Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.25/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_25/2008 /daa

Urteil vom 2. Juli 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Härri.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Brunner,

gegen

Untersuchungsrichter Christian Bächle, Untersuchungsamt Gossau, Sonnenstrasse
4a,
9201 Gossau, Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ausstand; Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs; Rechtsmittelbelehrung,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 20. Dezember 2007 des Staatsanwalts des
Kantons St. Gallen.

Sachverhalt:

A.
Untersuchungsrichter Christian Bächle, Untersuchungsamt Gossau, führt gegen
X.________ ein Strafverfahren wegen Verdachts der versuchten sexuellen
Nötigung.

Am 19. Oktober 2007 verlangte X.________ den Ausstand von Untersuchungsrichter
Bächle.

Dieser erklärte mit Stellungnahme vom 24. Oktober 2007, er erachte sich nicht
als befangen.

Mit Verfügung vom 20. Dezember 2007 wies der Staatsanwalt des Kantons St.
Gallen das Ausstandsbegehren ab.

B.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die Verfügung des
Staatsanwalts vom 20. Dezember 2007 sei aufzuheben und der Ausstand von
Untersuchungsrichter Bächle anzuordnen.

C.
Untersuchungsrichter Bächle hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Der Staatsanwalt des Kantons St. Gallen hat sich vernehmen lassen mit dem
Antrag, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Er legt dar, der
Beschwerdeführer habe den kantonalen Instanzenzug nicht ausgeschöpft.

D.
X.________ hat Bemerkungen zur Vernehmlassung des Staatsanwalts eingereicht.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst
sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht
zu Grunde liegt. Mit anderen Worten kann grundsätzlich jeder Entscheid, der die
Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf
Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in Strafsachen
angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der
Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4313).

Der angefochtene Entscheid betrifft die Verfolgung einer Straftat und stützt
sich auf Art. 23 ff. StPO/SG. Die Beschwerde in Strafsachen ist somit
grundsätzlich gegeben (vgl. ebenso Urteil 1B_60/2007 vom 21. September 2007 E.
1).
1.2
1.2.1 Gemäss Art 80 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde zulässig gegen Entscheide
letzter kantonaler Instanzen.

Der Staatsanwalt legt in der Vernehmlassung dar, gegen den angefochtenen
Entscheid wäre mit der Rechtsverweigerungsbeschwerde nach Art. 254 ff. StPO/SG
an die Anklagekammer des Kantons St. Gallen ein kantonales Rechtsmittel zur
Verfügung gestanden. Der Beschwerdeführer habe davon keinen Gebrauch gemacht.
Im Verfahren der Rechtsverweigerungsbeschwerde prüfe die Anklagekammer die
Auslegung und Anwendung der massgebenden Rechtsnormen frei. Die Beschwerde
richte sich somit nicht gegen einen Entscheid einer letzten kantonalen Instanz
im Sinne von Art. 80 Abs. 1 BGG.
1.2.2 Das Erfordernis der Letztinstanzlichkeit bezweckt die Entlastung des
Bundesgerichts von Streitfällen, welche eventuell auf kantonaler Ebene zur
Zufriedenheit der Betroffenen gelöst werden können und dient der Schonung der
kantonalen Souveränität, indem es den kantonalen Behörden ermöglicht,
allfällige Bundesrechtswidrigkeiten selber zu beheben, bevor das Bundesgericht
korrigierend eingreift (vgl. BGE 114 Ia 263 E. 2c S. 266; Walter Kälin, Das
Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl., Bern 1994, S. 327).

Letztinstanzlich ist ein Entscheid, wenn die Rüge, die Inhalt der Beschwerde an
das Bundesgericht sein soll, bei keiner kantonalen Instanz mehr vorgebracht
werden kann. Das heisst, es darf im Kanton kein Rechtsbehelf irgendwelcher Art
mehr zur Verfügung stehen. Die Möglichkeit der Anfechtung im Kanton schliesst
jedoch die Beschwerde an das Bundesgericht nur aus, wenn auf die Entscheidung
der kantonalen Instanz ein Rechtsanspruch besteht (vgl. BGE 119 Ia 237 E. 2b S.
238 f., mit Hinweisen).
1.2.3 Gemäss Art. 254 Abs. 1 lit. c StPO/SG ist die
Rechtsverweigerungsbeschwerde unter anderem zulässig, wenn der Staatsanwalt bei
Ausübung der Befugnisse willkürlich handelt. Über
Rechtsverweigerungsbeschwerden gegen den Staatsanwalt entscheidet nach Art. 255
StPO/SG die Anklagekammer des Kantons St. Gallen. Gemäss Art. 256 Abs. 1 StPO/
SG reicht der Beschwerdeführer die Rechtsverweigerungsbeschwerde innert
vierzehn Tagen nach Zustellung des angefochtenen Entscheids der
Beschwerdeinstanz schriftlich ein.

Die auf Willkür beschränkte Kognition gelangt bei
Rechtsverweigerungsbeschwerden ohne Weiteres zur Anwendung, soweit es um den
Sachverhalt bzw. um die Würdigung der Beweise geht. Hingegen ist bei Eingriffen
in verfassungs- oder konventionsmässig gewährleistete Rechte - insbesondere bei
Rechtsverweigerungsbeschwerden gegen Ausstandsentscheide des Staatsanwalts - im
Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung der
massgebenden Rechtsnormen frei zu prüfen (Niklaus Oberholzer, Grundzüge des
Strafprozessrechts, dargestellt am Beispiel des Kantons St. Gallen, 2. Aufl.,
Bern 2005, S. 715 N. 1736, mit Hinweis).

Die Ausführungen des Staatsanwalts in der Vernehmlassung treffen somit zu. Dem
Beschwerdeführer wäre gegen den angefochtenen Entscheid die
Rechtsverweigerungsbeschwerde an die Anklagekammer des Kantons St. Gallen offen
gestanden.

Dies ergibt sich auch aus dem Urteil des Bundesgerichtes 1P.766/2000 vom 18.
Mai 2001 (publ. in: ZBl 103/2002 S. 276). Dort stellte die Beschuldigte gegen
einen st. gallischen Untersuchungsrichter ein Ausstandsbegehren. Dieses wies
der Staatsanwalt ab. Dagegen erhob die Beschuldigte
Rechtsverweigerungsbeschwerde bei der Anklagekammer, welche die Beschwerde
abwies, soweit sie darauf eintrat. Die Anklagekammer kam zum Schluss, weder die
von der Beschuldigten gerügten Untersuchungshandlungen noch die
Untersuchungsführung im Allgemeinen wiesen auf eine Befangenheit des
Untersuchungsrichters hin. Erst im Anschluss an den Entscheid der Anklagekammer
führte die Beschuldigte (staatsrechtliche) Beschwerde beim Bundesgericht.
Kantonal letztinstanzlich war somit der Entscheid der Anklagekammer, nicht
jener des Staatsanwalts.

Die Anklagekammer hätte, wie sich aus den Darlegungen von Oberholzer und der
Vernehmlassung des Staatsanwalts ergibt, die Anwendung der massgebenden
Rechtsnormen frei geprüft. Auf einen Entscheid der Anklagekammer hätte der
Beschwerdeführer nach Art. 258 StPO/SG Anspruch gehabt (GVP 2000 Nr. 64 S. 158
E. 1).

Das Bundesgericht verzichtet nach ständiger Praxis auf das Erfordernis der
Erschöpfung des Instanzenzuges, wenn an der Zulässigkeit eines kantonalen
Rechtsmittels ernsthafte Zweifel bestehen (BGE 1C_451/2007 vom 17. März 2008 E.
1.3, mit Hinweisen). Solche Zweifel bestehen nach dem Gesagten hier nicht.
1.2.4 Gemäss Art. 49 BGG dürfen den Parteien aus mangelhafter Eröffnung,
insbesondere wegen unrichtiger oder unvollständiger Rechtsmittelbelehrung oder
wegen Fehlens einer vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung, keine Nachteile
erwachsen.

Wird wegen einer unrichtigen, unvollständigen oder fehlenden Belehrung ein
falsches Rechtsmittel ergriffen, kann die Sache daher von Amtes wegen an die
zuständige Instanz überwiesen werden. Allerdings geniesst nur Vertrauensschutz,
wer den Mangel der Rechtsmittelbelehrung nicht kennt und ihn auch bei
gebührender Aufmerksamkeit nicht hätte erkennen können. Rechtsuchende geniessen
keinen Vertrauensschutz, wenn der Mangel für sie bzw. ihren Rechtsvertreter
allein schon durch Konsultierung der massgeblichen Verfahrensbestimmung
ersichtlich ist. Dagegen wird nicht verlangt, dass neben den Gesetzestexten
auch noch die einschlägige Rechtsprechung oder Literatur nachgeschlagen wird
(BGE 1C_451/2007 vom 17. März 2008 E. 1.3.1; 132 I 92 E. 1.6 S. 96, mit
Hinweisen).

Der angefochtene Entscheid enthält folgende Rechtsmittelbelehrung: "Gegen
diesen Entscheid ist kein ordentliches Rechtsmittel gegeben."

Die Rechtsverweigerungsbeschwerde gemäss Art. 254 ff. StPO/SG stellt nach dem
st. gallischen Recht ein ausserordentliches Rechtsmittel dar (Oberholzer,
a.a.O., S. 711 N. 1723; GVP 2000 Nr. 64 S. 158 E. 1). Die Rechtsmittelbelehrung
im angefochtenen Entscheid ist insofern nicht unrichtig.

Gemäss Art. 76 Abs. 1 des Gerichtsgesetzes des Kantons St. Gallen vom 2. April
1987 (sGS 941.1) ist richterlichen Entscheiden eine Belehrung über das
zulässige Rechtsmittel und dessen Formerfordernisse beizufügen. Auf die
Möglichkeit unter anderem der Rechtsverweigerungsbeschwerde muss nicht
hingewiesen werden.

Muss bei einem richterlichen Entscheid nicht auf die Möglichkeit der
Rechtsverweigerungsbeschwerde hingewiesen werden, kann bei einem Entscheid des
Staatsanwalts wie hier nichts anderes gelten. Im Lichte von Art. 76 Abs. 1 des
st. gallischen Gerichtsgesetzes kann die Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen
Entscheid damit auch nicht als unvollständig bezeichnet werden.

Zu berücksichtigen ist jedoch das Bundesrecht, welches gemäss Art. 49 Abs. 1 BV
entgegenstehendem kantonalem Recht vorgeht.

Gemäss Art. 111 Abs. 3 Satz 1 BGG muss die unmittelbare Vorinstanz des
Bundesgerichts mindestens die Rügen nach den Artikeln 95-98 BGG prüfen können.
Das ist hier bei der Anklagekammer nach dem Gesagten der Fall. Das Verfahren
vor der Anklagekammer genügt damit den Anforderungen des
Bundesgerichtsgesetzes. Die Anklagekammer wäre nicht befugt, ihre
Prüfungsbefugnis während der Übergangsfrist nach Art. 130 Abs. 1 BGG in
Abweichung von der bisherigen Praxis einzuschränken (BGE 134 I 125 E. 3.5 S.
135 f.; Urteil 1B_264/2007 vom 20. Juni 2008 E. 2). Die gegen den Entscheid der
Anklagekammer gegebene Beschwerde in Strafsachen stellt nach dem Sprachgebrauch
des Bundesgerichtsgesetzes ein ordentliches Rechtsmittel dar (vgl. Art. 119
Abs. 1 BGG). Kommt der Anklagekammer die gleiche Prüfungsbefugnis zu wie dem
Bundesgericht, spricht dies dafür, die kantonale Rechtsverweigerungsbeschwerde
hier materiell ebenfalls als ordentliches Rechtsmittel einzustufen. Im Lichte
des Bundesgerichtsgesetzes muss deshalb die Rechtsmittelbelehrung im
angefochtenen Entscheid zumindest als irreführend bezeichnet werden.

Hinzu kommt Folgendes: Gemäss Art. 112 Abs. 1 lit. d BGG müssen Entscheide, die
der Beschwerde an das Bundesgericht unterliegen, eine Rechtsmittebelehrung
enthalten. Diese muss das zulässige Rechtsmittel nennen (Bernhard Ehrenzeller,
in: Niggli/Uebersax/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar zum
Bundesgerichtsgesetz, 2008, Art. 112 BGG N. 10). Es muss also (positiv)
angegeben werden, welches Rechtsmittel gegeben ist und nicht (negativ), welches
oder welche Rechtsmittel nicht gegeben sind. Dies folgt auch aus dem Grundsatz
von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV). Im Lichte des Bundesrechts
hätte somit der Staatsanwalt im angefochtenen Entscheid den Beschwerdeführer
(positiv) darüber belehren müssen, dass dagegen die
Rechtsverweigerungsbeschwerde gemäss Art. 254 ff. StPO/SG an die Anklagekammer
zur Verfügung steht. Weiss - wie sich aus der Vernehmlassung ergibt - der
Staatsanwalt genau, welches Rechtsmittel gegen seinen Entscheid gegeben ist,
soll er das dem Betroffenen in der Rechtsmittelbelehrungen sagen. Es
widerspricht Treu und Glauben, dem Beschwerdeführer mit einer rudimentären
Rechtsmittelbelehrung wie hier die wesentliche Information - welches
Rechtsmittel im Einzelnen gegeben ist - vorzuenthalten, um ihm nachher
vorzuwerfen, er habe ein ihm zur Verfügung stehendes Rechtsmittel nicht
ergriffen.

Aufgrund des dem kantonalen Recht vorgehenden Bundesrechts muss demnach die im
angefochtenen Entscheid enthaltene Rechtsmittelbelehrung als mangelhaft
beurteilt werden.

Es stellt sich die Frage, ob der Anwalt des Beschwerdeführers das zutreffende
Rechtsmittel durch einen einfachen Blick in das Gesetz hätte erkennen können.
Wie dargelegt, ist nach dem Wortlaut von Art. 254 Abs. 1 lit. c StPO/SG die
Rechtsverweigerungsbeschwerde zulässig, wenn der Staatsanwalt bei Ausübung der
Befugnisse willkürlich handelt. Der Beschwerdeführer macht aber keine Willkür
(Art. 9 BV) geltend, sondern eine Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV. Dass die
Anklagekammer insoweit die Beschwerde prüft, konnte sein Anwalt nicht dem
Gesetz entnehmen. Vielmehr hätte er, um dies zu erkennen, die Literatur
(Oberholzer, a.a.O., S. 715 N. 1736) konsultieren müssen. Dazu war er nach der
dargelegten Rechtsprechung nicht gehalten.

Die Beschwerde wird deshalb der Anklagekammer zur Behandlung überwiesen. Das
bundesgerichtliche Verfahren ist damit als gegenstandslos am
Geschäftsverzeichnis abzuschreiben (vgl. BGE 1C_451/2007 vom 17. März 2008 E.
1.3.2; 132 I 92 E. 1.6 S. 96, mit Hinweisen).

2.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind weder Kosten zu erheben noch eine
Parteientschädigung zuzusprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Eingabe des Beschwerdeführers vom 23. Januar 2008 wird der Anklagekammer
des Kantons St. Gallen zur Behandlung überwiesen.

2.
Das bundesgerichtliche Verfahren 1B_25/2008 wird als gegenstandslos geworden am
Geschäftsverzeichnis abgeschrieben.

3.
Es werden weder Gerichtskosten erhoben noch eine Parteientschädigung
zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Staatsanwalt und der Anklagekammer des
Kantons St. Gallen (unter Beilage der Eingabe gemäss Ziffer 1 und der
kantonalen Akten) schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 2. Juli 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Härri