Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.234/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_234/2008 /daa

Urteil vom 8. September 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Forster.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Michel Maiullari,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Postfach 2254, 5001 Aarau.

Gegenstand
Haftentlassung,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 14. Juli 2008 des Obergerichts des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A.
Mit Urteil vom 15. Mai 2008 sprach das Bezirksgericht Baden, 2. Abteilung,
X.________ der versuchten Erpressung, der mehrfachen Nötigung, des Missbrauchs
einer Fernmeldeanlage und des Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen schuldig.
Es verurteilte ihn dafür zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 15 Monaten
(unter Anrechnung der erstandenen strafprozessualen Haft von 298 Tagen).
Gleichzeitig widerrief das Gericht den dem Verurteilten mit Urteil des
Bezirksamtes Baden vom 21. September 2006 gewährten bedingten Strafvollzug für
90 Tage Gefängnis (unter Anrechnung von sechs Tagen Untersuchungshaft). Ebenso
verfügte das erkennende Strafgericht am 15. Mai 2008, dass der Verurteilte zur
Sicherung des Strafvollzuges in strafprozessualer Haft verbleibe.

B.
Mit Schreiben vom 28. Mai 2008 verlangte der Verurteilte die vollständige
Urteilsausfertigung. Gleichentags beantragte er beim Bezirksgericht Baden seine
"bedingte Entlassung" aus der Haft. Der Präsident des Bezirksgerichtes Baden,
2. Abteilung, behandelte die Eingabe als strafprozessuales
Haftentlassungsgesuch, welches er mit Verfügung vom 18. Juni 2008 abwies. Eine
vom Inhaftierten dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht,
Beschwerdekammer in Strafsachen, am 14. Juli 2008 ebenfalls ab, soweit es
darauf eintrat.

C.
Gegen den Entscheid des Obergerichtes vom 14. Juli 2008 gelangte X.________ mit
Beschwerde vom 14. (Posteingang: 19.) August 2008 ans Bundesgericht. Er
beantragt neben seiner Haftentlassung die Aufhebung des angefochtenen
Entscheides. Am 25. bzw. 27. August 2008 (Posteingänge) verzichteten die
Staatsanwaltschaft und das Obergericht je auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist hier kein vollzugsrechtlicher Entscheid betreffend Verweigerung
der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug. Das Strafurteil vom 15. Mai 2008
ist noch nicht rechtskräftig, weshalb noch kein Strafvollzug angeordnet wurde.
Die kantonalen Instanzen haben die Eingaben des Beschwerdeführers zutreffend
als Rechtsbegehren um Entlassung aus der (strafprozessualen) Sicherheitshaft
behandelt. Die Vorinstanz bejahte im angefochtenen Entscheid den Haftgrund der
Wiederholungsgefahr und sie verneinte das Vorliegen von strafprozessualer
Überhaft.

Die Eintretenserfordernisse von Art. 78 ff. BGG (vgl. BGE 133 I 270 E. 1.1 S.
272 f. mit Hinweisen) geben hier zu keinen Bemerkungen Anlass.

2.
Der Beschwerdeführer bestreitet zum einen den besonderen Haftgrund der
Wiederholungsgefahr. Zum anderen macht er geltend, die bisher absolvierte
strafprozessuale Haftdauer sei unverhältnismässig und verletze das
Willkürverbot sowie das verfassungsmässige Individualrecht der persönlichen
Freiheit, weshalb er freizulassen sei.

Im Strafverfahren, das zum rechtskräftigen Strafurteil vom 21. September 2006
führte (Widerruf des bedingten Strafvollzuges), habe er bereits 2006
Untersuchungshaft absolviert. Im nachfolgenden Verfahren (mit erstinstanzlichem
Urteil vom 15. Mai 2008) sei er (Anfang Juni 2008 und anschliessend
ununterbrochen seit 25. Juli 2008) erneut von strafprozessualer Haft betroffen
gewesen. Diese müsse von Verfassung wegen "so kurz wie möglich" gehalten
werden, was hier nicht gewährleistet sei. Vielmehr bestehe die "Gefahr, dass
der bundesgerichtliche Entscheid wie auch der Berufungsentscheid des
Obergerichtes" nicht mehr zu einer rechtzeitigen Haftentlassung führten. Es sei
geboten, "die Frage der Haftentlassung im vorliegenden Verfahren so dringend
wie möglich" zu behandeln.

Die Vorinstanz habe im angefochtenen Entscheid zu wenig berücksichtigt, dass
er, der Beschwerdeführer (nach Ablauf von zwei Dritteln einer allfälligen
vollziehbaren Freiheitsstrafe) gute Aussichten auf bedingte Entlassung aus dem
Strafvollzug habe. In der neueren Praxis des Bundesgerichtes werde betont, dass
die bedingte Entlassung (nach Art. 86 Abs. 1 StGB) die Regel und ihre
Verweigerung die Ausnahme darstelle. Bereits im kantonalen
Haftprüfungsverfahren habe er einen Bericht des Bezirksgefängnisses Unterkulm
eingereicht, der ihm eine gute Führung während des mehr als einjährigen
Haftvollzuges bescheinige. Auch aus dem psychiatrischen Gutachten der
Psychiatrischen Dienste Aargau vom 18. Februar 2008 ergebe sich "insgesamt eine
günstige Prognose".

3.
Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in strafprozessualer
Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist
richterlich abgeurteilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlassen
zu werden. Eine übermässige Haftdauer stellt eine unverhältnismässige
Beschränkung dieses Grundrechts dar. Sie liegt dann vor, wenn die Haftfrist die
mutmassliche Dauer der zu erwartenden freiheitsentziehenden Sanktion
übersteigt. Bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Haftdauer ist
namentlich der Schwere der untersuchten Straftaten Rechnung zu tragen. Der
Richter darf die Haft nur so lange erstrecken, als sie nicht in grosse
zeitliche Nähe der (im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung) konkret zu
erwartenden Dauer der freiheitsentziehenden Sanktion rückt (BGE 133 I 168 E.
4.1 S. 170, 270 E. 3.4.2 S. 281, je mit Hinweisen).

Nach der Rechtsprechung ist bei der Prüfung der zulässigen Haftdauer der
Möglichkeit einer bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug (Art. 86 Abs. 1
StGB) nur in Ausnahmefällen Rechnung zu tragen, wenn bereits vor dem
Strafvollzug absehbar ist, dass eine bedingte Entlassung mit grosser
Wahrscheinlichkeit erfolgen dürfte (vgl. Urteil des Bundesgerichtes 1P.493/2006
vom 5. September 2006, E. 6.1, und die dort zitierte einschlägige Praxis). Der
grossen zeitlichen Nähe der konkret zu erwartenden Freiheitsstrafe ist aber
auch besondere Beachtung zu schenken, weil der Strafrichter dazu neigen könnte,
die Dauer der nach Art. 51 StGB anrechenbaren Untersuchungshaft bei der
Strafzumessung mitzuberücksichtigen (BGE 133 I 168 E. 4.1 S. 170, 270 E. 3.4.2
S. 282, je mit Hinweisen).

Im Weiteren kann eine Haft die zulässige Dauer auch dann überschreiten, wenn
das Strafverfahren nicht genügend vorangetrieben wird, wobei sowohl das
Verhalten der Justizbehörden als auch dasjenige des Inhaftierten in Betracht
gezogen werden müssen. Gemäss der übereinstimmenden Rechtsprechung des
Bundesgerichtes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist die
Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, aufgrund der
konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen (BGE 133 I 168 E. 4.1
S. 170 f., 270 E. 3.4.2 S. 281; 132 I 21 E. 4.1 S. 27 f., je mit Hinweisen).

4.
Wie sich aus den Akten ergibt, erfolgte am 15. Mai 2008 die erstinstanzliche
Verurteilung des Beschwerdeführers zu 15 Monaten Freiheitsstrafe unbedingt.
Zusätzlich wurden weitere drei Monate Freiheitsentzug (gestützt auf den
Widerruf eines in einem früheren Urteil gewährten bedingten Strafvollzuges) für
vollziehbar erklärt. Die kantonalen Behörden stellen sich nicht auf den
Standpunkt, dem Beschwerdeführer drohe (im Rechtsmittelverfahren) eine längere
freiheitsentziehende Sanktion. Insbesondere macht die Staatsanwaltschaft nicht
geltend, sie werde gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung einlegen. Wie
sich aus den Strafakten ergibt, entsprechen sowohl das erstinstanzlich
ausgefällte Strafmass als auch der Widerrufsentscheid den Anträgen der
Staatsanwaltschaft gemäss Anklageschrift vom 10. März 2008. Der
Beschwerdeführer wird nach eigener Darlegung Berufung erheben, was ein
mögliches tieferes Strafmass (bzw. sogar einen allfälligen Freispruch) nicht
ausschliesst.

Laut dem angefochtenen Entscheid hatte der Beschwerdeführer für die am 15. Mai
2008 beurteilten Straftaten im Urteilszeitpunkt bereits ca. zehn Monate (298
Tage) strafprozessuale Haft absolviert. Auf den Widerruf (für 90 Tage Gefängnis
bedingt) waren zusätzlich sechs Tage Untersuchungshaft anzurechnen. Seit dem
Strafurteil sind weitere knapp vier Monate vergangen. Inzwischen hat der
Beschwerdeführer insgesamt ca. 14 Monate anrechenbare strafprozessuale Haft
erdauert. Damit ist die bisher vollzogene Untersuchungs- und Sicherheitshaft in
erhebliche zeitliche Nähe des Freiheitsentzuges gerückt, der dem
Beschwerdeführer im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung droht.

Es kann offen bleiben, ob eine verfassungswidrige Überhaft zusätzlich auch noch
unter dem (vollzugsrechtlichen) Gesichtspunkt vorläge, dass der
Beschwerdeführer (vor Ablauf von voraussichtlich 18 Monaten bzw. schon nach 12
Monaten) grundsätzlich mit einer bedingten Entlassung aus dem rechtskräftig
angeordneten Strafvollzug rechnen könnte (Art. 86 Abs. 1 StGB; vgl. BGE 133 IV
201 E. 2.2 S. 203). Der Beschwerdeführer reichte schon bei der Vorinstanz (wie
diese bestätigt) einen für ihn günstigen Führungsbericht des
Bezirksgefängnisses Kulm vom 1. Juli 2008 ein. Im angefochtenen Entscheid wurde
erwogen, "eine verfassungsrechtlich gebotene Prüfung, ob ausnahmsweise die
Möglichkeit der bedingten Entlassung zu berücksichtigen ist", könne
"einstweilen unterbleiben" (S. 9, E. 3.3.2). In einer Eventualerwägung ging die
Vorinstanz dennoch beiläufig auf diese Frage ein. Das Obergericht erwog, es
erscheine "keinesfalls sicher", dass der Beschwerdeführer in den Genuss einer
bedingten Entlassung (im Sinne von Art. 86 Abs. 1 StGB) komme (angefochtener
Entscheid, S. 10).

Die weitere Fortdauer der Sicherheitshaft hält bei Würdigung sämtlicher
Umstände des vorliegenden Falles vor Art. 31 Abs. 3 BV nicht stand. Der
Beschwerdeführer ist daher (zur Vermeidung von verfassungswidriger Überhaft)
antragsgemäss aus der Haft zu entlassen.

5.
Nach dem Gesagten kann offen bleiben, ob hier ein gesetzlicher Haftgrund nach
wie vor erfüllt wäre.

6.
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der angefochtene Entscheid in der Hauptsache
aufzuheben, und der Beschwerdeführer ist aus der Sicherheitshaft zu entlassen.

Dass die Fortsetzung der Sicherheitshaft im hängigen Haftprüfungsverfahren die
verfassungsrechtlichen Garantien von Art. 31 Abs. 3 BV tangieren würde, war
bereits im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheides absehbar. Dem anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführer ist für das Verfahren vor Bundesgericht eine
angemessene Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1-2 BGG).
Gerichtskosten sind nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG).

Wird der angefochtene Entscheid geändert, kann das Bundesgericht die Kosten des
vorangegangen Verfahrens anders verteilen (Art. 67 OG). In der vorliegenden
Konstellation rechtfertigt es sich, den Beschwerdeführer von den
obergerichtlichen Verfahrenskosten zu entbinden (was zur Aufhebung von Ziff. 2
des Dispositives des angefochtenen Entscheides führt). Die vorinstanzliche
Parteientschädigung an den amtlichen Verteidiger ist nicht streitig (weshalb
Ziff. 3 des Dispositives zu bestätigen ist, vgl. Art. 68 Abs. 5 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, und die Ziffern 1-2 des Dispositives des
angefochtenen Entscheides vom 14. Juli 2008 der Beschwerdekammer in Strafsachen
des Obergerichts des Kantons Aargau werden aufgehoben. Ziffer 3 des
Dispositives wird bestätigt.

2.
Der Beschwerdeführer wird unverzüglich aus der Sicherheitshaft entlassen.

3.
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor Bundesgericht
eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu entrichten.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 8. September 2008

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Forster