkehrsrelevanter Alkoholmissbrauch mit Suchtgefährdung
vorliege, der (gestützt auf Art. 16d Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 17 Abs. 3 SVG)
einen Sicherungsentzug des Führerausweises auf unbestimmte Zeit rechtfertige.
Sinngemäss rügt der Beschwerdeführer eine unzureichende Tatsachenfeststellung
durch die kantonalen Instanzen (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG).

5.1 Es fragt sich, ob die Abklärungen der kantonalen Behörden im vorliegenden
Fall den Anforderungen der bundesgerichtlichen Praxis genügen. Falls eine
Alkoholsucht im medizinischen Sinne nicht eindeutig diagnostiziert werden kann
bzw. nur einzelne Laborbefunde auffällig sind, drängen sich besonders
gründliche Untersuchungen auf (BGE 129 II 82 E. 6.2.2 S. 90-92).

5.2 Aufgrund der Auswertung von Blut- und Urintests wird im
verkehrsmedizinischen Gutachten konstatiert, dass der beim Beschwerdeführer
gemessene CDT-Serumspiegel Ausdruck eines Alkoholüberkonsums sei. Die übrigen
Analyseergebnisse seien unauffällig. Das Gutachten trägt sodann dem Umstand
Rechnung, dass der Beschwerdeführer wegen erheblichen Alkoholmissbrauchs am
Steuer (1,84 bzw. 1,76 Promille) innert zwei Jahren bereits zweimal verurteilt
werden musste. Im Rahmen der medizinischen Abklärungen wurden ausserdem eine
körperliche Untersuchung des Beschwerdeführers durchgeführt, ein
Selbstbeurteilungsfragebogen "AUDIT" (zu dessen Trinkverhalten) ausgefüllt und
ein Bericht des Hausarztes beigezogen.

5.3 In Fällen wie dem vorliegenden kommt sorgfältigen
medizinisch-psychiatrischen Abklärungen grosse Bedeutung zu. Eine Trunksucht
bzw. ein verkehrsrelevanter Alkoholmissbrauch mit Suchtgefährdung im Sinne der
bundesgerichtlichen Praxis, welche einen Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit
(gestützt auf Art. 16d Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 17 Abs. 3 SVG) rechtfertigen,
dürfen nicht leichthin angenommen werden. Ein pathologischer CDT-Wert allein
würde für eine entsprechende schwerwiegende Administrativmassnahme jedenfalls
noch nicht ausreichen (vgl. BGE 129 II 82 E. 6.2.2 S. 91).

5.4 Wie sich aus den Akten ergibt, ist die Befragung zum Trinkverhalten des
Exploranden durch die Gutachterin des IRM eher kursorisch ausgefallen. Die
Fragen und Antworten (teilweise gestützt auf einen
Selbstbeurteilungsfragebogen) wurden nicht ausführlich dokumentiert; in den
Akten finden sich dazu lediglich handschriftliche Stichworte (bzw. Ankreuzungen
auf dem Fragebogen). Eine verkehrspsychologisch-psychiatrische Untersuchung des
Beschwerdeführers im eigentlichen Sinne (insbesondere seines psychischen
Zustandes, seines Trinkverhaltens und seiner subjektiven Einstellung zu
Alkoholkonsum und Strassenverkehr) hat nicht stattgefunden. Auch konnte den
gravierenden gesundheitlichen Folgen (Paraplegie) des schweren Unfalles noch
nicht Rechnung getragen werden, den der Beschwerdeführer unterdessen (nach
Einreichung der Beschwerde) erlitten hat.

5.5 Zwar liegen hier ernst zu nehmende Anhaltspunkte vor für eine
verkehrsrelevante Alkoholmissbrauchsproblematik. Dazu gehören die beiden
Trunkenheitsfahrten mit sehr hohen Blutalkoholkonzentrationen innert zwei
Jahren sowie der problematische CDT-Wert. Die Sachverhaltsabklärungen der
kantonalen Behörden reichen jedoch noch nicht aus, um zu prüfen, ob der
angeordnete schwerwiegende Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit
bundesrechtskonform erscheint oder nicht. Im vorliegenden Fall gebietet sich
die Durchführung der oben umrissenen verkehrspsychologisch-psychiatrischen
Expertise. Dieses Gutachten wird auch dem aktuellen Gesundheitszustand des
Beschwerdeführers Rechnung zu tragen haben.

6.
Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist
aufzuheben und die Streitsache zur Neubeurteilung im Sinne der vorstehenden
Erwägungen (gestützt auf eine verkehrspsychologisch-psychiatrische
Begutachtung) an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Gerichtskosten sind nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der anwaltlich
vertretene Beschwerdeführer dringt mit seinen Rechtsbegehren (die auf eine
sofortige Wiederaushändigung des Führerausweises zielten) zwar nicht
vollständig durch. Es ist ihm für das Verfahren vor Bundesgericht jedoch eine
(leicht reduzierte) Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, der angefochtene Entscheid vom 10.
Dezember 2007 der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen, Abteilung
IV, wird aufgehoben, und die Streitsache wird zur Neubeurteilung im Sinne der
Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton St. Gallen hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr.
2'000.-- zuzusprechen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamt und der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen,
Abteilung IV, sowie dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. September 2008

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Forster