Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.88/2008
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2008
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2008


Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_88/2008

Urteil vom 5. Mai 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Reeb,
Gerichtsschreiber Kessler Coendet.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Ivo Künzler,

gegen

Untersuchungsrichteramt des Kantons Thurgau, Zürcherstrasse 323, 8510
Frauenfeld.

Gegenstand
Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 6. März 2008 des Präsidenten der
Anklagekammer des Kantons Thurgau.

Sachverhalt:

A.
Das kantonale Untersuchungsrichteramt des Kantons Thurgau führt gegen
X.________ eine Strafuntersuchung wegen gewerbs- und bandenmässiger Diebstähle,
Hehlerei usw.; diese Taten soll er im Zeitraum von Februar bis November 2007
begangen haben. Er wurde am 31. Januar 2008 verhaftet und am 6. Februar 2008 in
Untersuchungshaft versetzt. Die Dauer der Untersuchungshaft wurde einstweilen
bis zum 3. März 2008 als zulässig erklärt.

Am 2. März 2008 stellte X.________ ein Haftentlassungsgesuch. Bereits zuvor
hatte aber das kantonale Untersuchungsrichteramt die Erstreckung der Haft bis
zum 2. April 2008 beantragt. Der Präsident der Anklagekammer des Kantons
Thurgau vereinigte als Haftrichter die beiden Verfahren und verfügte am 6. März
2008 die Verlängerung der Untersuchungshaft bis zum 2. April 2008; gleichzeitig
wies er das Haftentlassungsgesuch ab.

Am 7. März 2008 wurde X.________ vom Departement für Justiz und Sicherheit des
Kantons Thurgau, Straf- und Massnahmenvollzug, der vorzeitige Strafantritt
bewilligt.

B.
Mit Eingabe vom 7. April 2008 erhebt X.________ beim Bundesgericht Beschwerde
in Strafsachen gegen die Haftverfügung vom 6. März 2008. Er beantragt die
sofortige Freilassung; eventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung im bundesgerichtlichen Verfahren.

Der Präsident der Anklagekammer stellt den Antrag, die Beschwerde abzuweisen,
soweit darauf einzutreten sei. Das Untersuchungsrichteramt hat Verzicht auf
eine Vernehmlassung erklärt. In der Replik hält der Beschwerdeführer an seinen
Anträgen fest.

Erwägungen:

1.
Der Haftentscheid vom 6. März 2008 stützt sich auf kantonales Strafprozessrecht
und kann grundsätzlich mit der Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 Abs. 1
BGG angefochten werden.
Die Vorinstanz hält dafür, auf die Beschwerde dürfe nicht eingetreten werden.
Der angefochtene Entscheid sei hinfällig geworden. Der Beschwerdeführer sei zu
verhalten, vorgängig bei ihr ein neues Gesuch - und zwar um Entlassung aus dem
vorzeitigen Strafvollzug - zu stellen, bevor er an das Bundesgericht gelangen
könne. Es ist richtig, dass die Dauer der mit dem angefochtenen Entscheid
verfügten Hafterstreckung vor Einreichung der Beschwerde an das Bundesgericht
abgelaufen ist. Es fragt sich, ob der Beschwerdeführer noch ein aktuelles
Interesse an der Anfechtung dieses Entscheids besitzt bzw. ob er einen neuen
Entscheid bei der Vorinstanz einzuholen hat, um eine Entlassung aus dem
vorzeitigen Strafvollzug zu erwirken. Die Frage kann aus den folgenden Gründen
offen bleiben.

Da der vorzeitige Strafvollzug seine Grundlage nicht in einem rechtskräftigen
gerichtlichen Urteil hat, kann er gegen den Willen des Betroffenen nur so lange
gerechtfertigt sein, als die Haftvoraussetzungen gegeben sind (vgl. BGE 126 I
172 E. 3a S. 174; 117 Ia 72 E. 1d S. 80). Im Rahmen eines neuen Entscheids
hätte die Vorinstanz nochmals zu prüfen, ob Haftgründe vorliegen. Die
Vorinstanz hat in ihrer Vernehmlassung im Sinne einer Eventualargumentation
bereits geäussert, dass sie am besonderen Haftgrund der Fortsetzungsgefahr
festhält und die damit verbundenen Rügen betreffend mangelhafte
Sachverhaltsabklärung als unbegründet erachtet. Es ist absehbar, dass ihr neuer
Entscheid in der Sache - mit insoweit unveränderter Begründung - wieder gleich
ausfallen wird. Im Übrigen vermögen die hier vorgebrachten Verfassungsrügen des
Beschwerdeführers ohnehin nicht durchzudringen. Mit Blick auf das
Beschleunigungsgebot in Haftsachen ist es angezeigt, dieses Ergebnis der
materiellen Beurteilung bereits im vorliegenden Entscheid festzuhalten.

2.
Der Beschwerdeführer bestreitet die Voraussetzung des dringenden Tatverdachts
nicht. Hingegen stellt er das Vorliegen von Fortsetzungsgefahr in Abrede.

2.1 Die Fortsetzungsgefahr ist als besonderer Haftgrund in § 106 Abs. 1 Ziff. 3
StPO/TG aufgeführt. Die mit Fortsetzungsgefahr begründete Haft ist überwiegend
Präventivhaft. Die Notwendigkeit, den Angeschuldigten an der Begehung einer
strafbaren Handlung zu hindern (Spezialprävention), wird von Art. 5 Ziff. 1
lit. c EMRK ausdrücklich als Haftgrund anerkannt (BGE 133 I 270 E. 2.1 S. 275
mit Hinweisen). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Anordnung
von Untersuchungshaft wegen Fortsetzungsgefahr verhältnismässig, wenn
einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu
befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Die rein hypothetische
Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass
nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine
Präventivhaft zu begründen (BGE 133 I 270 E. 2.2 S. 276 mit Hinweisen).

2.2 Nach den unbestrittenen Feststellungen der Vorinstanz hat sich der
Beschwerdeführer seit 1998 wiederholt im Strafvollzug befunden. Zuletzt hat er
eine fünfjährige Freiheitsstrafe verbüsst. Die Taten, die zu den
Freiheitsentzügen geführt haben, reichen von versuchter vorsätzlicher Tötung
über qualifizierten Raub bis zu banden- und gewerbsmässigem Diebstahl und
weiteren Delikten. Am 30. April 2005 wurde der Beschwerdeführer bedingt aus dem
Strafvollzug entlassen und es wurde ihm eine Probezeit von drei Jahren
auferlegt. Die ihm im vorliegenden Verfahren zur Last gelegten Delikte fallen
vollumfänglich in diese Probezeit. Darunter sind mehrere wiederum von einigem
Gewicht, so Diebstähle von Autos bzw. deren Überführung und Veräusserung ins
Ausland. Weiter beging der Beschwerdeführer am 2. Juni 2007 ein
Rechtspflegedelikt; dafür wurde er am 29. August 2007 zu einer Geldstrafe
verurteilt. Diese Straftat ist an sich von geringerem Gewicht. Zu Recht hat
aber die Vorinstanz festgehalten, dass sich der Beschwerdeführer durch diese
Verurteilung einmal mehr nicht beeindrucken liess, sondern seine deliktische
Tätigkeit weiterführte.

2.3 Die Vorinstanz hat nicht verkannt, dass es insbesondere nach der bedingten
Entlassung aus dem Strafvollzug eine längere Phase gab, während der sich der
Beschwerdeführer offenbar strafrechtlich nichts zuschulden kommen liess. Sie
hat zur Kenntnis genommen, dass er mit Unterstützung der Bewährungshilfe
ernsthafte und wiederholte Bemühungen um ein geregeltes Erwerbseinkommen
unternahm. Es war ihr auch bekannt, dass sich der Beschwerdeführer in einer
psychiatrischen Behandlung befunden hat. Diese Elemente sind jedoch vorliegend
nicht geeignet, die Annahme von Fortsetzungsgefahr erfolgreich anzuzweifeln.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers lässt sich auch vor diesem
Hintergrund aus den untersuchten Vorfällen aus dem Zeitraum 2007 in Verbindung
mit den Vorstrafen eine besondere Wahrscheinlichkeit dafür ableiten, dass der
Beschwerdeführer weitere schwere Delikte begehen wird.

2.4 Ergänzend hat die Vorinstanz auf ein nicht bei den Akten liegendes,
psychiatrisches Gutachten aus dem Jahr 2000 abgestellt, mit dem beim
Beschwerdeführer eine Rückfallgefahr zu Eigentumsdelikten diagnostiziert worden
sein soll. Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz dieses Gutachten
insoweit gewürdigt hat, als die vom Beschwerdeführer seither gesetzten Taten
jene gutachterlichen Schlussfolgerungen bestätigen. Auch ohne neue
psychiatrische Abklärung bzw. ohne Befragung des behandelnden Psychiaters
durfte die Vorinstanz vorliegend bejahen, dass weniger schwere Massnahmen als
die Aufrechterhaltung des Freiheitsentzugs kaum genügen würden, um den
Beschwerdeführer wirksam an der Begehung weiterer schwerer Straftaten zu
hindern. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass die Gehörsrügen des
Beschwerdeführers, mit denen er sich darüber beklagt, dass die Vorinstanz
seinen entsprechenden Abklärungsanträgen nicht gefolgt ist, fehl gehen. Nicht
anders verhält es sich bezüglich der Beweisanträge zur Abklärung der
Entwicklung in den persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers, denen die
Vorinstanz vor Erlass des angefochtenen Entscheids nicht nachgekommen ist.

2.5 Insgesamt hat die Vorinstanz demzufolge ausreichende, konkrete
Anhaltspunkte aufgezeigt, die für das Vorliegen von Fortsetzungsgefahr beim
Beschwerdeführer sprechen. Da dieser besondere Haftgrund gegeben ist, kann an
sich offen bleiben, ob darüber hinaus noch weitere besondere Haftgründe erfüllt
wären. Es ist indessen davon Vormerk zu nehmen, dass die Vorinstanz in der
Vernehmlassung an das Bundesgericht am besonderen Haftgrund der
Kollusionsgefahr nicht mehr festhält, den sie im angefochtenen Entscheid noch
bejaht hat.

2.6 Die Verhältnismässigkeit der bisherigen Haftdauer stellt der
Beschwerdeführer zu Recht nicht infrage. Aus den Akten ergibt sich, dass die
Untersuchung betreffend den Beschwerdeführer ausreichend vorangetrieben worden
ist. Es lässt sich erwarten, dass die noch ausstehende Anklageerhebung
beförderlich erfolgen wird.

3.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Da die Voraussetzungen gemäss Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG vorliegen, ist dem
Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu
gewähren.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
bewilligt.

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Ivo Künzler wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt
und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit
gesamthaft Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Untersuchungsrichteramt und dem
Präsidenten der Anklagekammer des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 5. Mai 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Kessler Coendet