Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.244/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_244/2008 /daa

Urteil vom 15. September 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Scherrer.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Lukas Künzli,

gegen

Staatsanwaltschaft See/Oberland, Wilstrasse 11, Postfach, 8610 Uster.

Gegenstand
Sicherheitshaft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 29. August 2008 des Bezirksgerichts Uster,
Einzelrichter in Haftsachen.

Sachverhalt:

A.
X.________ wurde am 30. November 2007 in Untersuchungshaft versetzt, nachdem er
bei seiner Verhaftung tags zuvor 59.9 Gramm Kokain (bei einem Reinheitsgehalt
von 52 %, was 32 Gramm reinem Kokain entspricht) im Darmtrakt mit sich trug.
Die Untersuchungshaft wurde vom Einzelrichter in Haftsachen des Bezirksgerichts
Uster letztmals mit Verfügung vom 29. Mai 2008 verlängert. Am 20. August 2008
fand die Schlusseinvernahme durch die Staatsanwaltschaft statt.

B.
Mit Eingabe vom 21. August 2008 beantragte der Angeschuldigte dem Haftrichter
des Bezirks Uster die sofortige Haftentlassung, respektive, es sei von der
Anordnung von Sicherheitshaft abzusehen. Der Einzelrichter überwies diese
Eingabe (vorab per Fax) mit Verfügung vom 26. August 2008 zuständigkeitshalber
der Staatsanwaltschaft im Sinne eines Haftentlassungsgesuchs. Letztere hatte am
22. August 2008 die Anklageschrift verfasst und Antrag auf Anordnung der
Sicherheitshaft und Schuldigsprechung wegen des Verstosses gegen das
Betäubungsmittelgesetz im Sinne von Art. 19 Ziff. 1 Abs. 5 BetmG i.V.m. Art. 19
Ziff. 2 lit. a BetmG gestellt. Die Anklageschrift wurde dem Bezirksgericht
Uster am 26. August 2008 um 16.30 Uhr überbracht. Als der Angeschuldigte am 27.
August 2008 von der Anklageerhebung Kenntnis erhielt, zog er sein
Haftentlassungsgesuch vom 21. August 2008 zurück und gelangte mit Eingabe
gleichen Datums erneut an das Haftrichteramt des Bezirks Uster mit dem Antrag,
die Eingabe vom 21. August 2008 sei bei Anordnung der Sicherheitshaft als
Stellungnahme zu berücksichtigen und es sei von der Anordnung der
Sicherheitshaft abzusehen. Eventualiter sei der Angeschuldigte vor der
Anordnung der Sicherheitshaft persönlich anzuhören.

C.
Mit Verfügung vom 29. August 2008 versetzte der Haftrichter des Bezirksgerichts
Uster den Angeschuldigten in Sicherheitshaft und begründete diese mit
Fluchtgefahr. Das Gesuch um mündliche Anhörung wies er ab.

D.
X.________ ersucht mit Eingabe vom 2. September 2008 um Aufhebung der
haftrichterlichen Verfügung und um Haftentlassung. Eventualiter sei die
angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache an den zuständigen Haftrichter
zur neuen Entscheidung zurückzuweisen, dies mit der Anweisung, den
Beschwerdeführer persönlich anzuhören. Gleichzeitig stellt der Beschwerdeführer
ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.

Die Staatsanwaltschaft See/Oberland und der Haftrichter des Bezirksgerichts
Uster verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Eintretensvoraussetzungen sind erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen
Anlass.

2.
Der Beschwerdeführer ficht den Entscheid vom 29. August 2008 u.a. wegen
Verletzung des rechtlichen Gehörs an. Da dieser Anspruch formeller Natur ist,
rechtfertigt es sich, diese Rüge vorab zu prüfen.

2.1 § 61 Abs. 2 des Zürcher Gesetzes betreffend den Strafprozess vom 4. Mai
1919 (StPO/ZH; LS 321) hält den Anspruch des Inhaftierten auf persönliche
Anhörung durch den Haftrichter fest. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung
beschränkt das Zürcher Strafprozessrecht diesen Anspruch nicht auf das
Verfahren der ersten Haftanordnung, sondern gewährt diesen auch bei
Haftprüfungen gestützt auf Haftentlassungsgesuche (siehe § 65 Abs. 2 StPO/ZH)
und bei Gesuchen um Entlassung aus der Sicherheitshaft (vgl. § 68 Satz 3 StPO/
ZH; BGE 125 I 113 E. 2b S. 116; Urteil 1B_171/2008 des Bundesgerichts vom 24.
Juli 2008 E. 3.2 und 3.3 mit Hinweisen).

2.2 Indes sieht § 67 Abs. 2 Satz 2 StPO/ZH im Zusammenhang mit der Anordnung
von Sicherheitshaft ausdrücklich vor, dass der Angeklagte, welcher sich bis zur
Anklageerhebung in Untersuchungshaft befand, nicht einvernommen wird und dass
keine Beweise abgenommen werden. Wird gegen den Entscheid des Haftrichters über
die Anordnung der Sicherheitshaft das in § 68 StPO/ZH vorgesehene Rechtsmittel
(Gesuch um Aufhebung der Sicherheitshaft) erhoben, so ist in diesem
Rechtsmittelverfahren die Vorschrift von § 61 StPO/ZH wiederum anwendbar, das
Recht auf persönliche Anhörung dann also gewährleistet.

Die in § 67 Abs. 2 StPO/ZH geschilderte Konstellation liegt hier vor: Mit dem
Entscheid vom 29. August 2008 wurde erstmals die Sicherheitshaft angeordnet.
Der Haftrichter musste die Eingabe des Beschwerdeführers vom 27. August 2008
nicht als Entlassungsgesuch aus der Sicherheitshaft im Sinne von § 68 StPO/ZH
werten. Einerseits hatte der Beschwerdeführer sein Haftentlassungsgesuch vom
21. August 2008 formell zurückgezogen, andererseits bezeichnete er seine
Eingabe selber ausdrücklich als "Stellungnahme" zur etwaigen Anordnung von
Sicherheitshaft. Zudem wurde die Sicherheitshaft erst am 29. August 2008, also
nach Eingang der beschwerdeführerischen Eingabe, angeordnet. Demnach war aber
der Haftrichter nicht zur mündlichen Anhörung gehalten. Auch dauerte die
Untersuchungshaft im Zeitpunkt der Anklageerhebung am 26. August 2008 noch an.
Die Darstellung des Beschwerdeführers, wonach die Untersuchungshaft am 29.
August 2008 ablief und deshalb kein Fall von § 67 Abs. 2 StPO/ZH vorlag, vermag
nicht zu überzeugen.

2.3 Wie das Bundesgericht im Urteil 1P.490/1996 vom 3. Oktober 1996 in E. 2
festgehalten hat, lässt sich der in § 67 Abs. 2 StPO vorgesehene Verzicht auf
Anhörung des Angeklagten dann wohl nicht rechtfertigen, wenn dieser erst nach
Erhebung der Anklage in Haft genommen werden soll. In der Regel befindet sich
der Angeschuldigte indessen - wie das hier zutraf - bei Anklageerhebung bereits
in Haft, und in einem solchen Fall ist es nicht verfassungswidrig, wenn die
nach § 67 Abs. 1 StPO zuständige Instanz über die Anordnung der Sicherheitshaft
bzw. Fortdauer des Freiheitsentzugs aufgrund der Akten, d.h. ohne Verhandlung
und persönliche Anhörung des Betroffenen, entscheidet. Aus Art. 29 BV ergibt
sich kein Rechtsanspruch des Untersuchungs- oder Sicherheitsgefangenen, vor
jeder Hafterstreckung persönlich angehört zu werden.

2.4 Demnach ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu verneinen. Der
Haftrichter hat sich zu Recht auf § 67 Abs. 2 StPO/ZH berufen.

3.
Der dringende Tatverdacht wird vom Beschwerdeführer nicht bestritten. Er stellt
jedoch das Vorliegen des besonderen Haftgrundes der Fluchtgefahr in Abrede.

3.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes braucht es für die Annahme von
Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte,
wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe durch
Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein Indiz für
Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um den
Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden
Falles, insbesondere die gesamten Lebensverhältnisse des Angeschuldigten, in
Betracht gezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70, je
mit Hinweisen). Zu berücksichtigen sind beispielsweise die familiären und
sozialen Bindungen des Häftlings, dessen berufliche Situation und Schulden
sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches. Auch bei einer befürchteten Ausreise
in ein Land, das den Beschuldigten grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw.
stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht
ausgeschlossen (BGE 123 I 31 E. 3d S. 36 f.).

3.2 Der Haftrichter hält im angefochtenen Entscheid dafür, da der
Angeschuldigte eine längere Freiheitsstrafe zu gewärtigen habe, sei zu
befürchten, dass er im Falle einer Freilassung die Schweiz verlasse oder
innerhalb der Schweiz untertauche. Zur Begründung führt der Haftrichter weiter
an, der Beschwerdeführer sei zwar mit einer Schweizerin verheiratet, habe einen
Sohn und verfüge somit über eine gewisse Bindung zur Schweiz. Andererseits habe
er aber im Verlaufe der Untersuchung erwähnt, er lebe aufgrund von Eheproblemen
nicht mehr mit seiner Frau zusammen. Zudem habe er starke verwandtschaftliche
Bindungen mit seiner Heimat Nigeria, wo insbesondere seine Geschwister lebten,
er den Grossteil seines Lebens verbracht sowie seine Ehefrau kennen gelernt und
geheiratet habe.

3.3 Selbst wenn der Beschwerdeführer behauptet, die Eheprobleme seien lediglich
vorübergehender Natur und er habe seine Ehefrau nicht in Nigeria kennen
gelernt, sondern lediglich dort geheiratet, weil sein Asylgesuch abgelehnt
worden sei, lässt dies die Erwägungen des Haftrichters nicht als
verfassungswidrig erscheinen. Die Eheprobleme hat der Beschwerdeführer in der
Einvernahme vom 30. November 2007 selber zur Sprache gebracht. Daran ändert
nichts, dass er zugleich angefügt hat, die Eheleute planten, dass er in die
Wohnung zurückkehre (Act. 4/2 S. 3). Ob die Ehefrau gleicher Meinung ist,
bleibt offen. Was seine familiären Bindungen anbelangt, hat er selber in der
nämlichen Einvernahme vom 30. November 2007 behauptet, er habe ein zweites
Telefon gekauft, weil er dieses seiner Schwester in Afrika bringen wolle. Ob
dies der wirkliche Beweggrund war, mag ebenfalls dahingestellt bleiben.
Jedenfalls steht er in Kontakt mit seiner Familie in Afrika, was er auch nicht
bestreitet. Der Haftrichter hat überdies nicht nur auf eine Flucht ins Ausland
abgestellt, sondern auch ein Untertauchen in der Schweiz als plausibel
erachtet.

3.4 Nicht zu beurteilen hat das Bundesgericht bei der Prüfung der Anordnung von
Sicherheitshaft, ob die vom Staatsanwalt in der Anklageschrift beantragte
Freiheitsstrafe "überrissen" sei, wie der Beschwerdeführer geltend macht. Der
Haftrichter durfte aufgrund der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Delikte
jedenfalls von einer längeren Freiheitsstrafe ausgehen und diese als Motiv für
eine etwaige Flucht werten. Die vom Beschwerdeführer dazu angestellten
Überlegungen, wonach ihn höchstens eine Strafe von 14-15 Monaten erwarte, sind
im jetzigen Zeitpunkt spekulativer Natur. Gleiches gilt für die Behauptung des
Beschwerdeführers, der Staatsanwalt habe sich bei der Festsetzung des
Strafrahmens von sachfremden Kriterien leiten lassen. Es handelt sich hierbei
um durch nichts belegte Annahmen des Beschwerdeführers, welche im anhängigen
Verfahren nicht zu prüfen sind.

3.5 Auch ist dem Haftrichter nicht vorzuwerfen, dass er die Anordnung von
Ersatzmassnahmen als untauglich erachtet hat. Der Beschwerdeführer wurde mit am
15. Januar 2004 und 20. April 2005 eröffneten Urteilen des Gerichtskreises VIII
Bern-Laupen zweimal der Missachtung von Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht für
schuldig befunden. Deshalb durfte der Haftrichter davon ausgehen, dass eine
Schriftensperre oder Meldepflicht den Beschwerdeführer nicht von einer Flucht
abhalten würden.

3.6 Zusammenfassend ist dem Haftrichter keine Verfassungswidrigkeit
vorzuwerfen, wenn er den besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr als gegeben
erachtet hat.

4.
Daraus ergibt sich, dass die Beschwerde abzuweisen ist. Der Beschwerdeführer
hat um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ersucht.
Diesem Antrag kann entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Lukas Künzli, Wangen, wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft See/Oberland
und dem Bezirksgericht Uster, Einzelrichter in Haftsachen, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 15. September 2008

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Féraud Scherrer