Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.2/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_2/2008
1B_3/2008

Urteil vom 15. April 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Schoder.

Parteien
1B_2/2008
A.X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Werner
Rechsteiner,

und

1B_3/2008
B.X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Werner
Rechsteiner,

gegen

Y.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwältin Franciska
Hildebrand.

Gegenstand
Unentgeltliche Rechtspflege,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 7. Dezember 2007 des Kantonsgerichts
Appenzell Innerrhoden.

Sachverhalt:

A.
A.X.________ wurde vom Bezirksgericht Oberegg mit Urteil vom 20. Juni 2007 der
wiederholten Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht schuldig
gesprochen, von den weiteren gegen ihn erhobenen Straftaten, angeblich begangen
an seiner Stieftochter Y.________, aber freigesprochen. Ausserdem wurde er zur
Ausrichtung von Schadenersatz und Genugtuung an Y.________ verpflichtet.
A.X.________ erhob gegen dieses Urteil Berufung beim Kantonsgericht Appenzell
I.Rh.

Y.________ stellte im Berufungsverfahren ein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege. Mit Entscheid vom 7. Dezember 2007 wies das Kantonsgericht das
Gesuch ab (Dispositiv-Ziffer 1). Es begründete den Entscheid damit, dass
Y.________ minderjährig und ohne eigenes Einkommen sei und ihre
unterstützungspflichtigen Eltern über ausreichende finanzielle Mittel
verfügten, um ihr zu einer Rechtsverbeiständung zu verhelfen, soweit dies zur
Wahrung ihrer Rechte notwendig sei. Gleichzeitig verurteilte das Kantonsgericht
A.X.________ und B.X.________ als Eltern der Gesuchstellerin unter
solidarischer Haftbarkeit, der Rechtsvertreterin von Y.________ einen Vorschuss
für das Berufungsverfahren in der Höhe von Fr. 3'000.-- zu leisten
(Dispositiv-Ziffer 2).

Das Kantonsgericht stellte den Entscheid mit Gerichtsurkunde an Rechtsanwalt
Werner Rechsteiner für A.X.________ und mit Gerichtsurkunde an B.X.________ zu.

B.
A.X.________ und B.X.________ haben beim Bundesgericht gegen den Entscheid des
Kantonsgerichts vom 7. Dezember 2007 je eine Beschwerde in Strafsachen
eingereicht. Sie beantragen die Aufhebung von Dispositiv-Ziffer 2 des
angefochtenen Entscheids.

C.
Y.________ hat auf Vernehmlassung verzichtet. Das Kantonsgericht beantragt
sinngemäss, auf die Beschwerden sei nicht einzutreten, eventuell seien sie
abzuweisen.

Erwägungen:

1.
Die Eingaben der Beschwerdeführer richten sich gegen denselben Entscheid. Die
Beschwerdeführer stellen die gleichen Anträge und sind durch den selben
Rechtsanwalt vertreten; im Übrigen decken sich ihre Begründungen über weite
Strecken. Es rechtfertigt sich deshalb, die Verfahren 1B_2/2008 und 1B_3/2008
durch ein einziges Urteil zu erledigen.

2.
Die Beschwerden richten sich gegen einen prozessualen Zwischenentscheid. Nach
Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG sind sie zulässig, wenn der angefochtene
Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann.
Dieser muss bei einer Beschwerde in Strafsachen (Art. 78 ff. BGG), wie nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur staatsrechtlichen Beschwerde,
rechtlicher Natur sein, d.h. auch durch einen günstigen Endentscheid nicht
gänzlich behoben werden können (BGE 133 IV 139 E. 4 S. 140 f.; Urteile des
Bundesgerichts 6B_23/2007 vom 2. April 2007 E. 1; 6B_149/2007 vom 17. Juli 2007
E. 1).

Bei der Auferlegung der Pflicht zur Leistung eines Prozesskostenvorschusses
wird die nicht wieder gutzumachende rechtliche Natur des Nachteils aufgrund des
Entzugs der Verfügungsmacht über den Vermögensbestandteil bejaht (BGE 96 I 629
E. 2b S. 634; 93 I 401 E. 2 S. 403; vgl. ferner BGE 97 I 209 E. 1b S. 214
betreffend die Anordnung der Hinterlegung eines Geldbetrags bis zum Entscheid
in der Hauptsache). Dies muss auch bezüglich der Pflicht zur Leistung eines
Kostenvorschusses für die Rechtsverbeiständung der Gegenpartei gelten.

Demnach ist das Interesse der beschwerdeführenden Parteien an der Aufhebung des
angefochtenen Entscheids ebenfalls rechtlicher Natur. Der Beschwerdeführer, der
im Berufungsverfahren vor der Vorinstanz Parteistellung hat, ist zur Beschwerde
legitimiert (Art. 81 Abs. 1 BGG). Dies gilt ebenfalls für die
Beschwerdeführerin, die am Berufungsverfahren zwar nicht teilnehmen konnte,
durch den angefochtenen Entscheid aber ebenfalls verpflichtet wurde (vgl. Art.
81 Abs. 1 lit. a BGG).

Auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt und geben zu keinen
Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerden ist somit einzutreten.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer erhebt die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs
(Art. 29 Abs. 2 BV). Er macht geltend, es hätte ihm vor Erlass des
angefochtenen Entscheids die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt werden
müssen, damit er seine Parteistellung sowie die angebliche Beistandspflicht
gegenüber der Beschwerdegegnerin hätte bestreiten können. Auch die
Beschwerdeführerin erhebt die Rüge der Gehörsverletzung. Sie bringt vor, durch
die Auferlegung der Kostenvorschusspflicht sei sie faktisch Partei des
Verfahrens vor der Vorinstanz geworden. Es hätte ihr deshalb zumindest das
Recht zur Stellungnahme eingeräumt werden müssen.

3.2 Gemäss ständiger Praxis des Bundesgerichts ist der Anspruch auf rechtliches
Gehör formeller Natur. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet
der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst grundsätzlich zur
Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Die gerügte Verletzung des rechtlichen
Gehörs ist daher vorweg zu prüfen (zur Publikation bestimmtes Urteil des
Bundesgerichts 1A.50/2007 vom 11. März 2008 E. 2.1; BGE 126 I 19 E. 2d/bb S.
24; 125 I 113 E. 3 S. 118).

Die Beschwerdeführer berufen sich ausschliesslich auf die Verfassungsnorm von
Art. 29 Abs. 2 BV und machen nicht geltend, das kantonale Recht gewähre einen
darüber hinausgehenden Anspruch auf rechtliches Gehör. Bei dieser Sachlage ist
das angefochtene Urteil einzig vor dem Hintergrund von Art. 29 Abs. 2 BV zu
prüfen.

3.3 Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist Teil der allgemeinen
Verfahrensgarantien, die in Art. 29 BV für Verfahren vor Gerichts- und
Verwaltungsinstanzen gewährleistet werden. Nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung besteht ein Anspruch auf rechtliches Gehör immer dann, wenn ein
Hoheitsakt unmittelbar die Rechtsstellung eines Einzelnen berührt (BGE 129 I
232 E. 3.2 S. 236; 119 Ia 141 E. 5c S. 149 ff.). Es umfasst insbesondere das
Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung
eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56; 124 I
241 E. 2 S. 242).

Den Beschwerdeführern hätte dementsprechend vor Erlass des sie verpflichtenden
Zwischenentscheids Gelegenheit geboten werden müssen, sich zur Frage des
Umfangs ihrer Pflichten gegenüber der Beschwerdegegnerin zu äussern. Indem die
Vorinstanz die Beschwerdeführer zur Leistung des Kostenvorschusses
verpflichtete, ohne sie vorgängig zur Stellungnahme aufzufordern, hat sie den
Anspruch der Beschwerdeführer auf rechtliches Gehör verletzt.
Dieser Mangel wiegt schwer. Zudem verfügt das Bundesgericht über eine
eingeschränktere Kognition als das Kantonsgericht im strafprozessualen
Berufungsverfahren (vgl. Art. 95, 106 und 107 BGG sowie Art. 143 des Gesetzes
des Kantons Appenzell I.Rh. vom 27. April 1986 über die Strafprozessordnung
[StPO]). Eine Heilung des Mangels im Rechtsmittelverfahren vor Bundesgericht
ist deshalb ausgeschlossen (vgl. BGE 126 I 68 E. 2 S. 72).

Die Beschwerden sind somit begründet. Die Prüfung der weiteren Rügen erübrigt
sich.

4.
Nach dem Gesagten sind die Beschwerden gutzuheissen und Ziffer 2 des
angefochtenen Entscheids aufzuheben. Bei diesem Verfahrensausgang werden keine
Gerichtskosten erhoben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der geleistete
Gerichtskostenvorschuss wird den Beschwerdeführern von der Bundesgerichtskasse
zurückerstattet. Der Kanton Appenzell I.Rh. hat die Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerden werden gutgeheissen und Dispositiv-Ziffer 2 des angefochtenen
Entscheids vom 7. Dezember 2007 des Kantonsgerichts Appenzell Innerrhoden wird
aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten auferlegt.

3.
Der Kanton Appenzell Innerrhoden hat die Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Appenzell Innerrhoden
schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 15. April 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Féraud Schoder