Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.307/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_307/2008

Urteil vom 23. Dezember 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiber Dold.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Walter Haefelin,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17,
Postfach,
8026 Zürich.

Gegenstand
Gesuch um Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenantritts,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 21. November 2008 der Staatsanwaltschaft IV
des Kantons Zürich.
Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Zürich führt gegen X.________ eine Strafuntersuchung.
Ihm wird vorgeworfen, am 6. September 2008 anlässlich einer verbalen
Auseinandersetzung seine Ehefrau an den Haaren gepackt, sie gewürgt, ihr mit
der Stirn einen Stoss gegen die Nase verpasst und sie in der Folge mit dem Tod
bedroht zu haben. X.________ wurde noch am Tag des Vorfalls verhaftet. Der
beigezogene Notfallarzt diagnostizierte Wahnvorstellungen und wies ihn am
folgenden Tag in eine geschlossene psychiatrische Klinik ein. Mit Verfügung vom
26. September 2008 ordnete der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich
Untersuchungshaft an. Ein Haftentlassungsgesuch des Angeschuldigten lehnte der
Haftrichter mit Verfügung vom 31. Oktober 2008 ab. Zur Beantwortung
verschiedener mit dem psychischen Zustand von X.________ in Zusammenhang
stehenden Fragen gab die Staatsanwaltschaft ein Gutachten in Auftrag. Der
beauftragte Arzt reichte am 19. November 2008 eine erste Stellungnahme ein. Das
ausführliche Gutachten wird bis spätestens am 31. Dezember 2008 erwartet.

Mit Schreiben vom 21. November 2008 beantragte X.________, er sei aus der
Untersuchungshaft zu entlassen und im Rahmen eines vorzeitigen
Massnahmenantritts in eine geeignete therapeutische Einrichtung einzuweisen.
Zur Begründung seines Antrags stützte er sich insbesondere auf die erwähnte
Stellungnahme vom 19. November 2008 des begutachtenden Arztes, wonach eine
stationäre Behandlung angezeigt sei. Mit Verfügung vom selben Tag verweigerte
die Staatsanwaltschaft dem Angeschuldigten den vorzeitigen Massnahmenantritt.
Mit Verfügung vom 26. November 2008 lehnte der Haftrichter das
Haftentlassungsgesuch ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 26. November 2008
beantragt X.________, die Verfügung der Staatsanwaltschaft sei aufzuheben, es
sei der vorzeitige Massnahmenantritt anzuordnen und er selbst sei zu diesem
Zweck aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Die Staatsanwaltschaft beantragt sinngemäss die Abweisung der Beschwerde. Der
Beschwerdeführer verzichtet auf eine Stellungnahme dazu.

Erwägungen:

1.
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst
sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht
zu Grunde liegt. Somit kann grundsätzlich jeder Entscheid, der die Verfolgung
oder die Beurteilung einer Straftat betrifft, mit Beschwerde in Strafsachen
angefochten werden (BGE 133 I 270 E. 1.1 S. 273 mit Hinweis). Ein kantonales
Rechtsmittel gegen den angefochtenen Entscheid steht nicht zur Verfügung (§ 71a
Abs. 3 Satz 2 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 [StPO/
ZH; LS 321]). Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG
zulässig. Der Beschwerdeführer hat vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen
und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen
Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Da das
Bundesgericht nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der Beschwerde in der
Sache selbst entscheiden kann, ist der Antrag auf Anordnung des vorzeitigen
Massnahmenantritts zulässig. Auf die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde
ist einzutreten.

2.
Bei der vorliegenden Beschwerdesache handelt es sich nicht um einen
Haftprüfungsfall im Sinne von Art. 31 Abs. 4 BV. Der Beschwerdeführer beantragt
nicht, er sei unverzüglich aus der Untersuchungshaft in die Freiheit zu
entlassen. Vielmehr stellt er den Antrag, der Freiheitsentzug sei zwar faktisch
weiterzuführen, anstelle der Untersuchungshaft sei ihm jedoch der vorzeitige
Antritt einer Massnahme (stationäre Behandlung psychischer Störungen, Art. 59
StGB) zu ermöglichen.

2.1 Ist die Anordnung einer Massnahme nach den Art. 59-61 oder Art. 63 StGB zu
erwarten, so kann dem Täter gestattet werden, den Vollzug vorzeitig anzutreten
(Art. 58 Abs. 1 StGB). Die grundsätzliche Möglichkeit des vorzeitigen Antritts
einer therapeutischen Massnahme besteht ungeachtet einer entsprechenden
Bestimmung im kantonalen Strafprozessrecht (MARIANNE HEER, in: Basler
Kommentar, Strafrecht, 2. Aufl. 2007, N. 1 zu Art. 58 StGB). Das kantonale
Recht kann jedoch den vorzeitigen Vollzug von bestimmten weiteren
Voraussetzungen abhängig machen, beispielsweise von einem entsprechenden
Gutachten oder einer bereits begonnenen, erfolgversprechenden Behandlung. Die
Zuständigkeit für die Anordnung ergibt sich aus dem kantonalen Recht (GÜNTER
STRATENWERTH/WOLFGANG WOHLERS, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar,
2007, N. 1 zu Art. 58 StGB). Nach § 71a Abs. 1 und 2 StPO/ZH bewilligt bis zum
Zeitpunkt der Anklageerhebung die Staatsanwaltschaft den vorzeitigen
Massnahmenantritt. Gemäss Abs. 3 wird die Bewilligung erteilt, wenn die
Anordnung einer freiheitsentziehenden Massnahme zu erwarten ist und der Zweck
des Strafverfahrens nicht gefährdet wird.

2.2 Im angefochtenen Entscheid lehnt die Staatsanwaltschaft die Bewilligung des
vorzeitigen Massnahmenantritts mit der Begründung ab, das ausführliche
psychiatrische Gutachten liege noch nicht vor. Zudem bestehe eine ausgeprägte
Wiederholungs- und Ausführungsgefahr, weswegen die Untersuchungshaft nicht
aufgehoben werden könne.

Der Beschwerdeführer bringt vor, sein Gesundheitszustand erfordere die
Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Der Gutachter schreibe in seinem
Zwischenbericht vom 19. November 2008 explizit, er werde eine stationäre
Behandlung in einer psychiatrischen Klinik beantragen. Der Wiederholungs- bzw.
Ausführungsgefahr könne auch auf diese Weise begegnet werden. Der Zweck des
Strafverfahrens würde zudem in keiner Weise gefährdet werden. Abgesehen vom
noch ausstehenden psychiatrischen Gutachten sei die Untersuchung abgeschlossen.
Es spiele im Ergebnis keine Rolle, ob sich der Beschuldigte in
Untersuchungshaft oder in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik aufhalte.

2.3 Art. 58 Abs. 1 StGB und § 71a Abs. 3 StPO/ZH belassen der zuständigen
Behörde ein gewisses Ermessen in ihrem Entscheid über die Bewilligung des
vorzeitigen Massnahmenantritts. Im Urteil 1B_113/2008 vom 22. Mai 2008 hatte
das Bundesgericht die Auffassung der Vorinstanz zu beurteilen, wonach der
vorzeitige Massnahmenantritt mit Rücksicht auf die Entscheidkompetenz des
Sachrichters nur in dringenden Fällen anzuordnen sei. Das Bundesgericht stellte
fest, die damit zum Ausdruck gebrachte Ermessensausübung stehe nicht im
Widerspruch zur gesetzlichen Regelung, obwohl diese das Kriterium der
Dringlichkeit des Massnahmenantritts nicht enthalte (erwähnter Entscheid E.
2.5).

2.4 Im vorliegenden Fall lässt der Zustand des Beschwerdeführers auf eine
gewisse Dringlichkeit des Massnahmenantritts schliessen. Aufgrund der
Stellungnahme des begutachtenden Arztes vom 19. November 2008 ist davon
auszugehen, dass eine erfolgreiche Behandlung der psychischen Störung und eine
optimale Unterstützung der Resozialisierungsbemühungen ambulant nicht
gewährleistet werden kann. Immerhin schloss der zusätzlich hinzugezogene Arzt
des psychiatrisch-psychologischen Dienstes des Justizvollzugs des Kantons
Zürichs am 1. Dezember 2008 eine akute Suizidgefährdung aus. Wie bereits
erwähnt, ist bis zum 31. Dezember 2008 ein umfassendes ärztliches Gutachten zu
erwarten. Dieses wird sich mit der psychischen Störung des Beschwerdeführers
und deren stationären oder ambulanten Behandlung vertieft auseinandersetzen.

Vor diesem Hintergrund stellt die Verweigerung des vorzeitigen
Massnahmenantritts im jetzigen Zeitpunkt keine Bundesrechtsverletzung dar. Es
kann nicht gesagt werden, der vorinstanzliche Entscheid wende die in § 71 Abs.
3 StPO/ZH verankerten Voraussetzungen in geradezu willkürlicher Weise an.

Nach Vorliegen des erwarteten Gutachtens wird die Staatsanwaltschaft auf Antrag
des Angeschuldigten hin einen neuen Entscheid treffen müssen. Sie wird dabei zu
berücksichtigen haben, dass auch bei Fortdauern der Haftgründe der
Wiederholungs- und Ausführungsgefahr ein vorzeitiger Massnahmenantritt nicht
ausgeschlossen ist. Massgebend wird sein, ob der Wiederholungsgefahr und der
Ausführungsgefahr auch auf diese Weise begegnet werden kann. Weiter hat der
Entscheid dem Zweck des vorzeitigen Massnahmenantritts Rechnung zu tragen. Der
vorzeitige Massnahmenantritt erlaubt eine angemessene Behandlung psychischer
Störungen, was in Untersuchungsgefängnissen nur teilweise möglich ist. Es geht
darum, die Therapiebereitschaft des Betroffenen zu nutzen und ihre
Beeinträchtigung durch eine lange Untersuchungshaft zu vermeiden. Obgleich eine
gewisse Zurückhaltung mit Rücksicht auf die Entscheidkompetenz des Sachrichters
gerechtfertigt erscheint, können sich schliesslich gerade die im Rahmen des
vorzeitigen Massnahmenvollzugs gewonnenen Erfahrungen für dessen Urteil als
wertvoll erweisen (Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des StGB, BBl
1999 2073 Ziff. 213.412; HEER, a.a.O., N. 1 zu Art. 58 StGB).

3.
Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, die Staatsanwältin habe ihm während
einer Einvernahme am 19. November 2008 versprochen, er könne die stationäre
Massnahme antreten, sobald ein Platz frei werde bzw. "so schnell wie möglich".
Im Umstand, dass ihm der vorzeitige Massnahmenantritt dann trotzdem verweigert
wurde, sieht er eine Verletzung des Willkürverbots, des Grundsatzes von Treu
und Glauben und des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 9 und 29 Abs. 1
BV).

3.1 Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt nur dann vor, wenn der Entscheid in
seinem Ergebnis unhaltbar ist (BGE 134 I 140 E. 5.4 S. 148 mit Hinweisen).
Mängel in der Begründung bzw. im Verfahren, welches zum Entscheid geführt hat,
vermögen keine Willkür zu begründen. Nach dem bereits Gesagten (E. 2.4) ist der
angefochtene Entscheid in Ergebnis nicht unhaltbar. Die Rüge der Verletzung des
Willkürverbots ist deshalb unbegründet.

3.2 Der ebenfalls in Art. 9 BV verankerte Grundsatz von Treu und Glauben
gebietet ein loyales und vertrauenswürdiges Verhalten im Rechtsverkehr. In der
Form des sogenannten Vertrauensschutzes verleiht er den Rechtsunterworfenen
einen Anspruch auf Schutz ihres berechtigten Vertrauens in das bestimmte
Erwartungen begründende Verhalten der Behörden (BGE 130 I 26 E. 8.1 S. 60 mit
Hinweisen; ULRICH HÄFELIN/GEORG MÜLLER/FELIX UHLMANN, Allgemeines
Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2006, S. 130 Rz. 622). Art. 29 Abs. 1 BV garantiert
daneben in allgemeiner Weise den Anspruch auf ein faires Verfahren. Im
vorliegenden Zusammenhang kommt dieser Bestimmung keine über den
Vertrauensschutz hinausgehende Bedeutung zu. Die Rüge des Beschwerdeführers in
Bezug auf die zitierten Äusserungen der Staatsanwältin ist ausschliesslich
unter dem Gesichtspunkt von Art. 9 BV zu prüfen.

Der Schutz des Vertrauens in behördliches Verhalten setzt unter anderem voraus,
dass der Adressat im Vertrauen auf das behördliche Verhalten Dispositionen
getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können (BGE
130 I 26 E. 8.1 und 8.2.4 S. 60 ff. mit Hinweisen). Es ist nicht ersichtlich,
dass der Beschwerdeführer wegen der erwähnten Zusicherung der Staatsanwältin
Dispositionen getroffen hätte. Er macht dies auch nicht geltend. Die
offensichtlich wenig bedachte Äusserung der Staatsanwältin während der
Einvernahme ist im Hinblick auf den lediglich zwei Tage später gefällten
Entscheid schwer verständlich. Rechtlich entscheidend ist jedoch, dass die
Voraussetzungen für den Schutz des Vertrauens des Beschwerdeführers in die
Äusserung nicht erfüllt sind. Die Rüge der Verletzung des Grundsatzes von Treu
und Glauben ist deshalb unbegründet.

4.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerde abzuweisen ist. Der
Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und
Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann
dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen:

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Walter Haefelin wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit Fr. 2'000.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und der Staatsanwaltschaft IV des
Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 23. Dezember 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Dold