Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.306/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_306/2008

Urteil vom 15. Januar 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Dold.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Eric Stern,

gegen

Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons
St. Gallen, Moosbruggstrasse 11, 9001 St. Gallen.

Gegenstand
Amtliche Verteidigung,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 27. Oktober 2008 des Verwaltungsgerichts des
Kantons St. Gallen, Gerichtspräsident.
Sachverhalt:

A.
Das Kreisgericht Gaster-See verurteilte am 25. Juni 2008 X.________ wegen
mehrfachen Raubs, mehrfacher Freiheitsberaubung und mehrfachen
Hausfriedensbruchs zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren unter Anrechnung
der Auslieferungs- bzw. Untersuchungshaft seit dem 12. September 2007. Der
amtliche Verteidiger wurde vom Staat entschädigt. Gegen das Urteil erhob
X.________ Berufung an das Kantonsgericht St. Gallen. Er beantragte im
Wesentlichen, der Entscheid sei aufzuheben, er selbst sei freizusprechen und
auf die beurteilten Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen sei nicht
einzutreten.

B.
X.________ ersuchte den Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts St.
Gallen um Erlass der Einschreibgebühr. Dieser wies das Gesuch mit Verfügung vom
1. September 2008 ab. Dagegen erhob X.________ Beschwerde an das Bundesgericht
mit dem Antrag, die Verfügung sei aufzuheben und die Einschreibgebühr sei ihm
zu erlassen. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut (Urteil 1B_296/2008 vom
11. Dezember 2008).

C.
Dem Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen stellte
X.________ mit Eingabe vom 20. August 2008 ein Gesuch um amtliche Verteidigung
im Berufungsverfahren vor dem Kantonsgericht. Das Gesuch wurde mit Verfügung
vom 2. September 2008 abgewiesen. X.________ erhob gegen diese Verfügung
Beschwerde. Mit Entscheid vom 27. Oktober 2008 wies der Präsident des
Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen das Rechtsmittel ab.

D.
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 27. November 2008
beantragt X.________, der Entscheid des Präsidenten des Verwaltungsgerichts des
Kantons St. Gallen sei aufzuheben und die Sache sei zur neuen Beurteilung
zurückzuweisen. Er rügt die Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV und verschiedener
anderer Bestimmungen der BV und der EMRK.

Der Präsident des Verwaltungsgerichts und das Sicherheits- und
Justizdepartement des Kantons St. Gallen beantragen in ihrer jeweiligen
Vernehmlassung vom 1. Dezember 2008 bzw. vom 2. Dezember 2008 die Abweisung der
Beschwerde.
Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichtspräsidenten, mit dem das
Gesuch des Beschwerdeführers um amtliche Verteidigung im Berufungsverfahren vor
dem Kantonsgericht St. Gallen abgewiesen wurde, ist ein letztinstanzlicher
kantonaler Zwischenentscheid. Dagegen ist die Beschwerde gemäss Art. 93 Abs. 1
lit. a BGG nur zulässig, wenn der Zwischenentscheid einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken kann. Es muss sich dabei im Rahmen der
Beschwerde in Strafsachen um einen Nachteil rechtlicher Natur handeln (BGE 133
IV 335 E. 4 S. 338 mit Hinweisen). Zwischenentscheide, mit denen die
unentgeltliche (amtliche) Verteidigung verweigert wird, haben in der Regel
einen solchen Nachteil zur Folge (BGE 129 I 129 E. 1.1 S. 131 mit Hinweis).
Dies trifft auch im vorliegenden Fall zu. Muss der Beschwerdeführer seine
Interessen im Strafverfahren ohne den Beistand eines Anwalts wahrnehmen, kann
dies einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1
lit. a BGG bewirken.

Bei Zwischenentscheiden folgt der Rechtsweg jenem der Hauptsache (Urteil 1B_151
/2008 vom 17. November 2008 E. 1 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 119 Ib 412 E. 2a
S. 414 mit Hinweisen). Gegen einen Entscheid betreffend die Abweisung eines
Gesuchs um (unentgeltliche) amtliche Verteidigung in einem Strafverfahren ist
die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG gegeben. Da auch die
übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde
einzutreten. Gemäss Art. 29 Abs. 3 des Reglements für das Bundesgericht vom 20.
November 2006 (BGerR; SR 173.110.131) ist die I. öffentlich-rechtliche
Abteilung des Bundesgerichts für die Behandlung der Beschwerde zuständig.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht keine Verletzung der kantonalrechtlichen
Bestimmungen über die amtliche Verteidigung geltend. Es ist deshalb direkt zu
prüfen, ob die angerufenen verfassungs- oder konventionsrechtlichen Garantien
verletzt wurden (vgl. BGE 134 I 92 E. 3.1.1 S. 98 mit Hinweisen).

Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen
Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte
notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
Mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege soll
verhindert werden, dass dem bedürftigen Rechtsuchenden der Zugang zu Gerichts-
und Verwaltungsinstanzen in nicht von vornherein aussichtslosen Verfahren wegen
seiner wirtschaftlichen Verhältnisse verwehrt oder erschwert wird. Indessen
garantiert der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege keine definitive
Übernahme der Kosten durch den Staat (BGE 122 I 322 E. 2c S. 324 f.; 110 Ia 87
E. 4 S. 90; 109 Ia 12 E. 3b S. 13; je mit Hinweisen).

Vorliegend erachtete der Verwaltungsgerichtspräsident die Berufung gegen das
Urteil des Kreisgerichts Gaster-See als aussichtslos.

2.2 Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Begehren
anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die
Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können.
Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten
und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder die Gewinnaussichten nur
wenig geringer sind als die Verlustgefahren. Massgebend ist, ob eine Partei,
die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem
Prozess entschliessen würde. Eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene
Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht auf Kosten des Gemeinwesens
anstrengen können. Die Prozesschancen sind in vorläufiger und summarischer
Prüfung des Prozessstoffes abzuschätzen. Ob ein Begehren aussichtslos
erscheint, beurteilt sich aufgrund der Verhältnisse im Zeitpunkt des Gesuchs
(BGE 133 III 614 E. 5 S. 616; 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135 f.; je mit Hinweisen).

Die Frage nach der Aussichtslosigkeit eines Begehrens lässt sich erst im
Zusammenhang mit seiner Begründung abschliessend beantworten. Zu beurteilen
sind dabei grundsätzlich die Chancen des Rechtsmittels als Ganzes. Eine
teilweise Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege fällt nur ausnahmsweise in
Betracht (Urteil 6B_588/2007 vom 11. April 2008 E. 6.2, in: Pra 2008 Nr. 123 S.
766 mit Hinweis). In Bezug auf die Rechtsmittelregelung im Kanton St. Gallen
ist zu beachten, dass innert der von Art. 239 Abs. 1 des Strafprozessgesetzes
des Kantons St. Gallen vom 1. Juli 1999 (StP; sGS 962.1) festgelegten Frist von
14 Tagen seit Zustellung des angefochtenen Entscheids lediglich die
Berufungserklärung einzureichen ist. Gemäss Art. 242 Abs. 1 StP erhalten die
Parteien später Gelegenheit, mit schriftlicher Eingabe die Berufung zu
begründen, Gegenbemerkungen anzubringen und Beweisanträge zu stellen.

Soweit schwere Beschränkungen der persönlichen Freiheit in Frage stehen, ist
nur mit grosser Zurückhaltung auf Aussichtslosigkeit zu schliessen (Urteil des
Bundesgerichts 1P.20/2000 vom 3. Februar 2000 E. 5c; vgl. auch BGE 134 I 92 E.
3.2.3 S. 100 mit Hinweis). Der Beschwerdeführer wurde erstinstanzlich zu einer
Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, so dass diese Bedingung erfüllt
ist. Weiter ist zu berücksichtigen, dass mit der Berufung ein erstinstanzliches
Urteil angefochten wird, denn gemäss Art. 32 Abs. 3 BV Satz 1 hat jede
verurteilte Person das Recht, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen
zu lassen (bei dem von der Vorinstanz angeführten BGE 129 I 129 ging es im
Gegensatz zum vorliegenden Fall um ein Wiederaufnahmeverfahren). Nicht
massgebend ist, ob der Beschwerdeführer tatsächlich Aussicht darauf hat, mit
seinen Berufungsanträgen vollumfänglich durchzudringen. Besteht eine gewisse
Möglichkeit, dass das in der Sache zuständige Gericht ein milderes Urteil
fällen wird, so darf das Rechtsmittel nicht als aussichtslos bezeichnet werden
(vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_296/2008 vom 11. Dezember 2008 E. 2.4 mit
Hinweisen).

2.3 Die Vorinstanz legt dar, die erstinstanzliche Verurteilung stütze sich auf
DNA-Spuren und Zeugenaussagen. Sie setze sich ausführlich mit der Einwendung
des Beschwerdeführers auseinander, dass er die nach dem Überfall aufgefundenen
und seine DNA-Spuren aufweisenden Kleider nicht getragen habe. Die
Gewinnaussichten des Begehrens auf vollumfänglichen Freispruch seien
beträchtlich geringer als die Verlustgefahren.

Der Beschwerdeführer hält dem entgegen, im Berufungsverfahren könnten
Eventualanträge gestellt werden. Er habe bisher erst einen Berufungsantrag
gestellt und sei noch nicht dazu angehalten worden, diesen zu begründen. Es
treffe zudem nicht zu, dass das Kreisgericht Zeugen befragt habe. Die
erstinstanzliche Verurteilung gründe vielmehr ausschliesslich auf fragwürdigen
DNA-Spuren.

Der Beurteilung der Vorinstanz kann im Lichte von Art. 29 Abs. 3 BV nicht
gefolgt werden. Der Verwaltungsgerichtspräsident konnte bei Erlass seines
Entscheids die Erfolgsaussichten der Berufung noch gar nicht in genügender
Weise beurteilen, da ihm die Gründe für die Einreichung des Rechtsmittels nicht
bekannt waren. Art. 239 StP entsprechend reichte der Beschwerdeführer zunächst
lediglich eine Berufungserklärung ein. Gemäss Art. 242 Abs. 1 StP wird er noch
Gelegenheit erhalten, diese mit einer Begründung zu versehen. Zudem scheint es
nicht als ausgeschlossen, dass als Folge des Berufungsverfahrens das Urteil für
den Beschwerdeführer günstiger ausfällt. Dass ein vollumfänglicher Freispruch,
wie ihn der Beschwerdeführer in seinem Berufungsantrag forderte,
unwahrscheinlich ist, ist nach dem Gesagten (E. 2.2) entgegen der Ansicht der
Vorinstanz nicht massgebend.

3.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Vorinstanz die Begehren des
Beschwerdeführers im Berufungsverfahren zu Unrecht als aussichtslos beurteilte
und damit Art. 29 Abs. 3 BV verletzte. Die Beschwerde ist deshalb gutzuheissen
und der Entscheid des Präsidenten des Verwaltungsgerichts des Kantons St.
Gallen vom 27. Oktober 2008 aufzuheben. Die Sache wird zur neuen Beurteilung an
die Vorinstanz zurückgewiesen.

Diesem Ergebnis entsprechend sind im bundesgerichtlichen Verfahren keine Kosten
zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Es ist gerechtfertigt, in Anwendung von
Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG dem Beschwerdeführer zulasten des Kantons St. Gallen
für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung
zuzusprechen. Bei dieser Kosten- und Entschädigungsregelung wird das Gesuch des
Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche
Verfahren gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Präsidenten des
Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. Oktober 2008 aufgehoben und
die Angelegenheit zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an den
Verwaltungsgerichtspräsidenten zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton St. Gallen hat den Beschwerdeführer mit Fr. 2'000.-- zu
entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Sicherheits- und Justizdepartement
sowie dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Gerichtspräsident,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. Januar 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Dold