Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.269/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_269/2008

Urteil vom 30. Januar 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Härri.

Parteien
Y.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Brunner,

gegen

Untersuchungsrichter X.________,
Untersuchungsamt Gossau, Sonnenstrasse 4a,
9201 Gossau, Beschwerdegegner,
Staatsanwalt des Kantons St. Gallen,
Sonnenstrasse 4a, 9201 Gossau.

Gegenstand
Ausstand,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 13. August 2008 der Anklagekammer des
Kantons St. Gallen.
Sachverhalt:

A.
Untersuchungsrichter X.________, Untersuchungsamt Gossau, führt gegen
Y.________ ein Strafverfahren wegen Verdachts der versuchten sexuellen
Nötigung.

Am 19. Oktober 2007 verlangte Y.________ den Ausstand von Untersuchungsrichter
X.________.

Dieser erklärte mit Stellungnahme vom 24. Oktober 2007, er erachte sich nicht
als befangen.

Mit Verfügung vom 20. Dezember 2007 wies der Staatsanwalt des Kantons St.
Gallen das Ausstandsbegehren ab.

B.
Dagegen erhob Y.________ mit Eingabe vom 23. Januar 2008 Beschwerde in
Strafsachen beim Bundesgericht.

Dieses befand mit Urteil vom 2. Juli 2008 (1B_25/2008), Y.________ habe den
kantonalen Instanzenzug nicht ausgeschöpft. Gegen den Entscheid des
Staatsanwalts stehe die Rechtsverweigerungsbeschwerde an die Anklagekammer des
Kantons St. Gallen zur Verfügung. Da die Rechtsmittelbelehrung des
Staatsanwalts mangelhaft war und der Anwalt von Y.________ das zutreffende
Rechtsmittel durch einen blossen Blick in das Gesetz nicht erkennen konnte,
überwies das Bundesgericht die Eingabe vom 23. Januar 2008 der Anklagekammer
zur Beurteilung.

C.
Mit Entscheid vom 13. August 2008 wies die Anklagekammer die
Rechtsverweigerungsbeschwerde ab.

D.
Y.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, der Entscheid der
Anklagekammer sei aufzuheben und der Ausstand von Untersuchungsrichter
X.________ anzuordnen.

E.
Die Anklagekammer hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Untersuchungsrichter X.________ hat auf eine Stellungnahme ebenfalls
verzichtet. Er bemerkt lediglich, er erachte sich auch im jetzigen Zeitpunkt
nicht als befangen.
Der Staatsanwalt hat sich nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht hat die Eingaben der Anklagekammer und von
Untersuchungsrichter X.________ den Beteiligten zur Kenntnisnahme zugestellt.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst
sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht
zu Grunde liegt. Mit anderen Worten kann grundsätzlich jeder Entscheid, der die
Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf
Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in Strafsachen
angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der
Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4313).

Der angefochtene Entscheid betrifft die Verfolgung einer Straftat und stützt
sich auf Art. 23 ff. StPO/SG. Die Beschwerde in Strafsachen ist somit gegeben
(Urteil 1B_25/2008 vom 2. Juli 2008 E. 1.1, mit Hinweis).

1.2 Gegen den angefochtenen Entscheid steht kein kantonales Rechtsmittel zur
Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 BGG zulässig.

1.3 Der Beschwerdeführer ist Beschuldigter. Er hat am vorinstanzlichen
Verfahren teilgenommen und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung
oder Änderung des angefochtenen Entscheids. Er ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a
und lit. b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde befugt.

1.4 Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen selbständig
eröffneten Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren. Dagegen ist die
Beschwerde nach Art. 92 Abs. 1 BGG zulässig.

1.5 Die weiteren Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt, der angefochtene Entscheid verletze Art. 29 Abs.
1 BV.

2.2 Nach der in Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK enthaltenen Garantie
des verfassungsmässigen Richters hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre
Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter
ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Liegen bei objektiver
Betrachtungsweise Gegebenheiten vor, die den Anschein der Befangenheit und die
Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen, ist die Garantie verletzt.

Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK sind bei der Ablehnung eines
Untersuchungsrichters nur anwendbar, wenn dieser ausnahmsweise in richterlicher
Funktion tätig wird und die Rolle eines eigentlichen Richters einnimmt. Nimmt
er jedoch, wie hier, seine Funktion als Strafuntersuchungsbehörde wahr, ist die
Ausstandspflicht ausschliesslich aufgrund von Art. 29 Abs. 1 BV zu beurteilen.

Wohl darf der Gehalt von Art. 30 Abs. 1 BV nicht unbesehen auf nicht
richterliche Behörden bzw. auf Art. 29 Abs. 1 BV übertragen werden.
Hinsichtlich der Unparteilichkeit des Untersuchungsrichters kommt Art. 29 Abs.
1 BV allerdings ein mit Art. 30 Abs. 1 BV weitgehend übereinstimmender Gehalt
zu. Auch ein Untersuchungsrichter kann abgelehnt werden, wenn Umstände
vorliegen, welche objektiv geeignet sind, den Anschein der Befangenheit zu
erwecken (BGE 127 I 196 E. 2b, mit Hinweisen).

2.3 Der Beschwerdeführer stützt seine Rüge auf ein Telefongespräch vom 16.
April 2007 zwischen dem Beschwerdegegner und lic. iur Z.________ vom
Sonderdienst des Amtes für Justizvollzug des Kantons Zürich. Dazu hat
Z.________ eine Aktennotiz verfasst. Danach erkundigte er sich beim
Beschwerdegegner nach dem Stand des Verfahrens. Der Beschwerdegegner habe in
der Folge mitgeteilt, die Anklageschrift sei noch nicht erstellt. Er - der
Beschwerdegegner - denke, dass dies im Laufe des Sommers 2007 soweit sein
werde. Im Weiteren hält Z.________ in der Aktennotiz fest, er bitte um
Zusendung einer Kopie der Anklageschrift, was der Beschwerdegegner zusage.
Der Beschwerdeführer verweist sodann auf ein E-Mail ebenfalls vom 16. April
2007, das Z.________ dem Beschwerdegegner sandte. Danach bezog sich Z.________
auf das erwähnte Telefongespräch und schrieb: "Wie besprochen, bitte ich Sie,
uns eine Kopie der Anklageschrift zuzustellen, sobald Sie diese erstellt bzw.
überwiesen haben."
Der Beschwerdeführer macht geltend, daraus ergebe sich, dass für den
Beschwerdegegner zum Zeitpunkt des Telefongesprächs bereits festgestanden habe,
dass er Anklage erheben werde. Damit habe sich der Beschwerdegegner in Bezug
auf den Verfahrensabschluss in unzulässiger Weise festgelegt und den Anschein
der Voreingenommenheit erweckt.

2.4 Über das Telefongespräch vom 16. April 2007 hat auch der Beschwerdegegner
eine Aktennotiz verfasst. Danach habe Z.________ angerufen und sich nach dem
Zeitpunkt des Verfahrensabschlusses erkundigt. Er - der Beschwerdegegner - habe
ihm erklärt, dass das Verfahren noch einige Monate dauern dürfte. Für den Fall
der Anklageerhebung wünsche Z.________ eine Kopie der Anklageschrift.

Ginge man von dieser Darstellung aus, wäre die Rüge der Verletzung von Art. 29
Abs. 1 BV von vornherein unbegründet; denn der Beschwerdegegner hielt in seiner
Notiz ausdrücklich fest, Z.________ wünsche für den Fall der Anklageerhebung
eine Kopie der Anklageschrift.

Eine Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV wäre nach der zutreffenden Auffassung der
Vorinstanz aber auch dann zu verneinen, wenn man annehmen wollte, der
Beschwerdegegner habe sich so ausgedrückt, wie das Z.________ in seiner Notiz
über das Telefongespräch vom 16. April 2007 und dem E-Mail festgehalten hat.
Zwar spricht die Darstellung von Z.________ dafür, der Beschwerdegegner sei in
jenem Zeitpunkt davon ausgegangen, es werde Anklage erhoben. Allein aus dem
Umstand, dass der Beschwerdegegner mit einer Anklageerhebung rechnete, kann
jedoch nicht auf seine Voreingenommenheit geschlossen werden. Es ist
unvermeidlich, dass sich der Untersuchungsrichter laufend Gedanken über den
mutmasslichen Fortgang des Verfahrens macht. Je weiter die Untersuchung
fortgeschritten ist, desto eher muss er sich auch Gedanken über den Abschluss
des Verfahrens machen (Aufhebung des Verfahrens, Erlass eines Strafbefehles,
Anklageerhebung beim Gericht oder Einstellung des Verfahrens), hat er doch,
wenn er die Untersuchung als vollständig erachtet, gemäss Art. 179 Abs. 1 StPO/
SG den Parteien die in Aussicht genommene Verfahrenserledigung mitzuteilen.
Diese Mitteilung erfolgte am 25. Juli 2007.

Das Strafverfahren ist seit April 2006 hängig. Ob eine Untersuchung als
vollständig zu erachten ist, ist letztlich eine Frage des Ermessens. Es ist
nicht ersichtlich, dass zum Zeitpunkt des Telefongesprächs Mitte April 2007
noch wesentliche Schritte der Untersuchung bevorstanden. Der Beschwerdeführer
nennt denn auch keine solchen. Er spricht lediglich vage von
abklärungsbedürftigen Hinweisen, wonach die Zeugin A.________ - das
mutmassliche Opfer - von zurzeit noch unbekannter Seite Informationen erhalten
habe, die wohl ihre Aussagen beeinflusst hätten; ebenso davon, dass die
Sachdarstellung der Zeugin mit der bei ihm operativ herbeigeführten
Rückenversteifung unvereinbar sei. Er legt jedoch nicht dar, welche weiteren
konkreten Untersuchungshandlungen sachdienlich wären. Sodann will er zwischen
Aussagen verschiedener Zeugen Widersprüche und bei der Zeugin A.________ - an
deren Sachdarstellung ein Polizeibeamter Zweifel geäussert habe -
Aggravationstendenzen ausgemacht haben. Es ist indessen die Aufgabe des
Untersuchungsrichters, die bisherigen Beweise, insbesondere die Aussagen, zu
würdigen. Kommt er dabei zum Schluss, es sei Anklage zu erheben, bedeutet das
keine Voreingenommenheit. Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, was den
Schluss nahe legen könnte, die Einschätzung, es sei Anklage zu erheben, sei
offensichtlich verfrüht erfolgt, was allenfalls auf Voreingenommenheit hätte
hindeuten können.

3.
Die Beschwerde ist danach unbegründet und abzuweisen.

Da sie aussichtslos war, kann die unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung nach Art. 64 BGG nicht bewilligt werden. Der Beschwerdeführer
trägt damit die Kosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft und der Anklagekammer
des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. Januar 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Härri